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Die Ehe der wohlhabenden Den Haager Bürgerin Cornelie liegt in Scherben. Resigniert flieht sie nach Rom, wo sie bald Bekanntschaften schließt und eine Affäre mit dem attraktiven Patriziersohn Duco beginnt. Doch die steht von Anfang an unter einem schlechten Stern: Während er sich für die antike Schönheit der Stadt begeistert, brennt in Cornelie der Wunsch, ganz im Heute zu leben und sich schreibend von der Vergangenheit zu emanzipieren. Die Liebenden bleiben sich fremd, scheitern am ewigen Widerspruch von Kunst und Leben. Dekadenz und Pessimismus des niederländischen Bürgertums sind die Themen…mehr

Produktbeschreibung
Die Ehe der wohlhabenden Den Haager Bürgerin Cornelie liegt in Scherben. Resigniert flieht sie nach Rom, wo sie bald Bekanntschaften schließt und eine Affäre mit dem attraktiven Patriziersohn Duco beginnt. Doch die steht von Anfang an unter einem schlechten Stern: Während er sich für die antike Schönheit der Stadt begeistert, brennt in Cornelie der Wunsch, ganz im Heute zu leben und sich schreibend von der Vergangenheit zu emanzipieren. Die Liebenden bleiben sich fremd, scheitern am ewigen Widerspruch von Kunst und Leben. Dekadenz und Pessimismus des niederländischen Bürgertums sind die Themen dieses Roman, der seit über acht Jahrzehnten wieder in einer Neuübersetzung vorliegt. In ihm ist auch sein früher sozialkritischer Ansatz noch deutlich erkennbar: Als Cornelie am Ende ihr Vermögen verliert, steht ihre Ungebundenheit auf dem Spiel. Schmerzhaft werden ihr "die langen Linien der Allmählichkeit" bewusst.
Autorenporträt
Louis Couperus (1863 - 1923), Sohn einer wohlhabenden niederländisch-indischen Beamtenfamilie, verbrachte einige Jahre seiner Kindheit im heutigen Jakarta. In den Achtzigern schloß er sich den "Tachtigers" an, einer Gruppe junger Autoren, die einen revolutionären Neubeginn der niederländischen Literatur forderten.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2002

Die blitzenden Messer der Eifersucht
Päpstliche Prinzen, reiche Amerikanerinnen, schwüle Ateliers, steigende Scheidungsraten: Louis Couperus macht Rom um 1900 zur glitzernden Hauptstadt der Décadence
Cornélie de Retz van Loo ist eine selbstbewusste schöne Frau aus besten Haager Verhältnissen, doch trotz ihrer jungen Jahre – sie zählt erst 24 – hat sie schon eine Scheidung hinter sich. Der Roman „Die langen Linien der Allmählichkeit” des niederländischen Autors Louis Couperus beginnt mit der Ankunft dieser fortschrittlichen Dame in einer römischen Pension. In Rom, der sich gemach modernisierenden Kapitale, will Cornélie sich für eine längere Zeit aufhalten – das erlaubt es ihr, den Zimmerpreis bei der geldgierigen Wirtin ein wenig zu drücken. Wir befinden uns in vollem Fin de siècle, kurz vor 1900, und so sieht die Gesellschaft an der Table d’hôte des kleinen Hotels auch aus: Es ist ein europäisch-amerikanischer Tisch, an dem römische Jesuiten das Gespräch mit kunstinteressierten englischen Damen, einer deutschen Offiziersgattin samt Töchtern, einer Landsmännin von Cornélie, sowie mit der reichen Tochter eines amerikanischen Unterwäschefabrikanten suchen – nicht ohne ein geheimes Ziel, die Bekehrung dieser modernen Menschen zum Katholizismus.
Die Kühnheit der Décadence
Was sich wie das humoristische Setting für einen eleganten Konversationsroman ausnimmt, stellt sich schon bald als Ausgangspunkt für ein tragisches Lebensexperiment heraus, das der Autor mit dem Willen zur äußersten Konsequenz durch einen schicksalhaften Kreis treibt. Wir lesen heute die Bücher der europäischen Décadence mit einem neuen, fast geschwisterlichen Interesse, denn in der Zeit vor 1914 wurde so freimütig und kühn über alternative Lebensformen in Familie, Ehe und Liebe debattiert und dabei so viel ausprobiert wie erst wieder seit Mitte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Frauenemanzipation, antiautoritäre Erziehung, Befreiung der Homosexualität, freie Liebe, Promiskuität: die Themen der Hippiebewegung standen in Europa schon einmal auf der Tagesordnung, nicht zufällig in einer Zeit langen Friedens und hoher Prosperität. Was heute Alltag ist, wurde damals vorgedacht.
Der Holländer Couperus (er lebte von 1863 bis 1923) war um 1900 eine Zelebrität auch in Deutschland, als Moderner zwischen Zolaschem Naturalismus und symbolistischer Nervenkunst von glaubwürdiger Aktualität. Ihn bewegte nicht zuletzt der damals aufkeimende Feminismus, und sein jetzt neu übersetzter Roman darf als Schlüsselwerk in einer breiten, vor allem nordeuropäischen Diskussion gelten. Bezeichnend schon, wie sich der Ausgangspunkt gegenüber der vorangegangenen Welle von Frauenromanen seit Flauberts „Madame Bovary” verschoben hat. Nicht der Ehebruch in einer Zweckgemeinschaft, sondern die selbstbewusst vollzogene Scheidung nach einer gescheiterten Liebesheirat ist die Voraussetzung von Cornélies Schicksal.
Die mit duftiger Akkuratesse gemalte römische Kulisse verhilft der Erzählung zu denkbar großen Kontrastwirkungen: Rom ist der Hauptort der Tradition, einer Antimoderne, der schon alleinreisende Frauen verdächtig sind; als überzeitliche Stätte von Kunst und Schönheit ist es auch ein Widerpart des gesellschaftlichen Engagements. Reaktion und Ästhetizismus leben hier in enger Nachbarschaft, trotzdem gehen sie auf Dauer keine Verbindung ein, das macht die von Couperus uhrwerkhaft fein austarierte Handlung unmissverständlich deutlich.
Cornélie, die sich ihre römische Zeit schon bald mit der Abfassung einer Broschüre „Über die gesellschaftliche Situation der geschiedenen Frau” vertreibt, ist die Vorkämpferin alles Neuen; in ihrem Hotel trifft sie auf den holländischen Maler Duco van Staal, der ganz im Schönheitsrausch des ewigen Rom lebt und den all die emanzipatorischen Diskussionen kalt lassen; die reiche Jungamerikanerin verfällt bezeichnenderweise am widerstandslosesten dem reaktionären Zauber der alten römischen Gesellschaft – sie heiratet einen Prinzen der alten päpstlichen Aristokratie, dessen maroden Finanzen die Unterwäschemillionen aus der Neuen Welt aufs glücklichste aufhelfen. Cornélie und Duco entwickeln sich nach zuerst recht kratzigen Debatten über Kunst und Engagement zu einem perfekten Paar; sie gewinnt ihn für die Frauenbewegung, er begeistert sie für Rom. Dem Künstler Duco gelingt durch die Teilnahme an einer modernen Tendenz auch ästhetisch etwas Neues: Er malt ein friesartiges Bild mit den Marschkolonnen von Frauen, „die sich aus der säulenförmig einstürzenden Nacht zur Stadt aus lauter neuem Glitzern und aufleuchtenden Glashallen hin” bewegen – eine Ikone des Fortschritts, die in einer Londoner Ausstellung mit Erfolg bestehen kann.
Cornélie zieht zu Duco ins Atelier, eine täubchenhafte Bohème-Idylle entsteht, eine papierlose Ehe, der Rechtsform zu geben Cornélie mit auffälliger Nervosität zurückweist.Die junge Amerikanerin dagegen muss die Höllen einer konventionellen Ehe mit ihrem römischen Prinzen, einem rücksichtslosen Macho, durchleiden, und allein ihr praktischer Sinn und ihr gutes Gemüt lassen sie die Demütigungen in der neuen, mumienhaften Umgebung überleben.
Cornélie reist, zunächst allein, auf den mittelalterlichen Stammsitz des Prinzen, und diese Zeitreise ins Retrograde führt die Erzählung von Couperus auf fast lampedusahafte Höhen. Er malt nicht nur glühende Hitzelandschaften, durch welche die kleinen Blechkisten der Eisenbahn klappern, sondern findet auch grandiose Bilder für die spinnwebhaft stickige Atmosphäre im Schloss: „In der Stille aß man die Suppe, während drei Diener regungslos dastanden. Die Löffel tickten gegen das Porzellan, und die Marchesa schmatzte. Die Leuchter klimperten hin und wieder, und von der Decke fiel drückender Schatten, als verdunstete Samt.”
Die gestempelte Frau
Hier wird es dann etwas kolportagehaft, der Prinz hat ein Auge auf die verlockend emanzipierte Schöne geworfen, ein Überwältigungsversuch wird mit Ohrfeigen beantwortet, und als Duco endlich nachkommt, blitzen in einer Mondnacht die Messer der Eifersucht. Doch nicht diese malerischen Verwirrungen sind es, die die Lebenslinie der schönen Cornélie auf grausamste Art wieder an ihren Ausgangspunkt zurückzwingen. Im Verkehr mit Duco, mit dem römischen Prinzen und seiner amerikanischen Frau hatte Couperus das sieghafte Selbstbewusstsein seiner Heldin in denkbar provozierenden Zügen gezeichnet. Sie wettert, wo sie nur kann, gegen die Ehe und straft die männlichen Schürzenjäger mit kalter Verachtung. Bald aber gedeiht auch Zweifel in ihr, ein Zweifel, den die Kunst sät.Sie muss feststellen, dass ihre Broschüre nur persönliche Erfahrungen verallgemeinert hatte, dass sie aus Verbitterung und Zorn schrieb, nicht aus Einsicht und Überzeugung – diese Qualitäten erkennt sie nur noch in den Symbolfrauen ihres Malerfreundes. Der Roman spielt etwas aufdringlich mit der titelgebenden Metapher der Linie („lijn”), die im Niederländischen nicht nur die Lebensbahn, sondern auch die Leine, an der man geführt wird, bezeichnen kann. Diese Linie ist etwas unwillkürlich sich Entwickelndes, oft eine Arabeske, immer etwas ganz Individuelles, sodass zwei Lebenslinien sich zwar treffen, eine Weile zusammenlaufen, aber nicht auf Dauer beieinander bleiben können. Solche schicksalhafte Notwendigkeit fasst Couperus, wiederum ein wenig überprogrammatisch, als „Allmählichkeit” – das absichtslose, in kleinsten unmerklichen Schritten sich vollziehende Geschick, im Grunde eine ästhetizistische Variante des Unbewussten.
Allmählichkeit ist auch ein Darstellungsprinzip, ein nervöses Gleiten, das dieser wunderbare Romancier vor allem in den Dialogen mit großer Kunst vorführt. Nicht umsonst schwärmt er von den „Dunstschleiern der Traumatmosphäre” in Ducos Aquarellen, „die an das Beste von Turner erinnern”. Umso erschreckender wirkt es, wenn im letzten Viertel solche Zartheit fast abrupt verschwindet. Cornélie muss sich aus Geldnot als Gesellschaftsdame in Nizza verdingen – bei einer reichen Neunzigjährigen, die mit bröckelnder Schminke die Illusion der Jugend gewaltsam aufrecht erhält – und in der Haute Volée des südfranzösischen Badeorts trifft sie wieder auf ihren geschiedenen Mann.
Wie dieser Mensch, ein gut aussehender Offizier, gut aussehend im brutalen Fach, das Luftgebäude von Cornélies Emanzipation samt freier Malerliebe wegpustet, das verrät gerade im ästhetischen Misslingen viel von der persönlichen Not des Autors (der den Roman später als überholt abtun wollte). Die Figur von Cornélies Mann stellt mit peinlicher Direktheit die offenbar ins Sadomasochistische spielenden, homoerotischen Obsessionen von Couperus (der eine unglückliche Scheinehe mit seiner Cousine führte) aus; dieser Mann holt sich die abtrünnige Frau zurück, und wie? Durch ein angebliches archaisches Gesetz, das eine erotisch von einem Mann initiierte („gestempelte”) Frau diesem für alle Zeit unterwirft, durch einen Naturzwang also, gegen den Kunst, Emanzipation, freie Liebe nichts vermögen. Ist es Hohn, ist es Verzweiflung, was Couperus zu dieser Wendung veranlasste? Die Forschung nennt seinen Roman antifeministisch. Ach, es könnte auch Angst gewesen sein, was ihn zu dem dramatischen Abbruch seiner Geschichte führte. Aufregend bleibt das Buch auf jeden Fall: ein feines Aquarell, das der Künstler in einem Akt der Selbstzerstörung brutal durchgestrichen hat – modern eben.
GUSTAV
SEIBT
LOUIS COUPERUS: Die langen Linien der Allmählichkeit. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Nachwort von Carel ter Haar. Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 2002. 480 Seiten, 22,90 Euro.
Ermattet ruht die Schöne, und es scheint ein anatomischer Zufall, dass ihr die Feder nicht aus der Hand fällt. Lawrence Alma-Tademas Gemälde entnehmen wir Francoise de Bonnevilles „Buch vom Bad” (Rolf Heyne Verlag, 35 Euro).
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Muß ich Rom mögen?
Louis Couperus beunruhigt noch heute / Von Joachim Kalka

Der Manesse Verlag legt einen Band aus dem umfangreichen Werk von Louis Couperus (1863-1923) vor. Die Versuche, den Autor in den letzten Jahren den deutschen Lesern vorzustellen, waren wenig erfolgreich. Daß es diesem Buch anders erginge, wäre zu hoffen. Couperus, dessen Vater als Regierungsbeamter auf Java tätig war, verbrachte dort fünf Jahre seiner Kindheit und Jugend; eine lebenslange Neigung zum Exotismus, der als Trumpfkarte gegen die honette Bourgeoisie seiner Heimat ausgespielt wurde, mag mit diesem frühen Erleben zusammenhängen. Sein erster Roman jedoch, nach dessen großem Erfolg 1889 der Autor seinen Lehrerberuf aufgeben konnte, war eine realistische Gesellschaftsschilderung aus seiner Heimatstadt Den Haag. Fortan wechselten sich in dem umfangreichen OEuvre Realismus und Exotik ab - letztere gerne im Bunde mit einer phantastisch überhöhten Antike: Heliogabal, Alexander. In glücklichen Momenten nähert sich das Schaffen Couperus' jener eigenartigen Synthese aus exaktem Naturalismus und phantastischem Symbolismus, wie sie in jener Zeit vor allem auf dem Theater sichtbar wird.

Mit einem - größeren - Zeitgenossen wie Thomas Hardy sowie mit den französischen Naturalisten teilt Couperus ein fasziniertes Interesse am "Schicksalhaften". Während manche früheren Werke noch eine Art Zolaschen Determinismus zugrunde legen, wird dann das Thema komplexer (und vielleicht wirklich in gewisser Weise "orientalischer"): Der Zwang, der uns beherrscht, ist nicht weniger lähmend, aber es bleibt unbegreiflich - es können nicht mehr irgendwelche biologistischen oder milieutheoretischen Hilfskonstruktionen zu seiner Erklärung bemüht werden. Er dominiert als ungelöste Frage. Der deutsche Titel des nun in einer guten Übersetzung vorgelegten Werkes - "Die langen Linien der Allmählichkeit" - ist eine schöne, treffsichere Abwandlung des etwas anders lautenden Originals: "Langs lijnen van geleidelijkheid" ("Die Linien der Allmählichkeit entlang"). Diese Formulierung schlägt das Zentralthema an, das sowohl in den Gesprächen der Romanfiguren wie in der Reflexionsprosa des Autors immer wieder anklingt: Wie finden die Menschen die "Linie" ihres Lebens? Der Begriff scheint naiv, aber er changiert doch recht komplex zwischen der Idee des sinnvollen Lebensplans; der Vorstellung von einer gültigen Form, die dem Wesen des Individuums entspricht; und so etwas wie der charakteristischen, befriedigenden Kontur der (ästhetisch aufgefaßten) Existenz. Der Gegensatz zur konsequent und unverwandt verfolgten Linie ist die Arabeske. Als das geheimnisvolle Prinzip, das Linien vorgibt, die nicht unsere sind, denen wir aber doch folgen, mag die "Allmählichkeit" gelten.

Insofern nimmt der durchaus realistische, das heißt mit gesellschaftlicher Realität (und etwas sensationeller Zufälligkeit) gesättigte Roman symbolistische Züge an. Er inszeniert den in der Literatur seiner Epoche beliebten Gegensatz zwischen den Welten des Nordens und des Südens mit einem ironischen Tableau des Tourismus: Die Heldin, eine junge, schöne, geschiedene Haagerin, begegnet in Rom einem Repertoiretheater von altbekannten Figurinen: spleenige Engländerin, intriganter Jesuit, naive amerikanische Erbin, verträumter Ästhet, verführerischer aristokratischer Mitgiftjäger. Doch ihr den Leser mit seltsamen Peripetien überraschendes Hin und Her zwischen den Männergestalten, ihre Kapitulation an der Brust des brutalen Ex-Ehemanns sind angelegt als Demonstration einer Unbegreiflichkeit, welche diese emanzipierte Frau (die sich in den ersten Kapiteln hinsetzt und eine politische Broschüre schreibt) einholt.

Die Lektüre dieses hundert Jahre alten Romans, der soviel von der Atmosphäre seiner verschollenen Moderne hat und so vertraut und so altmodisch wirkt, hat etwas unerwartet Bewegendes. Die Wiederkehr des vertrauten, banalen, unzufriedenen Kummers, dem man in der Gegenwart von Angesicht zu Angesicht mit einem Achselzucken begegnen würde, ist im Kostüm von 1900 beunruhigend. Er ist nicht "zeitlos", aber er gehört unabgegolten zur longue durée einer Neuzeit, in der als die "aktuellen Fragen" benannt werden: der Feminismus, der Sozialismus, der Friede. Können wir die Vergangenheit begreifen? Die Frage wird im Roman zwischen den Ruinen Roms immer wieder quasi gereizt gestellt; der Romananfang enthält eine hübsche Schilderung der schuldbewußten Irritation einer Rom-Touristin, der die Ewige Stadt gleichgültig bleibt. Der Roman legt die Frage nach einem Jahrhundert dem heutigen Leser wieder vor und wird selbst zu ihrem Gegenstand: Können wir seine Vergangenheit, die Vergangenheit seines Publikationsdatums 1900 noch begreifen? Sie ist uns sehr nahe, eine Lektüre des ein wenig unbeholfenen, ein wenig unheimlich-ratlosen Romans führt es dem Leser vor.

Louis Couperus: "Die langen Linien der Allmählichkeit". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens. Manesse Verlag, Zürich 2002. 479 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Joachim Kalka hoff inständig, dass dieses Buch mehr Leser findet als die anderen in den vergangenen Jahren ins Deutsche übersetzten Bücher von Louis Couperus. Der Autor beschäftigte sich 1900 mit der Frage, wie und ob jeder seine Lebenslinie finden kann, ob es eine "Idee des sinnvollen Lebensplans" überhaupt gibt. Couperus schickt dazu seine emanzipierte Heldin nach Rom, wo sie eine Reihe "altbekannter Figurinen" trifft, um dann doch wieder bei ihrem brutalen Ex-Ehemanns zu enden. Für Kalka nimmt dieser mit "gesellschaftlicher Realität (und etwas sensationeller Zufälligkeit) gesättigte Roman symbolistische Züge" an, indem Couperus auf ein geheimnisvolles Prinzip verweist, das Lebenslinien vorgibt, "die nicht unsere sind". Die Grundfrage des Buches wirkt "so vertraut und so altmodisch" und hat damit etwas "unerwartet Bewegendes". Dass sie noch immer ungelöst bleibt, zeige dieser "ein wenig unheimlich-ratlose" Roman, so der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH"
«Was sich wie das humoristische Setting für einen eleganten Konversationsroman ausnimmt, stellt sich schon bald als Ausgangspunkt für ein tragisches Lebensexperiment heraus, das der Autor mit dem Willen zur äußersten Konsequenz durch einen schicksalhaften Kreis treibt. Wir lesen heute die Bücher der europäischen Décadence mit einem fast geschwisterlichen Interesse, denn in der Zeit vor 1914 wurde so freimütig und kühn über alternative Lebensformen in Familie, Ehe und Liebe debattiert und dabei so viel ausprobiert wie erst wieder seit Mitte der 1960er Jahre. Frauenemanzipation, antiautoritäre Erziehung, Befreiung der Homosexualität, freie Liebe, Promiskuität: die Themen der Hippie-Bewegung standen in Europa schon einmal auf der Tagesordnung.» Süddeutsche Zeitung