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Klassiker der US-Moderne
Mit "Winesburg, Ohio" revolutionierte Sherwood Anderson die moderne amerikanische Short Story. Lakonischer war das Leben seiner Landsleute nie erzählt worden. In der vorliegenden Neuübersetzung, der ersten seit über 50 Jahren, lässt sich dieser wegweisende US-Klassiker nun endlich wiederentdecken.
Wing Biddlebaum verlor durch ein fatales Missverständnis seine Stelle als Lehrer und mit ihr seine Seelenruhe. Alice Hindman wartet auch elf Jahre nach deren Verschwinden noch verzweifelt auf die Rückkehr ihrer Jugendliebe. Der Arzt Mr Reefy schreibt seit dem Tod seiner
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Produktbeschreibung
Klassiker der US-Moderne

Mit "Winesburg, Ohio" revolutionierte Sherwood Anderson die moderne amerikanische Short Story. Lakonischer war das Leben seiner Landsleute nie erzählt worden. In der vorliegenden Neuübersetzung, der ersten seit über 50 Jahren, lässt sich dieser wegweisende US-Klassiker nun endlich wiederentdecken.

Wing Biddlebaum verlor durch ein fatales Missverständnis seine Stelle als Lehrer und mit ihr seine Seelenruhe. Alice Hindman wartet auch elf Jahre nach deren Verschwinden noch verzweifelt auf die Rückkehr ihrer Jugendliebe. Der Arzt Mr Reefy schreibt seit dem Tod seiner Frau Gedankensplitter auf kleine Zettel - und wirft sie weg. Selbst die Existenz des jungen Lokalreporters George Willard, der neugierig all diese Schicksale sammelt, ist nicht frei von tragischen Verstrickungen. Schrullige, einsame Charaktere bevölkern das Städtchen Winesburg in Ohio, einen Ort auf der literarischen Landkarte, dem Autoren bis heute ihre Reverenz erweisen.
Autorenporträt
Anderson, Sherwood
Sherwood Anderson (1876-1941) wuchs im US-Bundesstaat Ohio auf, nahm verschiedenste Gelegenheitsjobs an, war Soldat und leitete schließlich eine Farbenfabrik. Nach einem psychischen Zusammenbruch verließ er 1912 Ehefrau und Kinder, um Schriftsteller zu werden. In den Folgejahren entstanden viel bewunderte Short Storys, Romane und Gedichte.

Schönfeld, Eike
Eike Schönfeld, geboren 1949, übersetzt seit 1986 englischsprachige Literatur, unter anderem Werke von J.D. Salinger, Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides. Er wurde vielfach ausgezeichnet: 2004 erhielt er den Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung für Saul Bellows "Humboldts Vermächtnis". 2013 wurde er für seine Übertragung von Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio" mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2012

Ein Land so still wie ein unerfülltes Versprechen

Sherwood Andersons Erzählsammlung "Winesburg, Ohio" ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur. Jetzt sind zwei Neuübersetzungen erschienen.

Man könnte von den Themen und Figuren sprechen. Wir lesen von vergrübelten jungen Männern, leerer Landschaft, gestrandeten Alten, die nur noch die Erinnerung lebendig hält, von enttäuschten Ehefrauen, einem heruntergekommenen Hotel und dem Klatsch eines sehr kleinen Ortes im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Kaum einer ist glücklich in Winesburg, Ohio. Fast jeder hat eine belastete Geschichte und zeigt einen Zipfel davon, wenn der richtige Zuhörer sich nähert. Oft aber sprechen die Menschen nur mit sich selbst, weil sie ihre innere Welt mit niemandem teilen können. Wir lesen von einem Farmer, der sich aus religiöser Inbrunst ein Agrarimperium aufbaut; einer jungen Lehrerin, die sich in den siebzehnjährigen Lokalreporter verguckt; einem Pfarrer, der ein Stück aus dem Kirchenfenster bricht, um abends die nackten Arme einer lesenden Frau zu beobachten. Träumer, Sehnsüchtige, Voyeure, Verlierer. Hier und da ein Hauch von Aufbegehren oder ein Augenblick der Epiphanie, der den Alltag in ein anderes Licht taucht: In den Beschreibungen von Sherwood Anderson wird die Welt zu einem traurigen Ort, und das Einzige, was sie rettet, ist der unglaubliche Glanz seines Schreibens.

Mit seinem Erzählreigen um eine amerikanische Kleinstadt kurz nach 1890 gilt Sherwood Anderson (1876 bis 1941) als Vorläufer Faulkners und Hemingways, und dass er das literarische Talent beider früh erkannte und von beiden überflügelt wurde, garantiert ihm vor allem die Nennung in Faulkner- und Hemingway-Biographien. Die zwanzig Erzählungen und zwei Rahmengeschichten, aus denen sich "Winesburg, Ohio" zusammensetzt, spielen in einem 1800-Seelen-Ort, der nach Clyde in der Nähe des Eriesees modelliert ist, dem Dorf, in dem Anderson aufwuchs. Am Anfang lässt ein alter Mann, "der Schriftsteller", im Wachtraum groteske Gestalten an sich vorüberziehen. Sie beschäftigen ihn, diese Figuren, er glaubt, einige Wahrheiten über das Leben an ihnen zu erkennen; dann quält er sich aus dem Bett und beginnt, über sie zu schreiben. Ganz am Ende des Buches wird George Willard, der junge Redakteur des "Winesburg Eagle", der durch alle Erzählungen des Bandes geistert und sie zur Einheit schmiedet, seinen Heimatort verlassen, um in die Welt hinauszugehen und Schriftsteller zu werden. Wir Leser wissen es schon, denn der alte Mann des Beginns dürfte George Willard sein, so dass wir durch die Lektüre an der Entstehung genau des Buches teilhaben, das wir in Händen halten.

"Winesburg, Ohio" ist die Erforschung des Lebens mehrerer Dutzend Figuren in einem Dorf kurz vor dem Beginn der Industrialisierung, als schon die Ausläufer des technischen Fortschritts zu sehen sind, das Landleben seine Selbstverständlichkeit verliert und sich alle nebulösen Zukunftshoffnungen auf das kommerzielle Treiben "der Stadt" richten (Andersons Buch erschien 1919, als die Vereinigten Staaten gerade zur Weltmacht aufgerückt waren). Doch auch die verträumte Gegenwart dieses Nests mit seiner Main Street, seinem kleinen Bahnhof, Winneys Stoffgeschäft und Biff Carters Speiselokal ist für die Älteren schon modern und unübersichtlich geworden; wie Tom Fosters Großmutter, die nach fünfzig Jahren in ihren Heimatort zurückkehrt und nichts wiedererkennt, erinnern sie sich an den Weiler von fünfzehn Häusern, der Winesburg einmal war. Zeit, Geschichte und Tod sind also die großen, aber mit größter Dezenz umspielten Themen dieses Buches, und jedes der hier beschworenen Leben zeichnet seine eigene feine Linie: den Übergang von der Jugend zum Alter, von der Tat zur Reflexion, von der Ernüchterung zur Resignation.

Das Beeindruckende ist Andersons Methode. Statt seine Welt naturalistisch zu malen, wie es die amerikanische Prosa oft so stilprägend getan hat, verknappt der Autor die Rhetorik und verleiht seiner Sprache einen epigrammatischen Ernst, der nie feierlich wird. In einem Ton zwischen Bibel und Maupassant dringen die kurzen, manchmal kahl wirkenden Sätze sofort zum Kern der Figur vor. Es ist ein Minimalismus avant la lettre. Das Leben, das erzählt werden soll, scheint offen dazuliegen, bleibt aber ein Rätsel, weil es gar nichts hilft, alles zu wissen. Oft liegt das Ereignis, das den ganzen weiteren Weg vorzeichnete, weit zurück, ein Betrug, eine Lebensenttäuschung, die alles andere entschied. Manchmal erleben wir die Figuren am Ende ihres Wegs, der in fortschreitende Desillusionierung führte. Erstaunlich sind Andersons Frauen: unruhig, leidenschaftlich, nervös, meist von dem Gefühl beherrscht, sexuell und gesellschaftlich eingekerkert zu sein. Heute würde man solche Menschen therapiefähig nennen. In Winesburg gehen sie nachts auf die kalten Straßen hinaus und laufen stundenlang umher, um nicht zu verglühen. Auch die stille Landschaft wirkt eher wie ein unerfülltes Versprechen: Anderson hat mit seinem Buch ein Anti-Agraridyll geschrieben.

Das Unbewusste, die unerfüllte Lust, die Niedergeschlagenheit seiner Dorfexistenzen, all das wurde als Bedrohung empfunden und "Winesburg, Ohio" als unmoralisches Buch gebrandmarkt. Den Aufstieg zum Klassiker hat die Empörung nicht verhindert. Im deutschen Sprachraum blieb es etwas stiller. Umso schöner, dass jetzt gleich zwei Neuübersetzungen erschienen sind. Die des Manesse Verlags stammt von Eike Schönfeld, die bei Schöffling von Mirko Bonné. Welche man denn nun lesen soll, sollte nicht an dem einen Euro liegen, der den Preisunterschied ausmacht. Am besten hat man (wie der Rezensent) beide; liest eine selbst, leiht die andere der Partnerin oder dem Partner, sorgt zum verabredeten Zeitpunkt für geordneten Tausch und achtet vor allem darauf, dass keine wegkommt.

Der Stilvergleich zwischen den beiden Versionen zeigt interessante Unterschiede. "Die Stille ist beinahe erschreckend", übersetzt Eike Schönfeld. "Man verbirgt sich und steht stumm an einem Baumstamm, und jede Neigung zur Nachdenklichkeit wird verstärkt." Bei Mirko Bonné lautet dieselbe Passage: "Eine fast grausige Stille herrscht. Schweigend sucht man Zuflucht im Schatten eines Baums und überlässt sich der alten grüblerischen Neigung." Kein Mensch könnte diese beiden Stellen in ein und denselben englischen Text zurückverwandeln. Und so geht es das ganze Buch hindurch. Wenn auf einer ganzen Seite mal sieben Wörter in Folge identisch sind, ist es schon mächtiger Zufall. Denn nicht um "richtiges" oder, um es mit einem Fetischbegriff der Übersetzungskritik zu sagen, um "angemessenes" Übersetzen geht es, sondern um die Eigenständigkeit und Tragfähigkeit des jeweiligen Systems. Dieses setzt bei einem Autor von Andersons Graden eine Poetologie voraus. Es kann also zwei sich stark unterscheidende Versionen geben, die beide auf ihre Weise recht haben. Und das ist hier der Fall.

Lustig zu sehen, dass beide Übersetzer in dieselbe Amerikanismen-Falle tappen und den ehrwürdigen deutschen Ausdruck "auf allen vieren" durch "auf Händen und Knien" ersetzen. Ansonsten begeht jeder seine eigenen Fehlerchen, die unvermeidlich sind; der Rezensent muss das erwähnen, sonst denken die Leute, er habe keine Ahnung. Wirklich wichtig ist es nicht. Vielmehr handelt es sich in beiden Fällen um überaus gründliche, ambitionierte Übertragungen. Eike Schönfeld kommt seine lange Erfahrung als Prosaübersetzer zugute, er wählt bei syntaktischen Kniffligkeiten oft die einfachere, auch kürzere Lösung. Mirko Bonné, der sich als Lyrikübersetzer einen Namen gemacht hat, beschleunigt den Text manchmal ins Saloppe, Zeitgenössische und liefert wunderbare Naturbeschreibungen. Bonné hat auch ein engagiertes Nachwort beigesteuert; das bei Manesse stammt von Daniel Kehlmann und hat nur den Nachteil, dass man es sich doppelt so lang gewünscht hätte.

PAUL INGENDAAY

Sherwood Anderson: "Winesburg, Ohio". Eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios.

Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Vorwort von Daniel Kehlmann. Manesse Verlag, Zürich 2012. 304 S., geb., 21,95 [Euro].

Sherwood Anderson: "Winesburg, Ohio". Eine Reihe Erzählungen vom Kleinstadtleben in Ohio.

Aus dem Englischen und mit einem Essay von Mirko Bonné. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012. 328 S., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2012

So vom Allmächtigen gepackt ist man nur in Amerika
Sherwood Andersons bekanntestes Werk, der Episoden-Roman „Winesburg, Ohio“ liegt zum 70. Todestag des Autors in zwei neuen Übersetzungen vor
Der 70. Todestag eines Autors mag kein besonderes Jubiläum darstellen – für den Buchhandel jedoch hat er besondere Bedeutung. Denn da werden die Rechte frei. Und so erscheint jetzt in zwei verschiedenen Neu-Übersetzungen gleichzeitig das weitaus berühmteste Buch eines Autors, an den hierzulande schon lange keiner mehr richtig gedacht hatte: „Winesburg, Ohio“ von Sherwood Anderson, 1876 als Sohn einer Wäscherin in einem kleinen Ort in Ohio geboren und 1941 auf einer Schiffsreise mit seiner vierten Frau nach Südamerika verstorben, nachdem er das Hölzchen verschluckt hatte, mit dem die Olive in seinem Martini aufgespießt war.
Anderson kommt aus schwierigen Verhältnissen, kämpft sich lange als Fabrikarbeiter und Geschäftsmann durch, findet spät zur Literatur und schafft mit 43 Jahren den Durchbruch mit besagtem Buch. Dem folgen zwar noch mehr Romane, und er gilt von nun an als der große Autor des eigentlichen Amerika, das im Mittleren Westen verortet wird; aber sein Ruhm und seine immense Wirkung, die er auf Faulkner, Hemingway und Carson McCullers ausübt, bleiben doch stets an dieses eine, gar nicht besonders umfangreiche Werk gebunden. Es spielt in den 1890er-Jahren, also zu seinem Erscheinungsjahr 1919 bereits um eine Generation in die Vergangenheit versetzt, und darum, obwohl es wahrlich keine Idylle zeichnet, doch nicht frei von Nostalgie. Früher mag es nicht besser gewesen sein – markanter schon.
„Winesburg, Ohio“ ist ein Buch von der Passion der Einsamkeit, also von Leiden und Leidenschaft zugleich. Zwar weiß natürlich in diesem Ort mit seinen 1800 Einwohnern, Bahnhof und Pension jeder alles von jedem; aber der sonst erhältliche Trost und Ausgleich der Enge, die Gemeinschaft, fehlt hier. Man schweigt nebeneinander her, und nur gelegentlich und folgenlos explodiert so ein Dampfkessel von einem Menschen und strömt aus in langen Ansprachen, die nur scheinbar seinem Nachbarn gelten, in Wahrheit aber ins Leere gehen.
Und ähnlich steht es mit der Liebe: Auch sie erschöpft sich in einer einzigen, manchmal von Gewalt und immer von Trauer gefärbten Szene, danach sinkt alles wieder zurück ins Schweigen. Da gibt es den presbyterianischen Pfarrer, der bei der Vorbereitung seiner Predigt zufällig durchs Fenster seine junge Nachbarin erblickt, wie sie im Bett liegt und sündigerweise raucht – es erschüttert ihn mit einer ungekannten sinnlichen Gewalt. Da ist der reiche Farmer Jesse Bentley, der von Jehovah persönlich ein Zeichen erwartet und, ähnlich wie einst Abraham mit Isaak, mit seinem Sohn in die Wildnis geht, um ein Opfer darzubringen. Da wartet ein mit 27 Jahren schon verblühtes Fräulein auf ihren verschollenen Verlobten und stürzt schließlich nackt in den Regen, um sich dem erstbesten Mann, der ihr begegnet, hinzugeben – der aber, ein beschränkter Invalide, versteht gar nicht, was sie will.
Dass so das Leben der Menschen schlechthin beschaffen wäre, jeder ein isolierter, unwandelbarer Stern am Nachthimmel, stellt die kühne Behauptung des Erzählers dar. Bemerkenswerterweise hat man offenbar gerade hierin eine tiefe amerikanische Wahrheit erblickt, ähnlich wie in den Bildern, die Edward Hopper gemalt hat. Sie hat Konsequenzen für die Form des Buchs. Ein Roman im üblichen Sinn kann so nicht zustande kommen. Stattdessen erlebt der Leser zwei Dutzend vignettenhafter Porträts, die auf ihre Krise zusteuern. Untereinander verbunden sind sie vornehmlich durch die Figur des achtzehnjährigen George Willard, des Reporters vom Winesburg Eagle , häufig der zufällige Vertraute, sonst zumeist wenigstens stummer Zaungast. Ein starkes Band ist das nicht.
John Updike, auch er noch unter dem Eindruck des Werks, wenngleich bereits fühlbar distanziert, hat von dessen „unbeholfener Kraft und etwas beschränkender Merkwürdigkeit“ gesprochen, und damit trifft er etwas Wesentliches. Trotz des scheinbaren Realismus, mit dem Anderson die Umstände dieser Kleinstadt darstellt, zeigt er einen starken stilisierenden Willen, der die Unterschiede seines Personals bis auf den einen beherrschenden Zug weithin auslöscht. Da es ihm ohnehin vor allem auf das ankommt, was sie hinter der Fassade ihrer Alltäglichkeit denken, gibt er sich keine Mühe, sie durch die Art ihres Sprechens zu individualisieren. Sprechen Sie überhaupt, dann aufs Existenziellste. Das ist die Bedingung für die alttestamentarische Wucht ihrer Auftritte. Der Rhythmus des Buchs ist knapp und federnd, die Sätze nicht notwendig kurz, doch in kurzen Bögen verlaufend. Es ist ein Buch, das gewinnen muss, wenn man es vorliest.
Dem Übersetzer wird seine Aufgabe darum schwerer, als es auf Anhieb erscheinen mag. Aber es bereitet großes Vergnügen, die insgesamt drei lieferbaren Übersetzungen – neben den zwei aktuellen von Mirko Bonné bei Schöffling und von Eike Schönfeld bei Manesse hat auch Suhrkamp die schon etwas ältere von Erich Nossack vor einigen Jahren neu aufgelegt – zu vergleichen. Die verschiedenen deutschen Versionen umkreisen den Text und leuchten ihn aus, erschließen eine Tiefe und Vieldeutigkeit, die man, hätte man bloß das Original, leicht übersähe.
Aufschlussreich sind schon die Lösungen für das Inhaltsverzeichnis, das Anderson zur Sortierung seiner Figuren dient, indem er jeder ihr eigenes Stichwort zuruft. Für Helen White ist es „sophistication“, eine notorisch schwer im Deutschen wiederzugebende kulturelle Verfeinerung, die als Distinktionsmittel angewandt wird. Dass der Fall bei „Winesburg“ anders liegt, stellen alle drei Übersetzer in Rechnung: „Zeit der Reife“ (Bonné), „Erfahrenheit“ (Schönfeld), „Ernüchterung“ (Nossack). „Ernüchterung“ muss man als Ausreißer verbuchen, es interpretiert zu stark. Bei „godliness“ einigen sich Bonné und Nossack auf „Gottesfurcht“, während Schönfeld mit „Frömmigkeit“ zu sehr im Allgemeinen verbleibt – fromm sind die Europäer auch, wenigstens damals noch, aber so speziell vom Allmächtigen gepackt werden sie bloß in Amerika. Wie wäre „respectability“ einzufangen? „Anständigkeit“ (Bonné) legt den Akzent ganz ins Innere, „Ehrbarkeit“ (Schönfeld) ganz nach außen, während „Achtbare Leute“ (Nossack) das zwar gleichfalls tut, aber Ironie mitschwingen lässt, die Anderson generell fremd ist. Nossack schaltet insgesamt am selbstherrlichsten, und obwohl er nicht schlecht übersetzt, würde man ihm vieles heute wohl nicht mehr durchgehen lassen.
Hat man sich ein Stück weit mit solchen mikrologischen Betrachtungen beschäftigt, ergreift einen Dankbarkeit für diesen Luxus, den sich die deutsche Sprachgemeinschaft gönnt: ein wichtiges Buch nicht nur überhaupt hereinzuholen, sondern hierfür alternative Angebote zu unterbreiten. Englisch mag die unangefochtene Weltsprache sein, dafür wird in keine andere Sprache so viel übersetzt wie in die unsrige.
BURKHARD MÜLLER
SHERWOOD ANDERSON: Winesburg, Ohio. Eine Reihe Erzählungen aus dem Kleinstadtleben in Ohio. Herausgegeben, neu übersetzt und mit einem Essay von Mirko Bonné. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012. 310 Seiten, 22,95 Euro.
Winesburg, Ohio. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Nachwort von Daniel Kehlmann. Manesse, Zürich 2012, 301 Seiten, 21,95 Euro.
Die deutschen Übersetzungen
erschließen eine Tiefe, die man
im Original leicht übersehen kann
In sich selbst verkapselt, schweigen die Menschen vor sich hin. Und wenn sie doch mal das Wort erheben, gehen ihre Ansprachen ins Leere. So ist das hier, im Mittleren Westen, dem eigentlichen Amerika, wie es Sherwood Anderson sah.
Foto: Getty Images
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Paul Ingendaay freut sich, dass gleich zwei empfehlenswerte Neuübersetzungen zu Sherwood Andersons Erzählsammlung "Winesburg, Ohio" erschienen sind, die er als Klassiker der amerikanischen Literatur würdigt. In den zwanzig Erzählungen begegnen dem Kritiker viele resignierte Figuren, die neben der beginnenden Industrialisierung in ihrem ehemals idyllischen Dorf, auch mit ihren individuellen, traurigen Schicksalen hadern. So liest Ingendaay hier etwa von einem voyeuristischen Pfarrer, der durch ein Loch im Kirchenfenster nachts die nackten Arme einer lesenden Frau beobachtet. Insbesondere lobt der Rezensent jedoch Andersons minimalistischen Erzählstil, der ihm als Mischung aus "Bibel und Maupassant" erscheint. Während die beiden Neuübersetzungen qualitativ das gleiche hohe Niveau erreichen, sind sie sprachlich kaum zu vergleichen, berichtet der Rezensent. Die Übersetzung Eike Schönfeldts schätzt er vor allem für ihren prosaisch-schlichten Stil. Darüber hinaus verfüge die Manesse-Ausgabe über ein sehr gelungenes Nachwort von Daniel Kehlmann.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Anderson erzählt von einfachen Menschen, denen er durch seine Sprache ein unverwechselbares Leben einhaucht. Seine Figuren kann man ebenso wenig vergessen wie seine großartigen Landschaftsbilder." NDR 1 - Bücherwelt, 21.02.2012