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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 32026
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 556g
  • ISBN-13: 9783770153084
  • ISBN-10: 3770153081
  • Artikelnr.: 24189804
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Dokumentation dieses Literatur-Internet-Projekts bezeichnet der Rezensent Hans-Peter Kunisch als "auseinander fallendes Ding", als unübersichtlich, was er aber nicht als Kritik an dem Projekt oder seiner Konzeption verstanden wissen will. Vielmehr steht die Sperrigkeit des Werks für Kunisch nur so lange als Hindernis da, "bis man Geduld entwickelt, sich seinen eigenen Text zusammenstellt, wie das beim Lesen jedes Buches geschieht." Er lobt an diesem Projekt, dass "`richtige` Erzählungen, nicht nur Befindlichkeiten" ins Netz gestellt wurden und es so zu einem freien, relativ spontanem Austausch von Meinungen kam. Das ist nach Kunisch besonders gut bei den Diskussionen zum Kosovokrieg nachzuvollziehen: hier haben sich die Autoren teilweise recht weit aus dem Fenster gelehnt, weil die "Unsichtbarkeit der Öffentlichkeit des Internets" zu einem Diskussionsverhalten führt, "wie auf einem Markt, auf dem jeder schreien kann, und keiner das Gefühl haben muss, gehört zu werden".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.07.2000

Nullspiele
Historie aus dem Jahr 1999:
Schreib-Experimente im Netz
Mehr als 400 Seiten in nicht aufgeschnittenen, nicht gebundenen Papier-Bögen: ein „Buch”, sicher, aber eigentlich ist dieses auseinander fallende Ding nur auf dem Weg dorthin. Gelassen setzt es auf eine Ästhetik, die altertümlich wirkt, aber im Grunde noch nie da war. Gleichzeitig liest man in diesem formalen Experiment eine politische Diskussion noch einmal, deren Schärfe und Variantenreichtum jene der altgedienten deutschen Öffentlichkeit zum selben Thema übertraf.
Alles in „null”, der gedruckten Ausgabe der Texte von Thomas Hettches gleichnamigem Internet-Projekt aus dem letzten Jahr. „Wie im Katalog einer Ausstellung” solle die Sammlung von Bögen „null”, „diesen Ort im Netz, seine eigene Atmosphäre und Dynamik” dokumentieren. Und mit der zum zweiten Mal ungewöhnlichen Präsentation (zuerst jenseits des Buchs, im Reich der Bytes, und jetzt wie „vor allen Büchern”) wolle man „den besonderen Charakter des alten Speichermediums Buch betonen”, schreibt Hettche in seiner Einleitung „Vollendete Vergangenheit”.
Dynamik, Spannung? Die ergab sich anfangs nur zögernd. Auch beim Kosovo-Krieg, der sich bald als eines der Hauptereignisse erweisen sollte, dauert es ein paar Tage, bis Urs Richle kommentarlos die New York Times vom 9. 4. 1999 zitiert („after four days of clear weather – ideal for bombing – rain and fog rolled in again”); Hettche hatte im April-Editorial nur lapidar vermerkt („Zum erstenmal erfahre ich von einem Krieg aus dem Internet”); Brigitte Oleschinski notiert am 19.  4 eine nachdenkliche Selbstbeobachtung: „Das ratlose, nervöse Herumtelefonieren. Die eigenen Meinungen, wie sie mitten im Satz wechseln. ”
Am 26.4. beginnt der Streit, nach einem Text von Radikal-Pazifist Thomas Meinecke, der anfängt: „Zunächst: Nie wieder Grüne. Nie wieder SPD. Nie wieder Krieg. ” Helmut Krausser dagegen sinniert am 3. Mai, während Bomben fallen, Jünger-epigonenhaft darüber, dass der Krieg schon seinen ästhetischen Reiz habe: „Bukowski hat mal schlicht gesagt, Kriege fände er toll. Als ich das las, 1986, war ich noch anständig entsetzt. Jedenfalls habe ich so getan. Tun müssen. ”
Im Schutz der Nichtöffentlichkeit
Eigentlich müsste man annehmen, dass die Öffentlichkeitswirkung des Internet riesig ist. Jeder, der eine Maschine und einen Telefonanschluss hat, kann das Geschriebene lesen. Also hätten die „null”-Debatten-Teilnehmer in ihrem Streit um den Krieg politisch korrekt aufpassen müssen, was sie sagen. Aber nicht nur bei Meinecke und Krausser hat man den Eindruck von weitgehender Freiheit oder auch Kontrollverlust. Die Unsichtbarkeit der Öffentlichkeit des Internet erzeugt bei ihren Teilnehmern offenbar die Illusion von Intimität; fast wie auf einem Markt, auf dem jeder schreien kann und keiner das Gefühl haben muss, gehört zu werden. Für Tageszeitungen wären viele der Diskussionsbeiträge nie verfasst worden: Meinecke begrüßt die Gefangennahme eines Sat 1-Journalisten durch die serbische Armee; Krausser erklärt ihn daraufhin „als Schriftsteller” für „gestorben”, SPD-Mitglied Joachim Helfer übernimmt die Scharping-Fischer-Rhetorik des moralisch-notwendigen Kriegs, Julia Franck geht in „Ein Held ohne Krieg” und „Polaritäten” von der Frage nach den „Kriegs-Sirenen” aus und schafft damit, vor dem Hintergrund von Homer, den Sprung in die Literatur zurück.
Natürlich ist diese Form auseinander fallender paginierter Bögen anfangs unpraktisch, unübersichtlich, ein schönes, aber leserfeindlich wirkendes Experiment; bis man Geduld entwickelt, sich seinen eigenen Text zusammenstellt, wie das beim Lesen jedes Buches geschieht. Das „Unübersichtliche”, Sperrige war ja nicht Ungeschicklichkeit, sondern schon im Internet ein Teil des Konzepts von „null”. Der mit Namen und Daten beschriftete Sternenhimmel auf schwarzem Grund, der die einzelnen Texte lokalisierte, machte von Anfang an klar: Verehrter Leser, Sie müssen sich interessieren. Zuerst sehen Sie nämlich gar keinen Text, und wenn Sie einen der Sterne anklicken, ist auch der dann sichtbare Text immer nur ein Teil: ganz sicher keine site zum Schnell-mal-durchsehen.
Das führte natürlich dazu, dass „null” im Vergleich zu anderen Foren des Netz-Literaturbetriebs nur bei Interessierten ankam. Weil sofort klar wurde: Hier soll nicht nur gequatscht werden, hier werden seitenlange Texte ins Netz gestellt, „richtige” Erzählungen, nicht nur Befindlichkeiten. Die Schnelligkeit des Internet ging dabei verloren, das war der Preis für das Konzept „Literatur im Internet”; statt Internet-Literatur. Trotzdem kann sich die Mischung von Textsorten sehen lassen: Meinungen zu Houellebecq, Erläuterungen zu Donna Harraways Cyborg, die Erzählungen der Klagenfurter Preisträger 1999, Ilija Trojanow über den Monsun, Gedichte, Zeichnungen.
Alles in allem gehört „null” zum beinahe schon historisch wirkenden Jahr 1999, mit der Gründung vieler Autoren-Gruppen am Rande des Literaturbetriebs: „Dreizehn”, „pool” und mehr. Ein zweites Netz hat sich herausgebildet, ein Kommunikationsmittel zwischen Autoren. Keine „neue Literatur” ist da bisher entstanden, eher entwicklungsfähige „Zeitschriften”, ohne ausgeprägte Hierarchie, mit rascher Reaktionsmöglichkeit.
HANS-PETER KUNISCH
THOMAS HETTCHE und JANA HENSEL (Hrsg. ): null. Literatur im Netz. Du Mont Verlag. Köln 2000. 406 Seiten in 26 Bögen, 49,90 Mark.
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