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Wie wirkte sich Antisemitismus in der Weimarer Republik konkret auf das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden aus? Die mit dem Imelmann-Preis ausgezeichnete Studie verbindet die Geschichte von Integration und Ausgrenzung am Beispiel der Stadt Köln. Sie untersucht die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Alltag, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Das Verhältnis erscheint als dynamischer Prozeß, der sich im Wechselspiel konkret identifizierbarer Individuen und Institutionen vollzog. Die Betrachtung der sozialen Praxis in der Stadtgesellschaft vermag die These vom…mehr

Produktbeschreibung
Wie wirkte sich Antisemitismus in der Weimarer Republik konkret auf das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden aus? Die mit dem Imelmann-Preis ausgezeichnete Studie verbindet die Geschichte von Integration und Ausgrenzung am Beispiel der Stadt Köln. Sie untersucht die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Alltag, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Das Verhältnis erscheint als dynamischer Prozeß, der sich im Wechselspiel konkret identifizierbarer Individuen und Institutionen vollzog. Die Betrachtung der sozialen Praxis in der Stadtgesellschaft vermag die These vom "eliminatorischen Antisemitismus" zu revidieren. Zugleich erklärt Wenge, warum in Köln seit 1925 eine Dynamik der Desintegration einsetzte. Damit werden einseitige Interpretationsmuster überwunden, welche die Weimarer Republik entweder als Höhepunkt eines erfolgreichen Integrationsprojekts oder als Vorstufe des Holocausts werten, in der der Antisemitismus bereits vor 1933 alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang.

Wenge, Nicola: Integration und Ausgrenzung in der städtischen Gesellschaft. Eine jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte Kölns
1918-1933 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 206). Mainz: Philipp von Zabern Verlag 2005. ISBN 3-8053-3459-1; X, 479 S.; EUR 51,00.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Christoph Nonn, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
E-Mail:

Das Problem ist bekannt: Die Geschichte jüdisch-nichtjüdischer Beziehungen in Deutschland ist seit 1945 meist als Einbahnstraße in den nationalsozialistischen Radikalantisemitismus geschrieben worden – ohne dass sie allerdings für die dem Nationalsozialismus unmittelbar vorangehende Zeit der Weimarer Republik bisher umfassend untersucht worden wäre. Die Forschung zum modernen deutschen Antisemitismus hat sich vor allem dessen Ursprüngen im Kaiserreich angenommen.[1] Wenn sie sich überhaupt näher mit der Epoche zwischen 1918 und 1933 beschäftigt hat, dann bis vor einigen Jahren fast ausschließlich nur mit Großorganisationen und Parteien.[2] Zwei neuere Arbeiten fokussieren zwar die Weimarer Republik schärfer, tun das allerdings weiterhin aus der Perspektive „von oben“[3] und unter dem speziellen Aspekt antisemitischer Gewalt[4], der zwangsläufig eine teleologische Interpretation bestärkt.

Nicola Wenge füllt also mit ihrer in Köln als Dissertation angenommenen Arbeit, die auf Quellen unter anderem aus New Yorker, Moskauer und Jerusalemer Archiven beruht, eine seit langem als schmerzlich empfundene Lücke. Zum ersten Mal wird hier versucht, die Vielfalt jüdisch-nichtjüdischer Beziehungen in ihrer Gesamtheit während der Weimarer Zeit durch eine exemplarische lokale Studie monographisch zu erfassen. Dieser Versuch ist in vollem Umfang gelungen. Mit größtmöglicher methodischer und sprachlicher Präzision greift Wenge nahezu sämtliche Fragen auf, die in der bisherigen Forschung zum modernen Antisemitismus und zur jüdisch-nichtjüdischen Beziehungsgeschichte in Deutschland diskutiert werden, widerlegt eine ganze Reihe von Mythen und präsentiert ein ausgesprochen überzeugendes, eigenständiges Analysemodell.

Köln bietet sich für eine solche Studie als exemplarisches Untersuchungsobjekt unter anderem deshalb besonders an, weil hier beide Pole der Natur jüdisch-nichtjüdischer Beziehungen gleichermaßen nachweisbar sind. Das Klima in der Stadt galt – und gilt – als tolerant gegenüber Minderheiten, was immer wieder mit den tatsächlich relativ schlechten Wahlergebnissen der NSDAP dort vor 1933 belegt worden ist.
Andererseits wurden aber, was weniger bekannt ist, Kölner Juden ab 1933 in „vorauseilendem Gehorsam“ wesentlich früher und rigoroser aus dem öffentlichen Leben verdrängt als in anderen Städten, wo sich dagegen auch mehr Widerstand artikulierte als in Köln.

Um diesen auf den ersten Blick paradoxen Doppelbefund aufzuklären, nähert sich die Autorin ihrem Gegenstand mit dem analytischen Werkzeug einer „handlungs- und akteursorientierten Sozialgeschichte“ (S. 26), die Anregungen aus der Historischen Anthropologie und den Kulturwissenschaften aufgreift. Nach einem knappen Rückblick auf den „langen Weg der Integration“ bis 1918 zerlegt sie ihr Material in fünf etwa gleich umfangreiche Kapitel: „Alltag“ (einschließlich Nachbarschaft, Bekanntschaften und Freundschaften, Partnerwahl und „Mischehendiskussion“, Vereine); die städtische Kunst- und Kulturlandschaft; die kleine Welt der 1919 neugegründeten Kölner Universität; jüdisch-nichtjüdische Wirtschaftsbeziehungen; und erst zuletzt die sonst häufig allein oder vorrangig betrachtete Politik.
Diese fünf Bereiche werden jedoch nicht als weitgehend voneinander getrennte, autonome gesellschaftliche „Subsysteme“ verstanden, sondern als miteinander verbundene „Handlungsfelder“. Daher möchte ich im Folgenden nicht die jeweiligen Teilresultate referieren, sondern stattdessen auf daraus gewonnene grundlegende Thesen eingehen. Das liegt auch deswegen nahe, weil viele Einzelheiten zwar im lokalen Kontext wichtig, aber für die hier einleitend skizzierte allgemeine Diskussion nicht weiter von Bedeutung erscheinen.

Das Beispiel Kölns während der Weimarer Republik widerspricht der populären und in historischen Überblicksdarstellungen weitverbreiteten Sicht, dass deutsche Juden einer homogen feindlichen „Außenwelt“ gegenüberstanden. Dieses Goldhagen-Modell griff in der rheinischen Großstadt weder 1918 noch 1933. Ebenso wenig gerecht wird nach Wenges Ansicht den Kölner Zuständen allerdings auch das von vielen Fachleuten akzeptierte Modell Shulamit Volkovs vom Antisemitismus als „kulturellen Code“, der das Lager der Republikfeinde markierte und von dem der Demokraten trennte. Denn Antisemitismus gilt nach diesem Modell als eine Mentalität, die das Denken und Handeln von Personen wie auch von ganzen Milieus konsistent prägte. Ein sehr beträchtlicher Teil der antisemitischen Handlungen in Köln zwischen 1918 und 1933 wird von Wenge aber als situationsbezogen charakterisiert. Personen und Personengruppen, die sich in bestimmten Situationen und Kontexten judenfeindlich verhielten, taten das in anderen Kontexten nicht.

Wenge plädiert deshalb dafür, den bisher nur in Abgrenzung von (partei)politischem Antisemitismus verwendeten Begriff des „gesellschaftlichen Antisemitismus“ für solche situationsbezogenen Äußerungen von Judenfeindschaft zu verwenden, und ihn von „radikalem Antisemitismus“ zu unterscheiden. Die radikale Variante würde sich demnach von der gesellschaftlichen auch durch Organisation, rassistische Motivation und Verdrängungs- oder Vernichtungsphantasien abheben.
Darüber wäre zu diskutieren. Wichtig ist freilich in jedem Fall der Hinweis auf den Unterschied zwischen situationsbezogenem und konsistent an Personen gebundenem Antisemitismus.

Neben der Situationsbezogenheit betont Wenge auch die Milieubezogenheit des Antisemitismus, wendet sich aber mit guten Argumenten gegen Olaf Blaschkes These einer homogenen Judenfeindschaft im gesamten katholischen Milieu. Im katholischen Köln konnten Juden in Arbeitervierteln bis mindestens 1933 auf die Solidarität der katholischen Bevölkerung gegen antisemitische Gruppen zählen. Auch Bündnisse der katholischen und jüdischen Eliten gegen die protestantische Verwaltung waren in den verschiedensten Bereichen gang und gäbe. Jedoch lassen sich solche engen Beziehungen nicht auf den Einfluss der „Milieumanager“ aus Eliten und Funktionären zurückführen.
Denn mittelständische Gruppen im Kölner Katholizismus waren für Antisemitismus durchaus offen. Das katholische Milieu erscheint hier eher als Spiegel der Gesamtgesellschaft, so wie es schon in den älteren Arbeiten etwa David Blackbourns gezeichnet wurde. Wesentlich homogener erscheint dagegen das sozialistische Arbeitermilieu, in dem ein prinzipieller Anti-Antisemitismus und situationsbezogene judenfeindliche Handlungen sich nicht ausschlossen.

Die Bedeutung ökonomischer Einflussfaktoren für die Ausbreitung und Praktizierung von Antisemitismus im Köln der Weimarer Republik bestreitet Wenge nicht grundsätzlich, zeigt aber an drei Beispielen eindrucksvoll ihre Grenzen auf. So wurde die Natur jüdisch-nichtjüdische Beziehungen in der Domstadt erstens nicht nur von der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Klassen und (Sub)Milieu geprägt, sondern noch mehr von Faktoren wie Generation und Geschlecht. Religionsübergreifende Kontakte gab es zwischen Kindern mehr als zwischen Erwachsenen, zwischen Frauen (und Frauenvereinen) mehr als zwischen Männern (und deren Vereinen).

Zweitens zeigt das Kölner Beispiel, dass die in der Inflationszeit zwischen 1919 und 1923 weite Teile des Deutschen Reichs durchlaufende Welle des Antisemitismus nicht so sehr sozioökonomische als vielmehr politische Hintergründe hatte. Denn in Köln blieb diese Welle weitgehend aus. Das lag zunächst daran, dass antisemitische Bestrebungen von der britischen Besatzungsmacht entschieden unterdrückt wurden. Die Relevanz dieses Faktors belegt im Vergleich auch die relative Stärke antisemitischer Gruppen im Südwesten, wo diese von den Franzosen wie im unbesetzten Teil des Reichs, weitgehend toleriert wurde. Zudem verhinderten auch die kommunalpolitischen Strukturen in Köln während der frühen zwanziger Jahre die Ausdehnung von Judenfeindschaft, gab es doch einen dagegen gerichteten Konsens der Eliten von Zentrum und Sozialdemokratie, der zu diesem Zeitpunkt in der Stadt noch intakt war.

Dieser Konsens zerbrach schließlich drittens nicht erst unter dem Eindruck von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit ab 1929.
Juden sahen sich in Köln bereits seit Mitte der zwanziger Jahre zunehmender Diskriminierung ausgesetzt. Der Hintergrund dafür war nicht allein die erneute Aktivität von radikalen Antisemitenparteien wie der NSDAP. Eine entscheidende Rolle spielte vielmehr eine Verschiebung von Sagbarkeitsregeln. Vor allem die katholischen Eliten begegneten den Vorstößen der Nationalsozialisten, aber auch eher situationsbezogenen antisemitischen Ausfällen etwa von katholischem Mittelstand, aus dem Funktionärskörper der Zentrumspartei oder von studentischer Seite nicht immer mit deutlichen Sanktionen und dem Aufzeigen klarer Grenzen. Solche situativen Konzessionen verschoben die Grenze des Sag- und Machbaren dann weiter.

Diese Entwicklung war keineswegs zwangsläufig. Zwei auf sehr verschiedene Weise vom skizzierten Trend abweichende Beispiele aus dem von Wenge differenziert präsentierten Material mögen das zum Schluss knapp veranschaulichen. Im kulturellen Leben der Domstadt blieb die Integration der jüdischen Kölner während der gesamten Zeit der Weimarer Republik unangefochten. Unter Kulturproduzenten, -politikern oder Mäzenen machten Glaube oder Herkunft noch bis 1933 keinerlei Unterschied. Die aus Osteuropa nach Köln zugewanderten Juden waren in krassem Gegensatz dazu nicht erst seit Mitte der zwanziger Jahre, sondern schon zu Beginn der Weimarer Republik aus der städtischen Gesellschaft ausgegrenzt. Selbst die länger ansässigen Juden beteiligten sich an ihrer Diskriminierung. Das hatte jeweils strukturelle Hintergründe, war aber auch Folge der jeweiligen Bereitschaft von Nichtjuden (und Juden) zur Kooperation und Integration, die je nach Situation ganz verschieden sein konnte.

Gerade auf diese Situationsbezogenheit von Integration wie antisemitischer Ausgrenzung verwiesen zu haben, ist ein zentrales Verdienst der fundierten Studie von Nicola Wenge. Künftige Arbeiten zum Antisemitismus und zu jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Deutschland werden an ihr nicht vorbeigehen können.

Anmerkungen:
[1] So auch zuletzt die wichtige lokale Arbeit von van Rahden, Till, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000.
[2] Vgl. Niewyk, Donald, Jews in Weimar Germany, Baton Rouge 1981; Winkler, Heinrich August, Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus, in: Schulin, Bernd Martin /Ernst, Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981, S. 271-289.
[3] Hecht, Cornelia, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003.
[4] Walter, Dirk, Antisemitische Kriminalität und Gewalt.
Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Uffa Jensen

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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nicht zufrieden ist Wolfram Pyta mit Nicola Wenges Untersuchung des jüdischen Lebens in Köln vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Machtantritt Hitlers. Zwar überzeugt ihn der methodische Ansatz einer Kombination von kulturhistorischer Analyse und der Einbettung in soziale Gruppenzusammenhänge. Aber wirklich "ausgereifte Ergebnisse" kann die Autorin zu seinem Bedauern kaum liefern. Auch wenn ihm die Quellenlage für eine lebendige Rekonstruktion des alltäglichen Miteinanders jüdischer und nichtjüdischer Kölner nicht optimal scheint, wäre seines Erachtens möglich gewesen, das bürgerliche Vereinsleben und das katholische Milieu besser zu erkunden. Vor allem über die Milieueliten, die dem gewalttätigen Antisemitismus entgegenwirkten, hätte er sich mehr gewünscht. Hier hält er der Autorin Versäumnisse bei der Auswertung von Privatnachlässen im Bundesarchiv Koblenz vor. Insbesondere die Kindheitserinnerungen des jüdischen Justizrat Bernhard Falk, eines bedeutenden Exponenten des politischen Liberalismus in Köln, seien ihr entgangen. Auch die Auswertung des reichen Materials über den damaligen Oberbürgermeister Adenauer, den wichtigsten Exponenten der integrationsfreundlichen städtischen Elite, moniert Pyta als oberflächlich und ungenügend. Schließlich kritisiert er Wenges Tendenz, die Aussagekraft der oft nur spärlichen Zeugnisse zu überschätzen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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