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An der Grenzlinie von Natur und Kultur treten jene Einbrüche auf, welche die Kultur als "Katastrophe" versteht. Um sie wahrnehmen, darstellen und deuten zu können, mobilisiert sie alle Spielformen der Kreativität, auch die der Literatur. Dies lässt sich exemplarisch an der modernen Schweiz verfolgen. Denn diese kultiviert, als Rückseite der alpinen Idylle, die Naturkatastrophen, um sich in ihrer Identität als Willensnation zu stärken. Die Literatur aus der Schweiz trägt mit vielfältigen Untergangsszenarien zu dieser spezifischen Kultivierung der Katastrophe bei. In jenem Stillhalteabkommen, in…mehr

Produktbeschreibung
An der Grenzlinie von Natur und Kultur treten jene Einbrüche auf, welche die Kultur als "Katastrophe" versteht. Um sie wahrnehmen, darstellen und deuten zu können, mobilisiert sie alle Spielformen der Kreativität, auch die der Literatur. Dies lässt sich exemplarisch an der modernen Schweiz verfolgen. Denn diese kultiviert, als Rückseite der alpinen Idylle, die Naturkatastrophen, um sich in ihrer Identität als Willensnation zu stärken. Die Literatur aus der Schweiz trägt mit vielfältigen Untergangsszenarien zu dieser spezifischen Kultivierung der Katastrophe bei. In jenem Stillhalteabkommen, in das sich die Schweiz einmauert, spürt die Literatur jedoch auch eine heimliche Unruhe auf. Sie hört die Misstöne im Einheitschor, sieht Brandstifter umgehen im Hotel Schweiz und spiegelt der Schweiz ihre Zuschauerrolle bei den Weltkatastrophen zurück. So setzt sie die Energie, mit der die Katastrophe alle politischen, medialen und ästhetischen Grenzen sprengt, als ästhetische Kreativität frei.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Von wegen Idylle. Mit diesem Buch des Literaturwissenschaftlers Peter Utz lernt Lothar Müller die Kehrseite von Heidi kennen: Sintflutartige Katastrophenszenarien, Bergrutsche, Wald- und Weltenbrände, sogar Amokläufe. Wie diese Dinge auf schweizerische Art literarisch verarbeitet wurden bei Frisch, Dürrenmatt oder Gotthelf und warum Idyll und Chaos in der Schweiz immer schon zwei Seiten derselben Medaille sind, das erfährt der Rezensent bei Utz aufs Reizvollste. Erhellend und reizvoll für Müller auch, wie eidgenössisches nation-building vom Autor als Selbstbehauptung gegen Naturkatastrophen erkannt wird: Achtung, die Schweiz!

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2014

Sintflut mit Zuschauern
Die Schweiz bereitet sich auf ihren Auftritt als Schwerpunktland
bei der Leipziger Buchmesse 2014 vor: Peter Utz stimmt
mit seinem Buch über „literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz“
auf das Gastspiel ein
VON LOTHAR MÜLLER
Es ist in den zwei letzten Jahrzehnten etwas geschehen mit dem Bild der Schweiz. Rauch quillt darin auf aus dem Gotthard-Tunnel, das Staccato von Salven aus einem Sturmgewehr hallt durch ein Kantonsparlament, in Zürich wird ein Däne erstochen, der als Mitarbeiter der Schweizer Flugsicherung die russische Flugmaschine auf dem Bildschirm hatte, die bei Überlingen mit einem Frachtflugzeug kollidierte, auf den Theaterbühnen machen arbeitslose Manager Furore, wenig später verschwindet die Swissair aus dem Bild, und dann beginnt die Aura der Solidität und Seriosität um die Schweizer Banken zu zerfallen.
  Die Brandkatastrophe im Gotthard-Tunnel Ende Oktober 2001 und der Amoklauf im Kantonsparlament in Zug im September 2001, bei dem 15 Menschen, darunter der Täter, starben, fanden im Schatten des Anschlags auf die Twin Towers in New York statt. Das konnte ihren Widerschein in den Medien dämpfen, aber nicht die untergründige Wucht ihres Beitrags zur Verschiebung der Gewichte von Idylle und Katastrophenlandschaft im Bild der Schweiz. Derzeit bereitet die Schweiz ihren Auftritt als Schwerpunktland bei der Leipziger Buchmesse im März vor, und da ist das Buch „Kultivierung der Katastrophe“ hochwillkommen, in dem der in Lausanne lehrende Literaturwissenschaftler Peter Utz „literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz“ zu einem faszinierenden Panorama zusammenfügt.
  Der Ausgangspunkt ist jedem Leser von Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt bekannt: die Allgegenwart von Katastrophenszenarien in der Literatur der Schweiz. Wer in der Schule oder anderswo Dürrenmatts Kurzgeschichte „Der Tunnel“ (1952) oder die Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ (1979) von Frisch las, dem steht vor Augen, welch große Rolle in der Schweizer Literatur Katastrophen spielen. Was erwartet den sich beschleunigenden Zug bei der Fahrt ins Schwarze? Was bedeutet der Ruf der Käuzchen, den bei Max Frisch Herr Geiser am Ende hört, der in einem von der Umwelt abgeschlossenen Dorf sein Notizbuch füllt, mit einem Bergsturz rechnen muss, aber ausdrücklich an die Sintflut nicht glaubt? Wird das Nichtglauben helfen?
  Die Schweiz kann auf eine große Tradition des Exports literarischer Idyllen zurückblicken. Sie wurzelt im 18. Jahrhundert, als Jean-Jacques Rousseau in seinem Roman „La Nouvelle Héloïse“ die reine Luft des Wallis gegen die Schwüle der Pariser Salons setzt, Salomon Gessner mit großem Erfolg in Wort und Bild Idyllen ausmalte und mancher Publizist die Schweizer Bauern als Selbsthelfer inmitten einer republikanischen politischen Idylle zeichnete. Wegen dieser Tradition könnte es zunächst so scheinen, als brächen die Katastrophen in der Schweiz in der Regel über die Idyllen von außen herein.
  Peter Utz traut diesem Eindruck nicht. Bei ihm ist nicht zuerst die Idylle da, in die dann die Katastrophe einbricht. Er zeigt, dass es keine Schweizer Idylle gibt, die nicht immer schon im Schatten einer Katastrophendrehung gelegen hätte, ja, dass das gesamte – auch politische – Selbstbewusstsein der Schweiz aus dem Katastrophenbewusstsein hervorgegangen ist. Von Max Frischs „Holozän“ und dem Bergtunnel Dürrenmatts aus geht er auf die Geologie der Schweiz und ihre Erdbebengefährdung zurück und verbindet sie mit den Drohungen des politischen Vulkanismus.
  Ausdrücklich gilt die Französische Revolution dem Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi als „feuerspeiender Berg“. Utz erinnert daran, dass Friedrich Schiller, der die Schweiz nie mit eigenen Augen gesehen, aber zu ihrem europäischen Bild entscheidend beigetragen hat, im „Wilhelm Tell“ durchgängig die politische Bedrohung von außen, durch Habsburg, mit der Bedrohung durch die Naturgewalten im Innern parallelisiert. Den Seen und „grünen Matten“ sollten im Bühnenbild der Berliner Uraufführung 1804 die Eisgebirge und der Bannwald gegenüberstehen.
  Das Lissaboner Erdbeben des Jahres 1756 hatte in ganz Europa den Begriff der Katastrophe vom Theater und von der Tragödie in die aktuelle Lebenswirklichkeit geholt. Aber Lissabon war fern, und das Unheil traf dort eine katholische Stadt, an deren Tugend die protestantische Strafmoral ihre Zweifel hatte.
  Utz zeigt an Texten wie Jeremias Gotthelfs „Die Wassernot im Emmental am 13. August 1837“, wie das „nation building“ der modernen Schweiz aus ihrer „Selbstabschließung“ gegen die revolutionären Eruptionen und Kriege seit 1789 auf der einen und aus der Selbstbehauptung gegen die Naturkatastrophen im Inneren auf der anderen Seite hervorgeht. Die Schweiz ist in seinem Panorama eine vielsprachige Nation ohne Einigungskriege, die ihren inneren Zusammenhang, ihre „Kohäsion“, der Erfahrung von Katastrophen – und den Projekten, Vorkehrungen gegen sie zu treffen – verdankt. Das meint der Titel des Buches: „Kultivierung der Katastrophe.“
  Feuer, Wasser, Erde und Luft spielen in den Geschichten, die Johann Peter Hebel in seinem Kalender oder der Österreicher Adalbert Stifter über die Schweiz als Lawinenlandschaft erzählen, zusammen. Und es ist reizvoll, in diesem Buch dem Wirken der Elemente nachzuspüren, etwa in dem Kapitel „Die Schweiz und ihre Brandstifter“, das von Weltenbränden in alpinen Dorfidyllen des frühen 19. Jahrhunderts seinen Ausgang nimmt und das Dreieck aus Grandhotel, Versicherungswesen und Brandstiftung ins Auge fasst, ehe es bei Max Frischs „Herr Biedermann und die Brandstifter“ ankommt. Ebenso erhellend sind die Passagen über die Bergstürze und Flutkatastrophen, ihre Literarisierung und Verwandlung in nationalen „Kitt“ seit dem Bergsturz zu Goldau 1806.
  Für die Verschränkung von politischer und literarischer Mythologie ist aber vor allem ein Vorgang von herausragender Bedeutung: die Verknüpfung der Schweiz mit der biblischen Sintflut-Erzählung. Allein das Kapitel „Noahs Arche, die Sintflut und die alpine Insel“ lohnt die Anschaffung dieses Buches. Darin produziert die „Helvetisierung der Sintflut“, die Peter Utz an einer Fülle von Texten von Johann Jacob Scheuchzers „Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlandes“ (1706) bis zu Charles-Ferdinand Ramuz und darüber hinaus belegt, den Schlüsselmythos der Schweiz. Und zwar im doppelten Sinne. Zum einen wird die Schweiz zur Arche, mit den Alpen als Ararat eines auserwählten Volkes. Utz verfolgt die Sintflut-Bilder und Noah-Figuren bis zur Erfolgsgeschichte des Slogans „Das Boot ist voll“ im zwanzigsten Jahrhundert und zu ihrer Entmythologisierung bei Hugo Loetscher, Urs Widmer und Hans Boesch.
  Zum anderen wird die Schweiz zum idealen Beobachtungsort der anderswo stattfindenden Katastrophen. Ihre im späten 18. Jahrhundert beginnende „Selbstbestimmung als einer Zuschauernation“ wird beim Rückzug aus den europäischen Konflikten als „Neutralität“ zur Staatsdoktrin. Eine Postkarte aus dem Jahr 1914 zeigt das Bundeshaus als Felseninsel, umtost von aufgepeitschten Wassermassen. Die Karte ist das passende Bild zum Text von Carl Spittelers Rede „Unser Schweizer Standpunkt“ vom Dezember 1914. So ist dieses Buch nicht zuletzt auch ein Beitrag aus der Schweiz zur Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren.
Was erwartet in Dürrenmatts
„Tunnel“ den Zug bei seiner
rasenden Fahrt ins Schwarze?
Das Dreieck aus Grandhotel,
Versicherungswesen und
Brandstiftung hatte es in sich
Die Schweizer Grenze in Boncourt 1944/45, aufgenommen von einem unbekannten Fotografen.
  Abb. aus dem bespR. Band
  
  
  
Peter Utz: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz. Wilhelm Fink Verlag, München 2013.
297 Seiten, Abb., 39,90 Euro. E-Book 31,99 Euro.
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