Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 5,50 €
  • Buch mit Leinen-Einband

An dem Tag, als sich Victoria Mir vor aller Augen auf die Schienen wirft (sie überlebt, denn schon lange fährt dort keine Straßenbahn mehr), wird Ringo erwachsen: Nicht genug damit, dass er sich in Violeta, die Tochter der Mir, verguckt hat - wenig später muss er auch seine Träume von einer Musikerkarriere begraben, als er im Goldschmiedatelier, wo er in die Lehre geht, einen Finger verliert. Fast gleichzeitig taucht Ringos Vater unter, der als Kammerjäger die Ratten aus den Kinosälen Barcelonas vertreibt und nebenbei die Post spanischer Kriegsgefangener über die Pyrenäen schmuggelt. Ringo…mehr

Produktbeschreibung
An dem Tag, als sich Victoria Mir vor aller Augen auf die Schienen wirft (sie
überlebt, denn schon lange fährt dort keine Straßenbahn mehr), wird Ringo
erwachsen: Nicht genug damit, dass er sich in Violeta, die Tochter der Mir, verguckt
hat - wenig später muss er auch seine Träume von einer Musikerkarriere
begraben, als er im Goldschmiedatelier, wo er in die Lehre geht, einen Finger
verliert. Fast gleichzeitig taucht Ringos Vater unter, der als Kammerjäger die Ratten
aus den Kinosälen Barcelonas vertreibt und nebenbei die Post spanischer
Kriegsgefangener über die Pyrenäen schmuggelt.
Ringo aber stellt sich als heimlicher Postbote sehr viel ungeschickter an: Der
Brief des (vermeintlichen) Liebhabers der Mir entgleitet ihm und verschwindet
in der Kanalisation. Der fingierte Brief, den er ersinnt, um über den Verlust des
echten hinwegzutäuschen, verändert nicht nur das Leben der Victoria Mir und
ihrer Tochter, sondern auch sein eigenes: Ringo schreibt fortan über Traumwelten,
die das wirkliche Leben bereichern.
Genau so, wie Juan Marsé es in diesem traumwandlerisch stilsicheren Roman
vorführt.
Autorenporträt
Juan Marsé, geb. 1933 in Barcelona, veröffentlicht nach einer Juwelierausbildung und Arbeiten als Werbetexter und Laufbursche im Pariser Institut Pasteur seit den späten fünfziger Jahren Romane und Erzählungen, für die er zahlreiche Preise erhalten hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2012

Der Klon des Künstlers als junger Mann

Wenn Träume platzen, sollte man sich neue suchen: Juan Marsé erzählt von Möglichkeiten des Erwachsenwerdens im verwahrlosten franquistischen Spanien.

Von Wohlklang oder Bedeutung von Ortsnamen lässt sich (leider) selten auf die Wesensart der Anwohner schließen. Juan Marsés neuer Roman "Kalligraphie der Träume" beginnt daher mit einem programmatischen Trugschluss: "Torrente de las Flores - Wildbach der Blumen. Er hatte immer geglaubt, dass eine Straße solchen Namens niemals Schauplatz einer Tragödie sein könnte." Sprachlich holpert das Plusquamperfekt hier zwar dem Konjunktiv seltsam in die Quere; als erzählerischer Kontrapunkt erzeugen diese ersten Sätze jedoch Spannung.

Sie bieten damit schon den Vorgeschmack auf einen Roman, in dem intellektuelle Einbahnstraßen gerne von seltenen Stilblüten gesäumt werden, niemals aber in Sackgassen landen. Die narrative Dynamik ist bei den Streifzügen durch ein tragikomisches, vaudevilleartiges und bettelarmes Stadtrand-Barcelona der Nachkriegszeit rasant genug, um den Leser nicht aussteigen zu lassen. Vor allem durch die geschickte Verzahnung einer Coming-of-Age-Geschichte mit der amateurdetektivischen Aufdeckung eines Liebesdramas sowie durch die spezifische Mischung aus einfühlend unzuverlässigem und (onkelhaft-)besserwissendem Erzählen wird die Handlung von einem stabilen Gerüst getragen. Fraglich ist dennoch, ob "Kalligraphie der Träume" ohne einen Cervantes-Preisträger als Autoren überhaupt für eine Übersetzung in Betracht gekommen wäre.

Denn stilistisch und sprachlich ist vieles enttäuschend. Selten finden sich so gelungene Textpassagen wie die Beschreibung der Straße des Geschehens: Die Torrente de las Flores "hat sechsundvierzig Straßenecken, eine Breite von siebeneinhalb Metern, niedrige Gebäude und drei Kneipen", sie heizt sich im Sommer so auf, dass "der Regen verdampft, noch bevor er sie berührt", sie ist "erfüllt mit dem angenehmen Rauschen von Schilfrohr im Wind" und in "ein unterseeisch wogendes Licht" getaucht.

An vielen anderen Stellen wuchern dagegen verunglückte Sprachbilder, die teilweise noch durch die Übersetzung verschlimmert werden. Das mag der Eile des fast zeitgleichen spanischen und deutschen Veröffentlichungstermins geschuldet sein, jedoch unnötigerweise. Die falsche präpositionale Ergänzung nach "erfüllt" im obigen Schilfrohr-Zitat kann ohne Zucken überlesen werden, störender ist es, wenn von Abenteuern als "Aventis" geschrieben wird, das musikalische Notensystem wiederholt "Pentagramm" genannt wird oder ein totes Gleis als "Gleis von anno dunnemal" aus dem Erzählton klafft. Dabei sind Marsés Sprachbilder manchmal so umwerfend, dass wohl jede Übertragung nur wie ein Hilfeschrei klingen kann: "Wer weiß, was der Finger des Schicksals für dich bereithält, selbst wenn dein Schicksalsfinger im Limbus der ungeborenen Pianisten gelandet ist."

Auch auf Handlungsebene ist "der Finger" ein wunder Punkt, hier jedoch vorsätzlich. Denn während der Arbeit als Goldschmiedegehilfe kann der fünfzehn Jahre alte Protagonist Ringo seine Träume von einer Zukunft als Pianist nicht lassen und muss sie mit dem Verlust eines Zeigefingers bezahlen. Ergo tritt eine literarische Karriere auf den Plan, die in ihren Daten und manchen Details darauf verweist, dass Ringo ein Klon des Künstlers (Marsé) als junger Mann ist. Und ein Homme des Lettres schult seine Beobachtungsgabe durch pralle sexuelle Anschaulichkeit - darin scheinen sich Ringo und sein Erzähler einig zu sein. Als Objekte dienen die Prostituierten der Calle Robadors, die aussehen "wie Vorkriegsware".

Blasser bleiben die geheimen Missionen von Ringos Adoptivvater Pep, der sich nicht nur als Rattenjäger für die städtische Hygiene engagiert, sondern auch im Untergrund gegen das Francoregime aktiv ist. Während der Charakter der Figur als Spelunken-Stimmungsmacher gut herausgearbeitet ist, fehlt ein genaueres Bild seines politischen Engagements. Generell sprengt das Gemahnen an die Situation des verwahrlosten Franco-Spaniens von 1948 anhand von Peps marginalen Aktivitäten den Rahmen des Romans. Die neorealistische Stimmung, die von ihm ausgeht, erfasst das Geschehen mehr genrebild- und ausschnitthaft als analytisch.

Die hohe Milieu- und geringe Kontextverankerung wäre durch die Nähe des Autors zu seinem tagträumenden Protagonisten durchaus gerechtfertigt. Was letztendlich bei aller Erzähllust fehlt, ist das Selbstverständnis der Figuren. Es stellt sich das störende Gefühl ein, Marsé wolle sie von außen mit ein paar Geschichtsbrocken bewerfen, um sie wichtiger, Tendenz: heldenhaft erscheinen zu lassen. In diesem Sinne wirkt auch der herbeizitierte "Engel der Geschichte" als vorangestelltes Walter-Benjamin-Motto überambitioniert. Die Auseinandersetzung mit einem historischen Bewusstsein steht im Roman deutlich hinter der ziemlich prallen Coming-of-Age-Geschichte zurück. Ein jeder Engel ist schrecklich, wenn er umsonst gerufen wird, und so rächt sich dieser mit einer guten Portion Geschwätzigkeit.

ASTRID KAMINSKI

Juan Marsé: "Kalligraphie der Träume". Roman.

Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 348 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Geschwätzigkeit lautet der Vorwurf, den Astrid Kaminski diesem Roman des Spaniers Juan Marse macht. So rasant ihr die Dynamik des zur Nachkriegszeit an den Rändern Barcelonas spielenden Textes auch vorkommt. Allzu deutlich scheint ihr die "pralle" Coming-of-Age-Story hier den Wunsch des Autors nach historischer Grundierung zu durchkreuzen. Laut Kaminski hängt das mit dem fehlenden Selbstverständnis der Figuren zusammen, mit der zu geringen Kontextualisierung und einer zu starken genrebildlichen Handlung. Dass Kaminski die vielen in der Übersetzung verunglückten Sprachbilder zwar kritisiert, das Buch dennoch bis zu Ende liest, erscheint vor diesem Hintergrund erstaunlich.

© Perlentaucher Medien GmbH