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Auf einem Floß, umgeben von seinen toten Verwandten, treibt der Erzähler zwischen Gegenwart und Vergangenheit, von New York, wo er 1940 im rettenden Exil gelandet war, zurück in seine Heimatstadt Wien und zugleich von Wien nach New York. Das Floß der Traumfahrt passiert die Jahre des Ersten Weltkrieges, die Zwischenkriegszeit, die letzten Jahre vor dem 'Anschluß' Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland. Erinnert wird die Jugend in einer bürgerlichen jüdischen Familie im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre - erinnert wird eine Familie, die sich zumindest dann einig war,…mehr

Produktbeschreibung
Auf einem Floß, umgeben von seinen toten Verwandten, treibt der Erzähler zwischen Gegenwart und Vergangenheit, von New York, wo er 1940 im rettenden Exil gelandet war, zurück in seine Heimatstadt Wien und zugleich von Wien nach New York. Das Floß der Traumfahrt passiert die Jahre des Ersten Weltkrieges, die Zwischenkriegszeit, die letzten Jahre vor dem 'Anschluß' Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland. Erinnert wird die Jugend in einer bürgerlichen jüdischen Familie im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre - erinnert wird eine Familie, die sich zumindest dann einig war, entschlossen das Leben guter Bürger weiterzuführen, ungeachtet aller Zeichen der wachsenden Bedrohung und des Untergangs ihrer Welt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.1999

Schiffbruch mit Bürgern
Adolf Placzek begibt sich auf eine "Traumfahrt mit der Familie"

Auf stürmischer nächtlicher See treibt ein Floß. Es trägt verlorene Wiener Juden durch die Zeit zwischen 1913 und 1939. Mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 zerbrach ihre Welt aus Illusionen und Prätentionen. Danach wurden sie rasch zu durchsichtigen Gestalten, "Schatten, Totenvögel, Gespenstern". Einige von ihnen "tragen Heiligenscheine, weil sie Blutopfer waren". Andere starben noch rechtzeitig vor dem "Weltuntergang". Alle Passagiere sind tot, außer dem Erzähler, der auf diesem Floß noch einmal seine Familie versammelt.

"Erinnern ist zu intim", schreibt Adolf Placzek, der 1913 in Wien geborene große alte Herr der Architekturgeschichte in Amerika. Späte Erinnerung ist zudem ungenau und kommt dem Traum oft ins Gehege. Placzek bedient sich darum für seine Memoiren eines metaphorischen Vehikels, der Traumfahrt der Toten durch das Meer der Zeit. Es ist eine pessimistische Wahl, denn Placzek trauert um die Zerschlagung der eigenen Familie und um die Idee des Bürgertums, wie sie in begüterten jüdischen Familien oft vorbildlich verkörpert war. "Das eine ist sicher", schreibt er, "solche hoffnungslos liebenden Bürger wie uns wird es nicht mehr geben." Selbst wenn im Einzelnen die Rettung des nackten Lebens gelang, so ist doch insgesamt durch den Triumph der Nazi-Barbarei eine Facette der Kultur endgültig vernichtet worden. Auf dem Floß treiben mit den Wiener Juden auch die bürgerlichen Tugenden heimatlos dahin.

Placzeks Porträt seiner Familie ist durch die große zeitliche Distanz im Einzelnen traumhaft verwischt, im Ganzen jedoch als Darstellung eines bürgerlichen Typus gestochen scharf. Das Geld in der Familie hatten schon die Großväter und Urgroßväter verdient. Auf dem scheinbar soliden Fundament materieller Sicherheit erwarb man sich Bildung und distanzierte sich von den unteren sozialen Schichten. "Zudringlichkeit galt in unseren Kreisen als ein schrecklicher Verstoß. Nur Plebejer waren zudringlich." Man legte Wert auf Tüchtigkeit und Selbstdisziplin, Ehrenhaftigkeit und Wahrung der Form. Eine ältliche Tante regierte als "arbiter elegantiarum" und befand darüber "wie man Gabel und Messer hielt, knickste oder sich verbeugte oder gar die Hand von ungeliebten alten Damen küßte und wie man sich auf einen Sessel setzte". Es wurde unfein, über Geld zu sprechen, und man sah auf die Brünner Verwandtschaft herab, die ja auch ab 1918 zum Ausland gehörte. Man liebte den Kaiser und schickte Söhne in den Ersten Weltkrieg. Als sie fielen, jammerte man nicht; vor Fremden hatte man sich im Griff.

Zum Judentum bekannte man sich pro forma und legte weit größeren Wert auf gepflegtes Deutsch. Man sprach "mit wohlwollender Ehrerbietung von Schriftstellern, nein, von Dichtern namens Schnitzler und Hofmannsthal" und glaubte an sie als Neuerer, wo sie doch wirklich "letzte Leute" waren.

Ende der zwanziger Jahre wurde auch die Politik zum unfeinen Gesprächsgegenstand. Im Jahr 1932 ging in Deutschland die "Zwischenzeit" zu Ende. "Das Unabsehbare stand vor der Türe. Es schrie seine heiseren Schreie in alle Straßen und selbst im Reichstag. Verrecke, schrie es, Juda verrecke. Das war eine unfeine Ausdrucksweise. Das Unabsehbare stand in Deutschland vor der Türe, doch die Türen der Bürgerhäuser, deren Einwohner verrecken sollten, wurden in Wien noch immer von Stubenmädchen geöffnet."

Die bürgerlichen Tugenden machten blind und taub für die unziemliche politische Realität. "Mit dem blutigen Schrecken kann nur die alltäglichste Sprache fertigwerden, wenn man zur Familie gehören will und nicht ein ausgestoßener gegeißelter Bote der unaussprechlichen Wahrheit sein will. Nur mit der alltäglichen Treue zum eigenen schnell schwindenden Da- und So-Sein kann man mit dem blutigen Schrecken fertigwerden, und so wurde resolut weitergemacht, und niemand bereitete sich auf irgendeine Flucht vor, niemand schaffte Geld ins Ausland, und niemand lernte Englisch."

Die dreißiger Jahre wurden die "Jahre des Verschweigens". Placzek machte 1931 Abitur, studierte auf geheiß des Stiefvaters Medizin, versagte in den Anatomie- und Physiologieprüfungen und wechselte 1934 zur Kunstgeschichte, wo er sich schnell auszeichnete. Vier Jahre später war die Traumfahrt des Bürgertums zu Ende. "Was in Küchen und Kammern geflüstert worden war, brach am Tag des Anschlusses aus vollen Kehlen. Es war der größte Lärm, den Wien je gehört hatte: das Brüllen von hunderttausend jubelnden Menschen, und die an jenem Tag nicht mitjubelten, waren die einsamsten Menschen der Welt." Mit dem Einzug der Braunhemden verabschiedete sich die bürgerliche Kultur. "Über Nacht hörte das Stubenmädchen auf, meine Mutter mit Gnädige Frau anzusprechen. Sie war einfach Frau Eisler." Über die eskalierende Entwürdigung der jüdischen Bürger regte sich niemand auf. Zunächst scheuerten die Juden noch auf Knien liegend mit Zahnbürsten die Gehsteige. Dann verschwanden sie in Viehwagen gepfercht Richtung Osten. Die Traumreise endete im Gas oder in der Flucht und findet nun ihre Fortsetzung auf dem nächtlichen Totenfloß der Erinnerung. Adolf Placzek gelingt die Flucht nach England. Von dort reist er während des Krieges in die USA. Placzeks Mutter, eine große Dame in Wien, wird 1940 Putzfrau in New York.

Auf dem Totenfloß reist auch ein zudringlicher Fremder, der Zukünftige Mensch. Er ist ein Plebejer und spricht vom Sieg des wissenschaftlichen Denkens über die "heuchlerische Magie" der großbürgerlichen Kultur. Doch dem Erzähler wird weh ums Herz beim Gedanken, dass das Großkapitel nun "ganz nackt und brutal ohne diese mittleren Bürger mit ihren Masken und Möbeln und Musiken und Schönheiten und Ehrbegriffen auskommen" kann. Über dem Floß dämmert der Morgen. "Bin ich sie nun los, die Bürde von Trauer und Heimat, die Bürde von Liebe und Schuld?", fragt sich Placzek, als die Schatten verblassen. In diesem poetischen Buch hat er sie uns vermacht, denn die Zukunft braucht Vergangenheitsträume.

SUSANNE KLINGENSTEIN

Adolf Placzek: "Traumfahrt mit der Familie". Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 80 S., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

In einer Doppelrezension bespricht Hans Christian Kosler zwei Bände von Adolf Placzek, der Wien 1939 verlassen musste und in den USA später eine renommierte Architekturbibliothek aufbaute. Beiden Texten gemeinsam ist nach Kosler eine ausgesprochen tiefe Melancholie.
1.) Adolf Placzek: "