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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 141
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 196g
  • ISBN-13: 9783770146321
  • ISBN-10: 3770146328
  • Artikelnr.: 24965650
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Der Blitz steht stramm
Jean Clairs Künstlerschelte / Von Martin Warnke

Die moderne Kunst war immer wieder fundamentalen Angriffen ausgesetzt. Den einen war sie dilettantische Schmiererei, eine Fluchtbewegung in eine selbstzufriedene l'art pour l'art, anderen entsprang sie einem artfremden oder bolschewistischen Internationalismus, anderen wiederum war sie die Verkörperung des Bösen, die Folge eines Gottesverlustes, wiederum anderen Ausdruck der menschlichen Entfremdung im Kapitalismus. Man konnte aber denken, daß solche Angriffe außer Mode gekommen sind, da eine allgemeine Akzeptanz moderner Kunstproduktion den Eindruck erweckte, die Avantgarden seien in eine Koalition mit den gesellschaftlichen Mächten übergetreten.

Jean Clair stört diesen Frieden jetzt als ein Renegat, als einer, der selbst im Betrieb ist. Er hält den Zeitpunkt für gekommen, schonungslos Bilanz zu ziehen, und zwar in politischer Hinsicht.In der Zeit des Ost-West-Gegensatzes vertraten die westlichen Avantgarden das demokratische Prinzip, die Freiheit des Subjektes gegen das verplante und gelenkte Individuum im sozialistischen System. Die ideologische Aufrüstung der modernen Kunst, die den Avantgardekünstler "mit dem Prestige der individuellen Revolte ausstattet", ist das einzige Dogma, das nach dem Zerfall der Systeme noch Bestand hat. Dieses Dogma will Clair jetzt benennen und beseitigen.

Clair begründet seinen politischen Vorwurf gegen die moderne Kunst mit weit ausgreifenden, biographischen und historischen, theoretischen und ästhetischen Überlegungen und Beobachtungen. Er hält sich nicht bei der Euphorie auf, mit der zahlreiche Künstler in den Ersten Weltkrieg zogen, auch nicht bei mehr oder weniger extremen Engagements in der Weimarer Republik. Vielmehr geht es um die culpa maxima, um die subjektive und objektive Affinität der modernen Kunst und der Avantgardekünstler zum Nationalsozialismus.

Clair geht aus von Victor Klemperers Ableitung der nationalsozialistischen Sprache von der expressionistischen Sprache und von der blitzhaften Erscheinung der SS-Initialen, welche "direkt aus dem Formenarsenal des Expressionismus" kommt. Entsprechend ist nach Clair der ausgezackte graphische Duktus Meidners oder Kirchners dem nazistischen Impuls willkommen. Das Pathos, der Rückgang auf die Urgründe, die Archaismen, die kindliche Erregbarkeit - alles das arbeitet dem Nazismus zu. Die Verwandtschaft läßt sich so weit bestimmen, daß der Vortrag von Karl Kraus demjenigen Hitlers zum Verwechseln ähnelt: "Der Führer klingt genauso wie Karl Kraus." Auf biographischer Ebene werden wieder die Anbiederungen an den nationalsozialistischen Staat von Künstlern erwähnt. Originell sind die ortskundlichen Ausführungen, wonach München die ideale Brutstätte war, wo die "zwei Künstler" Ludwig II. und Hitler gedeihen konnten und wo es in der Räterepublik zu einer "Ästhetisierung der Politik" kommen konnte. Clair nutzt auch die Vorgänge, die Hildegard Brenner schon 1963 dargestellt hat, daß man in Kreisen um Goebbels und den NS-Studentenbund eine Zeitlang dafür kämpfte, den Expressionismus zu dem gesuchten germanischen Stil des neuen Reiches zu machen. Das Bauhaus, aus dem bekanntlich etwa Gropius und Mies van der Rohe nach der Machtübernahme ihre Dienste anboten, wäre nach Clair dem technizistischen und modernistischen Moment im NS-System entgegengekommen; es wird darauf hingewiesen, daß der Bauhauslehrer Fritz Ertl in Auschwitz Baracken gebaut hat, woraus folgt, daß die Bauhausformen "gänzlich kompatibel mit einem nichtdemokratischen Inhalt" sind. Daß es nicht zu einer offiziellen Übernahme expressionistischer und bauhauslicher Angebote kam und ihr Widersacher Rosenberg sich hier gegen Goebbels durchsetzte, wird nach Clair einem Zufall verdankt, einer persönlichen Geschmacksentscheidung Hitlers.

Clair verdrängt etwas, daß hier ein Kern seines Argumentes enthalten ist: Es kann schwerlich einer Laune entsprungen sein, was die größte Verfolgungsaktion gegen eine Kunstrichtung, welche die Kunstgeschichte je erlebt hat, ausgelöst und durchgetragen hat. Clair zieht öfters die Parallelen zu Italien und auch zu Rußland, wo ähnliche Entwicklungen stattfanden. Er erwähnt auch faschistoide Anwandlungen in England, merkwürdigerweise aber nicht die Popularität mancher nazistischer Kunstgröße in Frankreich.

Nach dem Krieg war der Realismus, der unter Hitler und Stalin inthronisiert worden war, für immer als Kumpan des totalitären Staates unglaubwürdig geworden. Die Frage von Peter-Klaus Schuster, was wir nach dem Krieg gemacht hätten, wenn Hitler sich für die moderne Kunst entschieden hätte, beantwortet Clair insofern, als er sagt, die Europäer hätten die Modernen um Gropius so wie die Amerikaner die Techniker um Wernher von Braun reingewaschen. Die Documenta von 1955 sollte die abstrakte Kunst als Weltsprache etablieren und beweisen, "daß Deutschland nie aufgehört hat, das Land der Moderne zu sein". Frankreich schloß sich dem um 1968 an und fiel so, wie Clair meint, auf die amerikanische Kolonialisierung herein und auf des "ahnungslosen" Greenbergs flache Konstruktion, wonach in der New Yorker Schule die Moderne seit Cézanne, Picasso und Kandinsky kulminierte. Damit sollte nach Clair nur die Sprachlosigkeit als Ausdrucksform westlicher Demokratien durchgesetzt werden. Concept und Minimal art, welche die Kunst außerhalb aller weltlichen Bedingtheit ansiedelten, dienten ebenfalls nur der "Tyrannei der amerikanischen Panoptik".

Jean Clair, der nach Art Jenningers dort, wo es heikel wird, immer wieder Kaskaden von Fragen einsetzt, möchte den Modernen einen angemessenen Platz in der Kunstgeschichte belassen, doch sollten sie begleitet sein von anderen Positionen, welche die Kunst dieses Jahrhunderts erarbeitet hat. Wenn man den "Humanismus des Lokalen", den Respekt vor dem Partikularen, für die Individuen mit je eigenem Gesicht, für das andere und Besondere gegen den universalen Mischmasch der Moderne festgehalten haben will, dann haben Künstler wie Beckmann oder Balthus, Bonnard oder Hopper, Giacometti, Music oder Arikha Anspruch auf einen Platz in der ersten Reihe.

Selbst in Amerika wird man dann unter diesem Blickwinkel eine pazifische Schule mit Richard Dienbenkorn an der Spitze entdecken, aber auch eine Schule von Chicago, und man wird nicht mehr das Moma in New York, sondern das Hirshhorn-Museum in Washington aufsuchen. In Frankreich hat man soeben erst Eugène Leroy wieder anerkannt. In Deutschland und Italien war die Renationalisierung schon um 1981 in Gang gekommen. Unter den Neuen Wilden waren die antijüdischen Bemerkungen von Baselitz und der propagierte nationalistische "Wiederaufschwung" zwar "recht bedenklich", doch die grundsätzliche Besinnung auf die eigenen Werte als Reaktion auf die amerikanische Verflachung ist für Clair genauso berechtigt wie die parallele "Transvanguardia" in Italien. Clair teilt mit der Modernen die maßlose Überschätzung der Kunst und die maßlosen Ansprüche an die Künstler. SeinVorwurf einer nazistischen Kontamination der Künstler gewinnt ja erst ein Gewicht, wenn man seine Erwartung teilt, Künstler müßten so etwas wie die moralischen Tugendwächter der Menschheit sein. Mit der überzogenen Genievorstellung werden auch die Kunstwerke weit überfrachtet. Künstlerischen Stilen werden alle Weltprobleme und Weltfragen aufgeladen, so als ob ein Stück Leinwand den Platz für die Lösung aller Welträtsel abgeben könnte.

Jahrtausendelang waren Künstler Handwerker, bei denen man Bilder bestellte wie einen Schuh beim Schuster. Wenn sie sich damit begnügten, Vertreter eines Metiers zu sein, würde ihre Verantwortung abschätzbar und human. Clairs Buch enthält viele Hinweise darauf, daß die Künstler in der Rolle von Welterlösern überfordert waren und überflüssig geworden sind.

Jean Clair: "Die Verantwortung des Künstlers". Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié. DuMont Buchverlag, Köln 1998. 141 S., br., 34,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Peter Bürger macht sich in seiner groß angelegten Sammelbesprechung Gedanken zur Frage nach dem Deutschen in der deutschen Kunst, die er in den folgenden vier Büchern thematisiert sieht.
1) Martin Warnke: "