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Lehmanns Essays, so Theodor W. Adorno, bleiben "nirgends bei einer beschränkten, sei´s auch noch so tiefen Aussage stehen", sondern sie erinnern sich "an den Doppelcharakter einer jeden".
Der vorliegende Band enthält, thematisch gegliedert, den Großteil des seit den dreißiger Jahren bis zum Tod des Autors 1968 entstandenen essayistischen Werks.
"Unbeirrbarer Ernst in Bezug auf die Dinge der Literatur, ... tiefe Strenge in Bezug auf Qualität und Leistung."
Gottfried Benn über Wilhelm Lehmann

Produktbeschreibung
Lehmanns Essays, so Theodor W. Adorno, bleiben "nirgends bei einer beschränkten, sei´s auch noch so tiefen Aussage stehen", sondern sie erinnern sich "an den Doppelcharakter einer jeden".

Der vorliegende Band enthält, thematisch gegliedert, den Großteil des seit den dreißiger Jahren bis zum Tod des Autors 1968 entstandenen essayistischen Werks.

"Unbeirrbarer Ernst in Bezug auf die Dinge der Literatur, ... tiefe Strenge in Bezug auf Qualität und Leistung."

Gottfried Benn über Wilhelm Lehmann
Autorenporträt
Lehmann, WilhelmWilhelm Lehmann wurde 1882 in Puerto Cabello, Venezuela, als Sohn eines Auswanderers geboren; als Dreijähriger kehrte er mit seiner Mutter nach Deutschland zurück. Er studierte neuere Sprachen, Philosophie und Naturwissenschaften, promovierte 1905 zum Dr. phil. und wurde dann Lehrer, u. a. an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, im »Landschulheim am Solling« bei Holzminden und an der Realschule Eckernförde, von 1923 an bis zu seiner Pensionierung in Eckernförde. 1923 erkannte Alfred Döblin Lehmann (zusammen mit Robert Musil) die höchste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik zu, den Kleist-Preis. Wilhelm Lehmann starb 1968 in Eckernförde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2000

Auf den Menschen reimt sich die ganze Natur
Wilhelm Lehmanns autobiografische und vermischte Schriften / Von Ludwig Harig
„Früh lernte ich die Einrichtungen der Menschen hassen und verzehrte mich nach Freiheit, wie ich es noch heute tue. ” Dieses Bekenntnis eines elementaren Anarchismus aus einer biografischen Notiz des Dichters Wilhelm Lehmann ist für mich das Leitmotiv der autobiografischen und vermischten Schriften des achten Bandes seines, bei Klett-Cotta erscheinenden Œuvres. Wer war Wilhelm Lehmann, ein bedeutender, doch fast vergessener Schriftsteller der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts? Literaturwissenschaftler und -kritiker, vor allem aus der politisch engagierten Ecke, haben viel Kontroverses über ihn geschrieben, doch keiner hat wohl das, vom anfangs zitierten Leitwort geprägte, Werk des Dichters genauer beschrieben, als Kurt Pinthus 1917: „Ihm ist alles, was auf Erden lebt und sich ereignet, gleichwertig; ob Mensch oder Blume, ob Idee oder Wind – alles wird mit gleicher fantastischer Inbrunst umfasst und zur möglichst sinnfälligen Darstellung gebracht . . . Alles Geschehen zwischen Himmel und Erde wird durchaus vegetativ geschildert. ”
Lehmann, Zeit seines Lebens in der schwächeren Position des Einzelgängers – ob als avantgardistischer Lehrer, als desertierter Frontsoldat, als problematischer Staatsbürger oder gruppenfeindlicher Schriftsteller – hat sich nie vorgedrängt, nie Aufsehen erregt, nie Jünger um sich geschart. 1882 in Venezuela geboren, 1968 in Eckernförde gestorben, hat der sensible, jeder Ideologie abholde Mann, seinen Beruf als Berufung begriffen und ist, unfähig zu Kompromissen, seinen Weg des verkannten Außenseiters gegangen. Er war leidenschaftlicher Verfechter der Arbeitsschule, radikaler Vertreter einer aus sich selbst wirkenden Poesie, Grüner vor allen Grünen. Davon zeugen beispielhaft seine autobiografischen Skizzen, seine poetischen Darstellungen, pädagogischen Aufsätze, Geleitworte, Rezensionen, Fragen auf fix und fertige Antworten, Antworten auf neugierige Umfragen: 850 Druckseiten, von denen mir keine einzig überflüssig scheint.
Sorge ums Weltvokabular
Anmut des Besonderen. Charme des Außergewöhnlichen entführen den Leser in eine Welt, die, aus sorgsam erwogener Sprache gemacht, die vorhandene Wirklichkeit neu schafft. Realität in ein zweites Dasein überleitet. Im Bukolischen Tagebuch, von 1927 bis 1932 in der, bei Ullstein erschienenen Sonntagszeitung Die Grüne Post abgedruckt, lesen wir, ohne Fantasie gebe es keine Wirklichkeit: Hier feiert die mächtige Natur mit ihrer unbarmherzigen Lehre von Leben und Sterben ihr heidnisches Fest. Man liest von ergrauten Disteln und zottigen Klettenköpfen, vom regenwurmroten Stengel der Kuhblume und vom Maßliebchen, dem ewig Schönen, liest von des Kuckucks Wesen, des Kuckucks Fantasie, von Leib und Moral der Kreatur, die noch unbegriffen und unbeschrieben unserer Willkür ausgesetzt sei. „Jede Art Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenklang aller Wesen sich heraufarbeitet”, lesen wir über die Fledermaus.
Wir lesen, wie der Dichter auf einem seiner bukolischen Spaziergänge einen jungen Igel, seiner Herkunft nach „ein ganz altes Tier und wehrlos gegen die Welt der Maschine”, vor den Autoreifen der nahen Chaussee rettet, und immer wieder lesen wir vom Kuckuck, dem rätselumspukten Zaubervogel, dessen Ruf „Frag mir nicht nach!” stets wie aus verschollener Weite töne. Das heidnische Fest gründet sich in der Mythe: Im rasenden Gewisper der Mückenschwärme erscheint der Säbelschnäbler aus dem Lande der Scheherazade, das nirgendwo und überall liege. „Der Wanderer begibt sich in sein eigenes kleines Leben zurück”, erzählt Lehmann, „er hat es mit dem Leben des Weges geteilt, er ist in der Dichtung gewesen als der einzigen zweiten Welt in der hiesigen. ”
Das nachträgliche Wiedererkennen in der Sprache führt zu einem überraschenden Neuerkennen des Erfahrenen: Natur und Mythos sind ineinander verwoben, im schönen Schein des Gedichts wird sogar das Nichts zum Etwas. Poetisch beschworen ist es bei Wilhelm Lehmann ein „sommerliches Nichts”, das sich mit Geisterkraft erfüllt und dem Dichter selbst „die Wunde herrlich offen” lässt. Lehmanns Bukolisches Tagebuch von 1927 ist allerdings kein politisches Manifest der Grünen, das etwas fordert, sondern ein Bekenntnis zum Grünen an sich, ein modernes Vergilsches Hirtengedicht, das die Kräfte und Schönheiten der Natur beschwört.
So möge auch der Lehrer ein Rufer, ein Magier sein, dessen Unterrichtsstunde, wenn sie gelungen, einer Geisterbeschwörung gleichkomme: „Die Aufgabe des Lehrers ist, Flügel zu schaffen und diese Flügel gebrauchen zu lehren. ” In seinem Aufsatz „Zur Psychologie des Lehrers” beschreibt Wilhelm Lehmann den Lehrer als den Medizinmann, der es verstehe, jenen „schmalen, gefährlichen, zauberischen Weg” aufzuzeigen, der „vom Vorstellen zum Sein hinreicht”. Er selbst müsse den Weg der Fantasie mitgehen, der nötig sei, „Ideen in Existenzen umzuarbeiten”, einen Geistersprung zu vollführen, der von der Anschauung zum Begreifen hin leite. Es ist Lehmanns Credo der „Arbeitsschule”, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eines neuen Grundgedanken der Bildung entwickelte, „den Sinn der Erde darzustellen, nicht ihn zu erfragen und zu bereden”. Diese Methode – Lernen durch Selbsttätigkeit des Schülers – hat Lehmann jahrzehntelang praktiziert, zuerst als Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, zuletzt als Studienrat an der Realschule in Eckernförde.
Ich selbst, leidenschaftlicher Anhänger der Arbeitsschule, bin so lange Lehrer gewesen, wie es durch die großzügigen Freiräume des Lehr- und Stoffplans noch möglich war, an die Produktivität des kindlichen Spiels anknüpfend Vorstellungen und Denkformen „so darzustellen, dass sie greifbar werden”. Lehmann zeigt die Methode auf. Er regt an, Pflanzen wie Wiesenschaumkraut, Goldlack und Levkoje miteinander zu vergleichen, Ähnlichkeiten zu erkennen und zu beschreiben, damit begreifbar werde, wie sich Übereinstimmendes in der Formenvielfalt als Verwandtes erweist. Denn „jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden”, auch Vorstellungen, auch Ideen. Wäre er noch am Leben und Zeuge der Entwicklung geblieben, hätte es Wilhelm Lehmann in seiner beharrlichen Verfechtung des Vielgestaltigen womöglich gefallen, das digitale Prinzip mit dem analogen zu vergleichen, um vielleicht einen Essay über das Einfältige und Vielfältige zu schreiben.
Wie seine Schriften über Pädagogik und Natur sind Lehmanns Rezensionen, Polemiken, Aufsätze und Interviews über die Souveränität der Poesie von unverführbarer Entschiedenheit geprägt. Immer wieder kommt er auf seine frühe Erkenntnis von der Autonomie der Poesie gegenüber allen sonstigen Versuchen der Wirklichkeitserfahrung und ihrer Politisierung zurück: „Es gibt wissenschaftliche und es gibt dichterische Genauigkeit. Ist es genial, die Natur des Wassers mit H2O zu bezeichnen, so ist es genial, zu sagen, dass es ,kühlt mit Liebesschauerlust in jauchzendem Gesange‘. Von der Poesie zur Politik, das bedeutet auch den Weg vom Einzelnen zur Abstraktion: Der Wissenschaft bedeutet das Allgemeine, der Dichtung das Einzelne alles. Der Dichtung als solcher hat die Einmischung ins Politische noch nie gut getan, sie erkauft den Tageserfolg mit dem Verlust des poetisch Gültigen. ”
So antwortet er – mit dem schönen, überzeugenden Zitat aus Mörikes Gedicht „Mein Fluß” – auf die Frage der Tübinger Südwestpresse in ihrer Weihnachtsbeilage 1964: „Wie beurteilen Sie die Situation der Zeit?” Schon in seinem Aufsatz über Elisabeth Langgässers Gedichtszyklus „Der Laubmann und die Rose” (geschrieben 1944) attackiert er die verblasene, ja menschenfeindliche Attitüde politischer Gleichmacherei: „Es ist die Aufgabe der Dichtung, im schrecklichen Kehraus der sogenannten ,allgemeinen Idee‘, der sogenannten ,großen geschichtlichen Ereignisse‘ das Konkrete, das Individuum aufzubewahren. ”
Nach der zweiten Sintflut
Die Radikalen der sechziger Jahre haben das im besten Wortsinn Radikale seiner Person und seines Werkes heftig bekämpft, nicht ahnend, dass die Gleichmacherei im Interkulturellen, im Interdisziplinären, im Interparlamentarischen dem alles verschlingenden Globalismus erst richtig Appetit gemacht hat. Geschichts- und Politikverdrossenheit steigerten sich bei Wilhelm Lehmann in den Jahren der totalen Politisierung von Literatur vor allem nach den wütenden Angriffen auf sein Gedicht „Nach der zweiten Sintflut” in eine äußerst kritische Gegnerschaft zu den Institutionen des Rundfunks, des Fernsehens und der Presse, die ihre öffentliche Respektlosigkeit vor dem Poetischen in der Forderung aussprächen, „das politische Zeitalter sollte das ästhetische ablösen”. Doch Wilhelm Lehmann, in bewundernswert respektloser Haltung, dreht den Spieß um und geißelte in einem Brief an einen jungen Dichter 1967 den Zynismus des öffentlichen Nivellierungsprogramms, bei dessen Konsum „Behaglichkeit im Publikum sich dann ausbreitet, wenn es sich die Verhöhnung seiner selbst süß eingehen lässt”.
In Geleitworten zu Buchausgaben von Schlegel und Hölderlin, Eichendorff und Gottfried Keller und einer Schallplattenausgabe von Gedichten Mörikes wirbt er um Leser und Hörer. Mit der Bedachtsamkeit und Zuneigung des Pädagogen öffnet er dem Leser verschlossene Gedankengänge, hellt ihm dunkle Bilder und Metaphern auf – und vergisst nicht, seine eigene Sympathie zu bekunden, ohne sich selbst beim Namen zu nennen. So zitiert er elf Zeilen des Sonetts „Am Walde” von Mörike, als seien es seinen eigenen, worin es heißt: „Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,/den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,/hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen. ”
WILHELM LEHMANN: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 8: Autobiographische und vermischte Schriften. Herausgegeben von Verena Kobel-Bänninger. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 860 Seiten, 92 Mark.
Dichter, Lehrer und lebenslang Einzelgänger: Wilhelm Lehmann (1882 – 1968)
Foto: Ingrid Lockemann/SV Archiv
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2007

Unser Geschäft sei, der Welt beim Dasein zu helfen
Benns Antipode: Essays des Naturlyrikers Wilhelm Lehmann

Von Harald Hartung

Wer erinnert sich noch daran, dass Wilhelm Lehmann in den frühen Nachkriegsjahren als einer unserer führenden Lyriker galt? Dass er als Antipode Gottfried Benns gehandelt wurde? Dass Günter Eich, Karl Krolow oder Heinz Piontek bei ihm gelernt haben? 1968 war - symbolisch genug - Lehmanns Todesjahr. Nach 1968 wurde der Dichter vergessen; Brechts Verdikt gegen ein Gespräch über Bäume wirkte nach; Naturlyrik geriet unter Ideologieverdacht. Auch der Schub Öko-Lyrik in den Achtzigern holte Lehmann nicht zurück. Die grünen Poeten wussten nichts vom "Grünen Gott", den Loerke und Lehmann gefeiert hatten.

Doch fast Vergessenes kann wiederkehren. Wilhelm Lehmann vertraute darauf, dass es keine neue Welt geben werde, wenn es keine alte gibt. Er reimte: "Verhängnis schreckt? Laß dich vernichten. / Die Söhne werden weiterdichten." Überraschenderweise gibt es diese Söhne wieder - und die Töchter dazu. Zum Beispiel Nico Bleutge und Marion Poschmann. Wenn sie Gedichte über Natur und Landschaft schreiben, empfinden sie sich durchaus nicht als Bewisperer von Moosen und Gräsern. Vielleicht kommt dieses neue Interesse auch dem Werk Lehmanns zugute.

Die vor Jahren begonnene achtbändige Gesamtausgabe könnte die Basis dafür abgeben. Zunächst Lehmanns "Sämtliche Gedichte", die seit 1982 vorliegen. Aber auch sein eigentümlich widerständiges erzählerisches Werk, das nicht so eigenbrötlerisch und weltabgewandt ist, wie seine Verächter vermeinen. Die autobiographischen Schriften liegen vor. Nun nähert sich die Ausgabe ihrem Abschluss. Die Essays bringen einen zentralen Aspekt von Lehmanns Werk: seine Poetologie.

Man muss es mit einigem Aplomb sagen: Der scheinbar provinzielle Studienrat aus Eckernförde war einer der wichtigsten Exponenten der lyrischen Moderne. Er gehört als Theoretiker in die Linie Poe, Valéry und Benn. Wer sich in den Nachkriegsjahren für Probleme der Lyrik interessierte, las Lehmanns "Entstehung eines Gedichts" noch vor Benns so folgenreicher Marburger Rede. Lehmann hatte diesen Aufsatz mitten im Krieg, nämlich 1943, veröffentlicht. Was an Lehmanns Nachschreibung einer Gedichtentstehung immer noch fasziniert, ist das Bestreben, seine poetische Schilderung möglichst nah an der Wirklichkeit zu halten. "Die Wahrheit", heißt es, "saß in der Wirklichkeit."

Dieser Realismus ist wissenschaftlich unterfüttert - Lehmann kannte sich in der Biologie aus. Aber seine Poetik transzendiert den Biologismus so gut wie Benn - was die beiden über alle Unterschiede hinweg verband. Lehmanns großes Thema ist die schaffende und erschaffene Natur. Er vermag sie nicht ohne den Mythos zu denken. Zum Laub gehört ihm die Dryade - als ein Teil des ewig vorhandenen Laubes. So gibt es für ihn nicht bloß den ewigen Zusammenhang von Natur und Mythos, sondern auch den von Mythos und Sprache: Mythos als die "in das Gegenständliche oder rein Sinnliche versunkene Sprache selbst".

Das sind geistige Zumutungen, die das gegenwärtig tolerierte Maß vermutlich überschreiten. Sie werden dadurch verstärkt, dass Lehmann die Welt - vor der Erfahrung der ökologischen Krise - als heil erfuhr. Sein Aufsatz "Kunst als Jubel der Materie" formuliert in der Frage bereits die These: "Welches ist das Geschäft der Welt? Da zu sein. Welches ist das Geschäft der Dichtung? Der Welt bei diesem Vorhaben zu helfen."

Wer das für nicht mehr aktuell hält, greift zu kurz. Der Biologe und Mythopoet Lehmann ist zugleich ein Modernist. Er hat Pound und Valéry gelesen und mit T. S. Eliot korrespondiert. Er schreibt nicht bloß über Clemens Brentano und den vergessenen Theodor Wilhelm Danzel, sondern auch über Jules Renard, Paul Léautaud und - immer wieder! - über den Freund Oskar Loerke, der den Grünen Gott erfunden hat. Er sieht das moderne Gedicht unter dem Aspekt des Machens und der Machbarkeit und betont die Nähe von Gedicht und Kritik. Er räumt - wie Benn - mit der sentimentalen Vorstellung auf, Poesie sei das Produkt von Erlebnissen. Er rühmt die Angelsachsen dafür, dass sie Leute wie Eliot und Pound als Wohltäter sehen, während bei uns jeder, "der auf Genauigkeit der Syntax sieht, ,Schulmeister' genannt wird".

Das sagte ein Schulmeister von Graden. Einer, von dem noch immer zu lernen ist. Etwa, wie viel Lyrik mit Erfahrung und Handwerk zu tun hat. Magie muss freilich hinzutreten. Die schönste Formel für Lehmanns Poetologie ist die wunderbare Zeile aus "Mond im Januar": "Ich spreche Mond. Da schwebt er." Das soll ihm einer nachmachen.

- Wilhelm Lehmann: "Essays I". Herausgegeben von Wolfgang Menzel nach Vorarbeiten von Reinhard Tgahrt. Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 6. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006. 572 S., geb., 40,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Rezensent Harald Hartung freut sich aufrichtig darüber, dass der Naturlyriker Wilhelm Lehmann, einst als Antipode zu Gottfried Benn gehandelt, allmählich aus der Versenkung aufsteigt. Tatsächlich weisen die vorliegenden, im Rahmen einer achtbändigen Gesamtausgabe erschienenen Essays Lehmann als "einen der wichtigsten Exponenten der lyrischen Moderne" aus. Wie der Rezensent erklärt, steht die "schaffende und erschaffende Natur" im Mittelpunkt von Lehmanns poetologischen Überlegungen, jedoch immer in engster Bindung zum Mythos, den Lehmann als "in das Gegenständliche oder rein Sinnliche versunkene Sprache selbst" (Zitat Lehmann) begreift. So manches in diesen Essays dürfte dem heutigen Geist zuwiderlaufen, doch sieht der Rezensent darin eher einen Anlass, Heutiges zu überdenken. Von Lehmann, der selbst von einer Verwandtschaft zwischen Gedicht und Kritik ausging, ist "noch immer zu lernen", so das beschwingte Fazit des Rezensenten.

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