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Kein europäisches Land hat ein so immenses kulturelles Erbe wie Italien, kein Land solche Schwierigkeiten im Umgang mit diesem Erbe. Salvatore Settis, emeritiert und frei von allen akademischen Zwängen, ist in den letzten Jahren zum Gewissen dieses Landes geworden. Immer wieder stellt er bohrende Fragen: Wie gehen die Italiener mit ihren Schätzen um, und was machen wir Europäer mit unseren kulturellen Gütern?Venedig mit seiner einzigartigen Architektur, Geschichte und geographischen Lage, aber auch Venedig als Ausbund der Kommerzialisierung dieser Einzigartigkeit nimmt Settis als Ausgangspunkt…mehr

Produktbeschreibung
Kein europäisches Land hat ein so immenses kulturelles Erbe wie Italien, kein Land solche Schwierigkeiten im Umgang mit diesem Erbe. Salvatore Settis, emeritiert und frei von allen akademischen Zwängen, ist in den letzten Jahren zum Gewissen dieses Landes geworden. Immer wieder stellt er bohrende Fragen: Wie gehen die Italiener mit ihren Schätzen um, und was machen wir Europäer mit unseren kulturellen Gütern?Venedig mit seiner einzigartigen Architektur, Geschichte und geographischen Lage, aber auch Venedig als Ausbund der Kommerzialisierung dieser Einzigartigkeit nimmt Settis als Ausgangspunkt für universelle Überlegungen: Gibt es so etwas wie die Seele einer Stadt? Und was könnte sie sein? Die Eigentümlichkeit, die Geschichte, die Einwohner? Warum gehören Wolkenkratzer zu New York, aber nicht nach Venedig? Muss man »Städteschönheit« als »Weltkulturerbe« konservieren, oder brauchen Städte »kreative Zerstörung«? Wie steht es mit dem »Recht auf Stadt«? Wie mit den Rechten der zukünftigen Generationen?Ein fulminantes Plädoyer für die lebendige Stadt der Zukunft - geschrieben mit umfassenden Kenntnissen, mit ganzem Herzen und voller Elan!
Autorenporträt
Salvatore Settis wurde 1941 in Rosarno/Kalabrien geboren. Von 1994 bis 1999 leitete er das Getty Research Institute for the History of Art in Los Angeles. Danach lehrte er an der Scuola Normale Superiore in Pisa klassische Archäologie. Von 1999 bis 2010 war er Direktor der Universität.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

So begeistert wie besorgt liest Rezensent Andreas Rossmann diese Streitschrift des italienischen Kunsthistorikers Salvatore Settis, der Venedig seinen Fakes immer ähnlicher werden sieht. Zwar weiß der Rezensent, dass Venedig schon Schlimmes überstanden hat - die Belagerung der Türken, die Eroberung Napoleons, eine ruinöse Stadtplanung - , doch Settis kann ihm begreiflich machen, dass heute der "Angriff der Gegenwart" auf die Stadt total ist, und zwar nicht nur auf Venedig, sondern auf die Stadt als Form des menschlichen Miteinanders. Wie Settis das macht? Nicht nur, indem er die Auswirkungen von Massentourismus, Ausverkauf und Spekulation in aller Drastik beschreibt. Sondern auch, wie der beeindruckte Rezensent versichert, indem er Gelehrsamkeit und Engagement, Intellekt und Moral zu "luzider Essayistik" verbindet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2016

Überleben in einer touristischen Marke

Venedig ist einzigartig - und überall: Salvatore Settis will mit seiner Streitschrift den Ausverkauf der Städte bremsen. Sein Untersuchungsobjekt macht ihm diese Aufgabe besonders schwer.

Den kulturkritischen Anspruch dieses, so der Autor mit koketter Bescheidenheit, "Büchleins" meldet der deutsche Untertitel an: "Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte". Das Original kommt ohne ihn aus. Einmalig und unvergleichlich, gilt Venedig als höchstes Sinnbild für den menschengerechten Zuschnitt der historischen Stadt und in Italien auch als "erstes" Paradigma für ihre Erniedrigung. "Città nobilissima et singolare" übertitelt Francesco Sansovino 1581 seine Chronik, ein Attribut, das unzählige, auch von Salvatore Settis fortgeschriebene Überbietungen erfahren hat: "die unwahrscheinlichste der Städte" (Thomas Mann), "Stadt unter den Städten" (Henri Lefebvre), "kosmopolitischste Stadt Europas" (Richard Sennett), "kostbarste und fragilste Stadt der Welt" (Settis).

Superlative wie auch Zuschreibungen, die die "phänomenale Einzigartigkeit" ins Bild setzen: "Eingeschlossen in die Lagune wie eine Perle in ihre Auster." Ohnegleichen und zugleich die Stadt, die in anderen enthalten ist, wie Italo Calvino es in "Die unsichtbaren Städte" (1972), einem fiktiven Dialog zwischen Kublai Khan und dem Venezianer Marco Polo, reflektiert und durchspielt. "Vielleicht fürchte ich, das ganze Venedig auf einmal zu verlieren, wenn ich davon spreche", sagt Polo. Settis kehrt diese Dialektik um und faltet sie aus. Seine Studie lässt sich auch lesen als ein Versuch, Calvinos wunderreichen Roman vom poetisch-phantastischen Kopf auf die kulturhistorischen Füße zu stellen: "Als Gegenpol zur Megalopole schlägt Calvino Venedig vor, es ist das Antidoton zur formlosen Stadt."

Aber "Venedig" ist auch der meistzitierte Stadtname der Welt. In den Vereinigten Staaten gibt es ihn achtundzwanzig-, in Brasilien zweiundzwanzigmal, mindestens fünf Städte erheben auf den Titel "Venedig des Nordens" Anspruch, unzählige, allein acht in Japan, auf den Titel "Venedig des Ostens". Der Name ziert Stadtviertel, Hotel- und Wohnanlagen, Themen- und Freizeitparks zwischen Las Vegas und Macao, Istanbul und Dongguan. Oft genügen ein Kanal, Boote und ein paar Gebäude, um das Bild von Venedig heraufzubeschwören: "Disneyland multipliziert sich."

Das Original gibt es nur einmal: "Der tiefere Grund für seinen Zauber, der Reichtum und die Mannigfaltigkeit seines städtischen Gewebes, wird im selben Moment abgetötet, in dem es als Modell ausgerufen wird", schreibt Settis. Doch was, "wenn die überall auf der Welt verteilten Venedig-Fakes am Ende das Bild, das das wahre Venedig von sich selbst hat", korrumpieren und zum heimlichen Modell werden würden?

Die Entwicklung, die Settis darstellt und analysiert, nimmt diese Richtung: Venedig verliert Einwohner, am 30. Juni 2015 waren es im historischen Zentrum noch 56 072, Tendenz fallend. Seit 1951, als mit 174 808 der Höchststand verzeichnet wurde, schrumpfte die Bevölkerung um mehr als zwei Drittel. Nur die Pestepidemien von 1348 und 1630 haben die Stadt ähnlich dezimiert wie heute Geburtenrückgang, Überalterung und Wegzug.

Während die Zahl der Einheimischen sinkt, steigt die der Zweit- und Drittwohnungsbesitzer. Immer mehr Immobilien werden für den Fremdenverkehr umgenutzt. Die innere Auszehrung geht einher mit wachsendem Außendruck: Die Kreuzfahrtriesen, doppelt so lang wie der Markusplatz und höher als die Palazzi am Canal Grande, belasten Luft und Lagune und überschwemmen die Stadt mit Ex-und-hopp-Touristen. "Morgi e fuggi" (beiß rein und hau wieder ab) nennt sie der Volksmund. Im Jahr sind es dreißig Millionen, auf jeden Bewohner kommen sechshundert Besucher. Venedig, so Settis, läuft Gefahr, bald ohne Bürger dazustehen. Ein Schauplatz der Geschichte und der Erinnerung ist dabei, sich in eine touristische Marke zu verwandeln: "Bühnenbild statt Lebensweise".

Salvatore Settis, der, geboren 1941 in Kalabrien, von 1999 bis 2010 die Scuola Normale Superiore in Pisa und davor fünf Jahre das Getty Research Institute in Los Angeles leitete, ist ein Archäologe und Kunsthistoriker, der seine universelle Gelehrsamkeit in staatsbürgerliches Engagement verwandelt. Wie er zwischen scharfem Intellekt und moralischer Empörung, luzider Essayistik und flammendem Appell die Balance hält, macht seine Streitschrift zur fesselnden Lektüre. In der Geschichte der Stadt wie den Diskursen zu deren Zukunft ist er bewandert, die Abhängigkeiten und Imponderabilien der nationalen und lokalen Politik durchschaut er: Settis sondiert den Ausverkauf, den Venedig erleidet, im Spannungsfeld zwischen Kulturerbe und Kapital, Ökologie und Technologie - bis hin zu Projekten wie dem "Palais Lumière" von Pierre Cardin, die er als megalomane Modernisierungsattacken brandmarkt.

Dabei ist Settis eines nicht: ein rückwärtsgewandter Denkmalschützer, der die historische Stadt mumifizieren möchte. Das "Paradox der Konservierung" besteht für ihn darin, "dass nichts erhalten bleiben noch überliefert werden kann, wenn es unbeweglich verharrt". Tradition als ein ständiges Sich-Erneuern. Nicht der Massentourismus, so sein Vorwurf, sondern Vergesslichkeit bedroht Venedig. Zukunft habe die Stadt nur, wenn sie von den Bürgern zurückerobert, für junge Leute und kreative Berufe wieder erschwinglich, die Tendenz zur touristischen Monokultur umgekehrt wird. Aus einem Vortrag, den Settis 2012 im Deutschen Studienzentrum in Venedig hielt, herausgewachsen, birgt das Buch weitere Reden und Aufsätze und eröffnet so erhellende Seitenblicke - auf die Hochhausentwicklung in Mailand, Turin, Rom und Neapel nach dem Krieg oder den kriminell verzögerten Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten Stadt L'Aquila. Die Streitschrift ist nicht frei von Redundanzen.

Dem Argument tut das keinen Abbruch, das läuft so kompakt und konzise, dass allenfalls die Gegenüberstellung von ästhetischer und ethischer Architektur zum Widerspruch herausfordert: Wäre es nicht der Anspruch, beides nach den Prinzipien Nützlichkeit, Stabilität und Anmut jenes Vitruv in Übereinstimmung zu bringen, auf den Settis die Architekten mit einem Eid - wie dem der Ärzte auf Hippokrates - am liebsten verpflichtet sähe? Auch der Wunsch, mehr zu erfahren, wird geweckt: etwa dazu, welche Bedeutung Settis der 1895 gegründeten Biennale oder dem Niedergang von Schiffbau, Textilproduktion und Finanzplatz beimisst.

Venedig hat schon vieles überlebt: die Belagerung durch die Türken, die Eroberung durch Napoleon, die Herrschaft der Habsburger, auch fehlgeleitete Stadtplanungen und selbstherrliche Bürgermeister. Massentourismus ist hier kein neues Phänomen: Stefan Zweig beobachtete 1921, dass die "in ihrer Herdenhaftigkeit immer abstoßende Masse" verschwunden und der "Thomas-Mann-Deutsche, der stille, von dem Dichter mit so viel Liebe gezeichnete Kulturdeutsche", ihr nachgefolgt sei. Heute aber, und das macht diese Streitschrift so beunruhigend wie bemerkenswert, haben Tod, Untergang und Schönheit eine andere Qualität.

Diesmal ist der Angriff der Gegenwart auf die Stadt total, und es geht nicht mehr "nur" um Venedig. "Denn", so schließt das Buch, "wenn Venedig stirbt, stirbt nicht nur Venedig: Es stirbt die eigentliche Idee von Stadt, die Form der Stadt als vielfältiger Raum des sozialen Lebens, als Ermöglichung von Zivilisation, als bindendes Versprechen von Demokratie."

ANDREAS ROSSMANN

Salvatore Settis: "Wenn Venedig stirbt". Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte.

Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 160 S., br., 14,90 [Euro].

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