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Zum ersten Mal wird in diesem Buch das Phänomen des Schamgefühls unter dem historischen Aspekt untersucht. Jean-Claude Bologne gibt mit seiner Analyse neue Antworten auf alt bekannte Fragen: Welche Beziehung besteht zwischen körperlicher Scham und Scham der Gefühle? Gibt es eine weibliche und eine männliche Schamhaftigkeit? Warum errötet man vor Scham? Was ist eigentlich Schamgefühl? Am Beispiel historisch prominenter Persönlichkeiten dokumentiert er die Wandlung des Gefühls der Scham im Lauf der Jahrhunderte und spiegelt somit den Wandel der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen wider.

Produktbeschreibung
Zum ersten Mal wird in diesem Buch das Phänomen des Schamgefühls unter dem historischen Aspekt untersucht. Jean-Claude Bologne gibt mit seiner Analyse neue Antworten auf alt bekannte Fragen: Welche Beziehung besteht zwischen körperlicher Scham und Scham der Gefühle? Gibt es eine weibliche und eine männliche Schamhaftigkeit? Warum errötet man vor Scham? Was ist eigentlich Schamgefühl? Am Beispiel historisch prominenter Persönlichkeiten dokumentiert er die Wandlung des Gefühls der Scham im Lauf der Jahrhunderte und spiegelt somit den Wandel der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen wider.
Autorenporträt
Jean-Claude Bologne, renommierter französischer Historiker, hat u.a. eine »Geschichte der Ehe« und eine »Geschichte der Geburt« in Frankreich publiziert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Und sie schämen sich nicht
Jean-Claude Bologne verliert sich in den nackten Tatsachen / Von Edo Reents

Thomas Mann verordnete sich auf dem Sterbebett eine "Abschaffung des Zartgefühls", wie er es in seinem Tagebuch vom 22. Juli 1955 notiert. Statt Zartgefühl könnte man auch von Schamgefühl oder einfach nur von Scham sprechen. Sie bezog sich im Falle des an einer Thrombose auf den Tod erkrankten Autors auf das Herausnehmen des Gebisses und das Vorzeigen seines Gliedes vor den Krankenschwestern und suggeriert auf irritierende Weise die Möglichkeit, man könne aufhören, sich für etwas zu schämen, wenn man es nur selbst wolle.

Der Kaiser Maximilian war da weniger frei und verfügte in seinem Testament, daß man ihm nach seinem Tod unbedingt Unterhosen anziehen möge, was Montaigne zu der Bemerkung veranlaßte: "Er hätte in einem Nachtrag hinzusetzen sollen, daß man dem, der sie ihm anzieht, die Augen verbinde!" Thomas Manns Tagebucheintragung wurde von der Germanistik, so weit sich das überblicken läßt, bisher nicht gewürdigt. Und das ist schade. Führt sie doch auf eine Frage, die seit der Wiederentdeckung von Norbert Elias' Zivilisationstheorie in den späten siebziger Jahren in der kulturwissenschaftlichen Debatte eine erhebliche Rolle spielt - die nach dem Anfang des menschlichen Schamgefühls, das zumindest im Falle Maximilians gar kein Ende hat.

Elias hatte in seinem Werk "Über den Prozeß der Zivilisation" behauptet, seit dem Mittelalter werde das Schamgefühl immer stärker; es sei eingebettet in einen historischen Prozeß, der dazu führe, daß sich die Menschen immer intensiver und immer mehr schämten und insbesondere zu ihrer eigenen Nacktheit ein heikleres Verhältnis entwickelten. Hans Peter Duerr hat dies in seiner so großangelegten wie eigensinnigen und bisher vierbändigen Studie als "Mythos" zu enttarnen versucht: "Der Mythos vom Zivilisationsprozeß" behauptet das Gegenteil einer Dynamisierung und historisch-kulturellen Spezifizierung des Schamgefühls - die Scham, sagt er, ist uns angeboren, in allen Kulturen anzutreffen und im Prinzip unveränderlich.

An dieser Auseinandersetzung setzt die nun auf deutsch erschienene umfangreiche Studie über "Nacktheit und Prüderie" von Jean-Claude Bologne leider nicht an; die Namen Elias und Duerr fehlen bei dem französischen Historiker. Man sollte sich dieses Versäumnis von vornherein klarmachen, will man begreifen, welche Chance damit vertan wurde. Was der Untertitel ankündigt, ist trotzdem nicht ohne Wert; aber es bleibt ohne Deutung: Die "Geschichte des Schamgefühls" geht in die Breite statt in die Tiefe, und selbst der geduldige Leser verliert hier den Überblick.

Daß dieses Unterfangen, das Bologne trotzdem in die Nähe Elias' führt, gewisse "Tücken" berge, will man gerne glauben, sollte es aber nur dann dem Sujet und nicht dem Autor selbst anlasten, wenn man sich einverstanden gibt mit seiner Entscheidung, daß die Sache unbedingt eine flächendeckende Behandlung brauche. Für die sind freilich auch die knapp fünfhundert Seiten zu wenig, auf denen Bologne seine Befunde aus Kultur und Politik ausbreitet. Hinter der einführend annoncierten Selbstbeschränkung "auf die europäische Gesellschaft vom Hochmittelalter bis heute" verbirgt sich in Wirklichkeit der Wille zur ganz großen historischen Perspektive, der allenfalls in beschränkter Quellenlage ein Hemmnis findet und nicht in der vernünftigen Einsicht in die Notwendigkeit einer Schwerpunktsetzung.

Das Schamgefühl, wie wir es bis heute kennen, verdanke sich zwei Traditionen: der griechisch-lateinischen und der jüdisch-christlichen - ein keineswegs überraschendes Fazit, zu dem Bologne kommt und für das er Belege sowohl aus dem Alltagsleben wie auch aus der Kunst aufeinandertürmt.

Der Mensch ist schamhaft, und zwar nicht weil er sich seines Körpers schämt, sondern weil er die Gedanken antizipiert, die andere bei seinem bloßen Anblick damit verbinden. Nicht die Nacktheit als solche ruft Scham hervor, sondern die Idee der Nacktheit. Deswegen zielen auch die Vorkehrungen, die man im Verhalten und in der Kleidung gegen die Scham und gegen die Nacktheit trifft, nie auf das corpus delicti als solches, sondern auf etwas Abstraktes. Das läßt sich überall beobachten, im Alltagsleben so gut wie in der Kunst. So gesehen sind es Alibivorrichtungen, die ohne den Glauben an übergeordnete Wertvorstellungen weder denkbar noch sinnvoll sind.

Dieser Glaube war nie ein spezifisch christlicher und bestimmte schon in der vorchristlichen Antike zwar keineswegs immer das Verhalten im Alltag, aber doch immerhin die Vorstellungen von Scham. So schreibt Cicero in seiner Moral-Abhandlung "De officiis": "Zunächst scheint schon die Natur viel Sorge auf unseren Körper verwendet zu haben. Denn sie hat unser Gesicht und die übrige Erscheinung, soweit sie ehrenvolles Aussehen hat, sichtbar vor Augen gestellt, die Körperteile aber, die, zur natürlichen Notdurft gegeben, ein unschönes Aussehen haben sollten, verdeckte und verbarg sie. Dieses so sorgsame Walten der Natur hat der Anstand der Menschen nachgeahmt. Was nämlich die Natur verborgen hat, das halten auch alle, die recht bei Verstand sind, den Augen fern, und sie bemühen sich, dem Bedürfnis möglichst heimlich zu genügen. Und die Körperteile, deren Funktionen notwendig sind, nennen sie ebenso wenig wie die Funktionen beim eigentlichen Namen, und was zu tun nicht schändlich ist, wenn es nur im verborgenen geschieht, das zu nennen ist anzüglich."

Hieraus läßt sich zweierlei folgern. Erstens: Das Schamgefühl, vor allem das sich auf Nacktheit und Sexualität erstreckende, ist quasi naturgegeben und folglich kaum veränder- oder steuerbar. Zweitens: Nacktheit und Sexualität sind als solche nicht verwerflich, wohl aber deren Zurschaustellung und das Reden darüber. Es leuchtet ein, daß die Gegner einer übertriebenen Prüderie die zweite Annahme immer wieder dazu genutzt haben, prüden Moralaposteln jeglicher Couleur den Vorwurf der Heuchelei und der Doppelmoral zu machen: Wenn das Delikt als solches schon nicht verwerflich sei - wieso soll man dann nicht auch darüber sprechen und es zeigen?

Bologne behält diesen Widerspruch scharf im Auge, versäumt es aber, nach den psychologischen Gründen zu fragen. Er setzt, wie Cicero das mit dem Natur-Begriff tut, ganz auf politisch-historische Vorschriften und Verbote als auf eine nicht näher bestimmte Größe. Natürlich betrachtet Bologne diese Vorschriften und Verbote als etwas, das sowohl in der synchronen als auch diachronen Betrachtungsweise Veränderungen unterliegt. Aber er dokumentiert diese Veränderungen nur. Daß jedoch die Blöße genauso wenig ein Gradmesser für Zivilisation ist wie deren Bedeckung, das hätte man doch gern etwas genauer gewußt.

Das rein philologische Verfahren erweist sich so lange nicht als Nachteil, wie Bologne sich auf schriftliche Quellen stützt. Wie etwa das Schlaf- und Badeverhalten im Mittelalter war, läßt sich ja auch gar nicht anders herausfinden. Anders sieht es dagegen mit dem zwanzigsten Jahrhundert aus, das doch etwas unterbelichtet wirkt. Die breit erörterten "Kontroversen um die Darstellung von Nacktheit" im Film und im Theater hätten das ergiebigste Kapitel abgeben können, das auch für den Nichthistoriker interessant gewesen wäre. So ist ja der sogenannte Code Hays, der im amerikanischen Film jahrzehntelang die Darstellung von Nacktheit und Sexualität - aber freilich nicht nur diese - reglementierte, nicht allein als Verbotsmaßnahme zu werten, über die der weniger Prüde nur den Kopf schütteln mag, sondern auch als Ansporn zur ästhetischen Verfeinerung, als der er sich denn auch erwiesen hat - man denke etwa an die Filme Elia Kazans.

Diese Dialektik zwischen dem Verbot und der Schamhaftigkeit auf der einen Seite und deren kultivierenden Folgen, die ja nicht gleich in die Neurose führen müssen, auf der anderen Seite verliert Bologne genauso schnell aus den Augen wie eine nähere Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Nacktheit. Er will erschöpfend sein, geht aber nicht in die Tiefe. Man sieht vor lauter Nacktheit die Scham nicht mehr.

Jean-Claude Bologne: "Nacktheit und Prüderie". Eine Geschichte des Schamgefühls. Aus dem Französischen von Rainer von Savigny und Thorsten Schmidt. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Weimar 2001. VII, 480 S., geb., 99,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Edo Reents hält Jean-Claude Bolognes "Nacktheit und Prüderie" im großen und ganzen für eine vertane Chance. Dieser 'Geschichte des Schamgefühls' billigt Reents zwar zu, "nicht ohne Wert" zu sein, aber leider bleibe sie ohne Deutung. Das Buch sieht Reents eher in die Breite statt in die Tiefe gehen. So wirft er dem Autor vor, dass er den Widerspruch nicht wirklich hinterfragt, dass nicht Nacktheit Scham hervorrufe, sondern die Idee der Nacktheit. Denn, so Reents' Überzeugung, "der Mensch ist schamhaft, und zwar nicht, weil er sich seines Körpers schämt, sondern weil er die Gedanken antizipiert, die andere bei seinem bloßen Anblick damit verbinden." Noch schwerer wiegt für ihn allerdings, dass Norbert Elias' Zivilisationstheorie nicht in das Buch miteingeflossen ist: "Die Dialektik zwischen dem Verbot und der Schamhaftigkeit auf der einen Seite und deren kultivierenden Folgen, die ja nicht gleich in die Neurose führen müssen, auf der anderen Seite verliert Bologne genauso schnell aus den Augen wie eine nähere Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Nacktheit".

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