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Was bedeuten die großen gesellschaftlichen Brüche der vergangenen 150 Jahre für ein Wiener Stadtviertel? Auf der Spurensuche in dem ursprünglich sozial und wirtschaftlich stark durchmischten Bahnhofsviertel begegnen wir unterschiedlichen Milieus, der Geschichte einer jüdischen Familie von der Zuwanderung über die Vertreibung bis zu ihren Bemühungen um Restitution, der Karriere eines NS-"Ariseurs" ebenso wie dem sozialdemokratischen Nachkriegsmilieu und der ab den 1960er Jahren erfolgten Abwanderung der jungen erwerbstätigen Generation, die Platz macht für die Zuwanderung ausländischer…mehr

Produktbeschreibung
Was bedeuten die großen gesellschaftlichen Brüche der vergangenen 150 Jahre für ein Wiener Stadtviertel? Auf der Spurensuche in dem ursprünglich sozial und wirtschaftlich stark durchmischten Bahnhofsviertel begegnen wir unterschiedlichen Milieus, der Geschichte einer jüdischen Familie von der Zuwanderung über die Vertreibung bis zu ihren Bemühungen um Restitution, der Karriere eines NS-"Ariseurs" ebenso wie dem sozialdemokratischen Nachkriegsmilieu und der ab den 1960er Jahren erfolgten Abwanderung der jungen erwerbstätigen Generation, die Platz macht für die Zuwanderung ausländischer Migrantenfamilien. Die soziale Dynamik im engen nachbarschaftlichen Zusammenleben zieht Spannungen und Konflikte nach sich, wobei in jüngster Zeit ein urbaner Modernisierungs- und Aufwertungsprozess sichtbar wird. Die AutorInnen:ORätin Dr. Evelyn Klein, geb. 1949, Studium der Soziologie und Politikwissenschaften an der Universität Wien, seit 2004 stellvertretende Leiterin der Abteilung "Stadt, Region und räumliche Entwicklung" an der Universität Klagenfurt, Leitung von interdisziplinären Forschungsprojekten zu Fragen der sozialen Integration in der Stadt, Stadt und Migration sowie dem Sozialen Wandel. Laufende Lehrtätigkeit am IFF sowie an der Universität für angewandte Kunst in Wien.Dr. Gustav Glaser, geboren 1946, Studium der Soziologie, seit den 1970er Jahren in der Jugendarbeit tätig, pädagogischer Betreuer, Jugendzentrumsleiter, Projektleiter, Betriebsratsobmann im Verein Wiener Jugendzentren.
Autorenporträt
ORätin Dr. Evelyn Klein, geb. 1949, studierte Soziologie und Politikwissenschaften an der Universität Wien, seit 2004 arbeitet sie als stellvertretende Leiterin der Abteilung "Stadt, Region und räumliche Entwicklung" an der Universität Klagenfurt. Sie leitet interdisziplinäre Forschungsprojekte zu Fragen der sozialen Integration in der Stadt, Stadt und Migration sowie dem Sozialen Wandel.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.12.2007

Solidarität und Niedertracht
Die Geschichte des Wiener Nordbahnviertels
Eine „bessere” Gegend war es wohl nie, das Nordbahnviertel in der Leopoldstadt, dem zweiten Wiener
Gemeindebezirk. Entstanden in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts auf dem durch die Donauregulierung gewonnenen Grund, war es bis zur NS-Zeit
ein multikulturelles Zuwandererviertel. Auch heute hat es einen hohen Anteil an Migranten. Wie haben sich das Gesicht dieses Viertels und seine inneren sozialen Beziehungen mit den sich wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen verändert? Dieser Frage geht das Buch von Evelyn Klein und Gustav Glaser nach.
Zentral für das Leben im „Grätzel” – so nennt man ein Stadtquartier in Wien – war die Fertigstellung der Nordbahn, der wichtigsten Strecke der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die neuen Bahnhöfe waren Tore zur Welt. Nicht umsonst galt der Nordbahnhof als „Empfangssalon der Monarchie”: Hier trafen zahllose Zuwanderer aus den Teilen des Kaiserreiches ein – unter ihnen viele Juden. Nicht wenige ließen sich im Nordbahnviertel nieder.
Ihre Existenz war geprägt von beengten Wohnverhältnissen und dem Kampf ums tägliche Überleben. Führten die Armut und das dichte Miteinander einerseits zur Ausbildung solidarischer Strukturen und sozialer Netzwerke, so waren sie auch ein Nährboden für Neid und Niedertracht. Mit dem unspektakulären Alltagsleben war es 1938, nach dem „Anschluss” Österreichs, vorbei. Die antijüdischen Ausschreitungen nahmen hier besondere Ausmaße an. Klein und Glaser illustrieren diese Ereignisse auch anhand von Einzelschicksalen – Biographien von Tätern und Verfolgten. Etwa jener des Parteigenossen Franz Krapmaier, eines kleinen „Ariseurs”. Krapmaier nutzte die Gunst der Stunde dazu, um am Volkertmarkt eine Fischhalle einzurichten. In seinem Gesuch an die Behörden verwies er nachdrücklich auf seine Beteiligung am gescheiterten nationalsozialistischen Putsch vom Juli 1934 sowie an der Liquidierung jüdischer Unternehmen seit dem Anschluss. Ganz anders klang dann alles nach dem Krieg: In einem gegen ihn eingeleiteten Verfahren, das rasch eingestellt wurde, bestritt Krapmaier jegliche Beteiligung an den Verbrechen und berief sich darauf, stets „ordentlich nach dem Recht des NS-Staates gehandelt” zu haben.
Der 1878 gegründete Volkertmarkt spielt in diesem Buch eine Schlüsselrolle. In seiner Geschichte widerspiegeln sich nicht nur viele Entwicklungen des Viertels, sondern auch die großen politischen Brüche in verdichteter Form. Entwicklungen nahmen hier ihren Ausgang, die schließlich weit über diesen begrenzten Raum hinaus ausstrahlten. So hatte sich die NSDAP-Ortsgruppe „Volkertplatz” während der NS-Zeit nicht nur durch ihren besonders rabiaten Antisemitismus, sondern auch durch eine Vorreiterrolle bei den „wilden Arisierungen” hervorgetan. In der jüngeren Vergangenheit haben Ereignisse um den Volkertmarkt – diesmal Konflikte um die Nutzung des öffentlichen Raumes – einen Prozess der Modernisierung und Aufwertung des Viertels eingeleitet. Wieder hatten diese Auseinandersetzungen mit der Präsenz einer Minderheit zu tun – diesmal mit den Zuwanderern aus der Türkei und dem früheren Jugoslawien.
„Peripherie in der Stadt” ist das Ergebnis einer akribischen Spurensuche, die sich auf einen Mikrokosmos innerhalb einer mitteleuropäischen Großstadt konzentriert. Eindringlich wird erzählt und analysiert, wie sich ein Viertel mit seinen Besonderheiten im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten gewandelt hat, vor allem aber auch, in welcher Weise die großen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen das Zusammenleben der Menschen beeinflusst haben. Es wird gezeigt, wie sich durch Flucht und Deportation der jüdischen Bevölkerung die demographischen und sozialen Strukturen auf nachhaltige Weise veränderten; wie die Bahnhöfe durch die kriegsbedingten Zerstörungen, aber auch die Errichtung des „Eisernen Vorhangs” nach 1945 ihre Bedeutung verloren und wie sich dies auf den Charakter des „Grätzels” und seine Funktion für die Stadt ausgewirkt hat; oder wie durch die Errichtung großer kommunaler Wohnsiedlungen am Stadtrand in den späten 60er Jahren eine massive Abwanderung eingesetzt hat und die dadurch freigewordenen Substandardwohnungen nach und nach von Migranten übernommen worden sind.
„Peripherie in der Stadt” ist ein Buch, das man immer wieder gerne zur Hand nimmt. Dazu verleiten auch die zahlreichen Illustrationen – Photographien von damals wie heute –, die Auszüge aus Interviews sowie die kurzen literarischen Texte. GABRIELE ANDERL
EVELYN KLEIN / GUSTAV GLASER: Peripherie in der Stadt. Das Wiener Nordbahnviertel – Einblicke, Erkundungen, Analysen. Studienverlag, Innsbruck – Wien – Bozen. 160 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dieses Buch nimmt sich Gabriele Anderl "immer wieder gern" vor. Ausschlaggebend dafür sind für sie nicht nur die vielen Illustrationen, Interviewauszüge und literarischen Texte, mit denen die Herausgeber Evelyn Klein und Gustav Glaser die Geschichte des Wiener Nordbahnviertels dokumentieren. Aus den in "akribischer Spurensuche" rekonstruierten Einzelschicksalen und Schlüsselrollen bestimmter Orte und Personen (Volkertmarkt, Franz Krapmaier) liest sie die innerstädtische Funktion des Viertels, aber auch die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, vom Ende des 19. Jahrhunderts, über den Nationalsozialismus, bis heute, heraus. "Eindringlich erzählt und analysiert", wird der Mikrokosmos eines mitteleuropäischen Großstadtviertels vor den Augen der Rezensentin zum Spiegel der Zeiten.

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