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Produktdetails
  • Edition Ars et Architectura
  • Verlag: Mann (Gebr.), Berlin
  • Neuausg.
  • Seitenzahl: 51
  • Deutsch
  • Abmessung: 11mm x 152mm x 215mm
  • Gewicht: 246g
  • ISBN-13: 9783786117759
  • ISBN-10: 3786117756
  • Artikelnr.: 07555595
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2000

Der Mensch braucht Platz, um sich auszudehnen
Daher gefällt ihm die Architektur: Heinrich Wölfflins Dissertation ist nachgedruckt worden

Kaum ein Kunsthistoriker lehrt einem das Sehen wie Heinrich Wölfflin. Dabei beschäftigt ihn das Einzelwerk wenig. Immer wieder neu die Fragen nach Herkunft, Auftraggeber und Ikonographie zu stellen, überließ er Kollegen. Er wollte im Einzelnen das Allgemeine anschauen, in Formen epochale Merkmale entdecken, die sich örtlichen und regionalen Bedingungen entzogen. Schon seine Dissertation "Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur" sollte der Versuch werden, wie er im Juni 1885 den Eltern ankündigte, "Kunstgeschichte philosophisch zu behandeln". Ein Jahr später schrieb er das Werk mit dreiundvierzig Seiten in einem Monat nieder. Der Zweiundzwanzigjährige wagte nichts weniger als eine Kritik der Kunstgeschichte insgesamt, die vor dem ästhetischen Urteil flüchte und sich damit begnüge, Fakten zu sammeln. Er wehrte sich gegen das "Ideal, ,exakt zu arbeiten'", und forderte "ein instinktives Ahnen". Er wolle den "Unfug" bekämpfen, "der die architektonische Formgeschichte aus dem bloßen Zwang des Materials, des Klimas, der Zwecke glaubt erklären zu müssen".

Wölfflin konnte seinerseits damit rechnen, daß dieser Standpunkt als Unsinn angesehen wurde. Ernst Meumann schrieb 1908 in seiner "Einführung in die Ästhetik der Gegenwart" kurz und bündig: "Es gibt keine ,Psychologie der Architektur'." Heute, da in der Baukunst durch die moderne Technik anscheinend grenzenlose Möglichkeiten vorherrschen, sucht ein namhafter Architekt wie Hans Kollhoff in Wölfflins Dissertation nach Orientierung. In seiner Schrift "Der Mythos der Konstruktion und das Architektonische" führt er die Kernaussagen von Wölfflins Doktorarbeit an und erklärt: "Damit begeben wir uns in eine Welt des Architektonischen, die den Architekten selbst abhanden gekommen zu sein scheint." Helmut Geisert und Fritz Neumeyer haben nun das Erstlingswerk Wölfflins neu herausgegeben, und Jasper Cepl hat ein Nachwort beigesteuert, in welchem er die Studentenjahre des Schweizers skizziert und die Einflüsse seiner Lehrer wie Burckhardt oder Dilthey andeutet.

So wie Protagoras den Menschen zum Maß aller Dinge machte, so nimmt Wölfflin den menschlichen Körper als Grundlage, um Architektur zu verstehen. Der Leib lehre uns, was Schwere, Kontraktion und Kraft, was Druck und Gegendruck sei, und darum wüßten wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen und begriffen den Drang alles Stoffes, am Boden formlos sich auszubreiten. Ähnlich wie es uns Freude macht, wenn wir der niederziehenden Schwere unseres Körpers eine Kraft entgegensetzen können, um aufrecht zu gehen, um unsere Anlagen auszuleben, so löst für Wölfflin die Architektur in uns "große Daseinsgefühle" aus, sofern sie durch die Form den Widerstand des Stoffes überwindet. "Der Gegensatz von Stoff und Formkraft, der die gesamte organische Welt bewegt, ist das Grundthema der Architektur."

Je mehr ein Fortgang von wenig gegliederten Gestalten zum ausgebildeten System differenzierter Teile stattfindet, desto mehr sind wir ergriffen. Analog zum regelmäßigen Atmen ist uns die Regelmäßigkeit der Folge von Bauteilen etwas Wertvolles. Weil wir selbst symmetrisch aufgebaut sind, achten wir die Symmetrie auch in architektonischen Körpern. Weil sich der Mensch überhaupt vom Rohen zum Feinen entwickelt, gefällt uns die Durchformung des widerstrebenden Stoffes von unten nach oben, und wir verlangen eine bestimmte Proportion von Höhe und Breite. Gleich unserem eigenen Organismus wünschen wir schließlich eine baukünstlerische Harmonie, in der sich die gleiche Proportion im Ganzen und in den Teilen wiederholt.

Wölfflin bringt also die klassischen Begriffe der Regelmäßigkeit, Symmetrie, Proportion und Harmonie in Position, indem er sie vom Menschen ableitet. Er setzt noch einmal neu an und räumt der Proportion, den Verhältnissen von Höhe und Breite den Vorrang ein: "Sie bestimmen wesentlich den Charakter eines Bauwerks." Der Widerstreit zwischen Stoff und Formkraft kommt hier am klarsten zum Ausdruck. In der Höhe verkörpern sich Kraft und Streben, in der Breite Schwere und Ruhe. Das Quadrat wirkt "plump", weil sich Streben und Ruhe das Gleichgewicht halten.

Im einzelnen sind Wölfflins Einsichten natürlich nicht neu, und er nennt da und dort seine Gewährsleute. Originell sind aber die Konsequenz seiner Argumentation und die Art und Weise, wie er geometrische Formen bewertet. Während er später in seinen Hauptwerken "Die Klassische Kunst" (1899) und "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" (1915) vornehmlich Formen der Renaissance und des Barock als seelisch-geistige Aussagen beurteilt, betrachtet er hier vor allem die Romanik und die Gotik. Rund- und Spitzbogen bekunden nicht allein den jeweiligen Stand der Bautechnik, sondern auch das jeweilige Temperament einer Epoche. Der romanische Rundbogen "lebt sich ruhig aus"; die Linie des gotischen Spitzbogens hingegen ist "nie ruhend" und äußert "Willen, Anstrengung".

Laufen die breit gelagerten romanischen Bauten Gefahr, im Stoff steckenzubleiben, so können die steilen gotischen Proportionen beklemmend wirken. Das eine Mal werden die Kräfte gleichsam unter-, das andere Mal überfordert. Es findet ein nahezu gesetzmäßiger Wechsel zwischen den Baustilen statt, um das dem Menschen gemäße Maß auszuloten. Wölfflin weiß freilich, daß das richtige Maß niemals endgültig gefunden werden wird, weil jede Form früher oder später langweilig wird. Wenngleich sich seine Betrachtungen nicht "exakt" bewahrheiten lassen, regen sie dazu an, mit geschärften Augen durch die Straßen zu laufen.

ERWIN SEITZ

Heinrich Wölfflin: "Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur". Gebr. Mann Verlag, Berlin 1999. 52 S., geb., 65,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wie kurz waren früher Dissertationen! Ganze 42 Seiten umfasste die von Heinrich Wölfflin aus dem Jahr 1885, die nun kommentiert und mit einem Vorwort versehen neu aufgelegt wurde. Wie Erwin Seitz erklärt, machte sie Geschichte, weil sie erstmals von einer "Psychologie der Architektur" sprach; damals heftig angegriffen, diene sie heute namhaften Architekten wie Kollhoff als Bezugspunkt. Wölfflin interpretierte Kunstgeschichte philosophisch, erklärt Seitz; ihm reichte es nicht, Architekturgeschichte aus dem Zwang des Materials, des Klimas oder des Bauvorhabens abzuleiten. Wölfflins philosophische Betrachtungen, die sich einer Analogisierung der architektonischen Form mit dem menschlichen Körper verdanken, seien nicht unbedingt neu, meint der Rezensent, in ihrer Anwendung auf einzelne Bereiche wie der Romanik oder Gotik aber durchaus originell zu lesen. So ist auch diese Erkennntis des Architekturpsychologen, die Seitz zum Schluss zum Besten gibt, nicht unbedingt neu, sollte aber manchem Architekten zu denken geben: Das richtige Maß zu finden sei zwar immer Antrieb, hatte Wölfflin geschrieben, aber dennoch unmöglich, da jede Form früher oder später langweilig werde.

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