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1940 geriet Leutnant Fernand Braudel in deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünf Jahre lang, zuerst in Mainz, dann in einem Lager bei Lübeck, wartete der Historiker auf die Befreiung - und füllte gleich-zeitig hunderte Notizhefte. So entstand sein berühmtes Buch "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.", das die Geschichtsschreibung revolutionierte. Aber Braudel hielt auch Vorträge im Rahmen der "Lageruniversitäten". Zufällig wurde ein Teil dieser Manuskripte kürzlich wiedergefunden, aus denen Braudel noch vor Kriegsende ein Einführungsbuch in die Geschichtswissenschaft…mehr

Produktbeschreibung
1940 geriet Leutnant Fernand Braudel in deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünf Jahre lang, zuerst in Mainz, dann in einem Lager bei Lübeck, wartete der Historiker auf die Befreiung - und füllte gleich-zeitig hunderte Notizhefte. So entstand sein berühmtes Buch "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.", das die Geschichtsschreibung revolutionierte. Aber Braudel hielt auch Vorträge im Rahmen der "Lageruniversitäten". Zufällig wurde ein Teil dieser Manuskripte kürzlich wiedergefunden, aus denen Braudel noch vor Kriegsende ein Einführungsbuch in die Geschichtswissenschaft zusammenstellen wollte. In diesen Texte wird zum ersten Mal sichtbar, wie sich der Historiker die Geschichte als Wissenschaft und Handwerk vorstellte, wie sich aktuelle "Zeitgeschichte" und die "Geschichte der langen Dauer" zueinander verhalten. Diese Vorträge dienten ihm in den Kriegswirren und in trostloser Gefangenschaft als "Schlüssel zur Welt".
Autorenporträt
Braudel, Fernand
Fernand Braudel (1902-1985) wird weltweit als einer der großen Historiker unseres Jahrhunderts angesehen. Seit er die Herausgeberschaft der epochemachenden Zeitschrift »Annales« übernahm (1946), galt er als führender Kopf der »Nouvelle Histoire«. Er habilitierte sich 1946 mit seiner bahnbrechenden Studie über den Mittelmeerraum zur Zeit Philipps II. 1949 wurde er auf den Lehrstuhl für Zivilisationsgeschichte am Collège de France berufen, wo er 20 Jahre lehrte. Er war Präsident der 6. Sektion der Ecole des Hautes Etudes, zwanzigfacher Ehrendoktor, Mitglied von zwölf Akademien (darunter die Bayerische Akademie der Wissenschaften), Träger fünf hoher Orden. 1962 gründete er das "Maison des sciences de l'homme" in Paris. Am 30. Mai 1985 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Im November 1985 verstarb Fernand Braudel im Alter von 83 Jahren.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Den Menschen im Zentrum sieht Kim Priemel in Fernand Braudels Versuch der Grundlegung einer neuen Geschichtswissenschaft. Braudels erstmals auf Deutsch erscheinendes in "sorgsamer" Übertragung vorliegendes und mit hilfreichem Nachwort und Anmerkungen versehenes Buch lässt Priemel staunen: über die unverbissene Verve und Farbigkeit der Diktion, wie über das revolutionäre Programm zu einer mit der konventionellen Historiografie brechenden, empirisch und interdisziplinär arbeitenden Geschichtsschreibung. Dass ihre Grenzen nicht immer klar zu erkennen sind, nimmt Priemel als genuinen Ausweis ihres utopischen Charakters.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2013

Glühwürmchen sinken schnell herab, doch der Historiker schürft in tieferen Schichten
Rückblick auf die Ankündigung einer neuen Historiographie: Fernand Braudels Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft über Geschichte als Schlüssel zur Welt

Es ist eine bemerkenswerte Parallelität: hier Marc Bloch, der in der Résistance gegen die deutschen Besatzer noch Zeit und gedankliche Ruhe findet, seine berühmte Apologie der Geschichtswissenschaft abzufassen, ehe er 1944 von der Gestapo ermordet wird; dort Fernand Braudel, der als französischer Offizier die Kriegsgefangenschaft erst in Mainz, dann in Lübeck nutzt, um sein historisches Erkenntnisinteresse zu formulieren. Zwei Schlüsselgestalten der europäischen Geschichtswissenschaft, der eine an der Seite Lucien Febvres Begründer der gefeierten "Annales", der andere sein Nachfolger.

Doch während Blochs Apologie, die beinahe jedem theoretischen und methodischen turn der letzten Jahrzehnte bereits einen Gedanken voraus war, längst zum Kanon der historischen Ausbildung zählt, sind Braudels Reflexionen über sein Fach fast unbeachtet geblieben. Vielleicht auch, weil sie anders als bei Blochs schmalerem Werk im Schatten gewaltiger Massive stehen: der Sozialgeschichte des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts und der Geschichte des Mittelmeers und der mediterranen Welt in der Epoche Philipps II.

Nun liegt erstmals eine deutsche Fassung von Braudels "Geschichte als Schlüssel zur Welt" vor, von Peter Schöttler - der bereits die Neuübersetzung der "Apologie" ediert hat - sorgsam übersetzt, mit einem hilfreichen Nachwort und zahlreichen Anmerkungen versehen sowie um ein Erinnerungsstück Braudels zu den Anfängen der "Annales" ergänzt. Es ist das Timing, das diese Überlegungen so spannend macht, denn Braudel bringt, während er in der "Lageruniversität" seinen Mithäftlingen seine Geschichtsauffassung erläutert, zugleich die monumentale Mittelmeer-Geschichte zu Papier. Wir sehen also dem Historiker beim Verfertigen seiner Programmatik zu.

Und was für ein Programm Braudel da entwirft: Eine neue, revolutionäre, ja, eine "imperialistische" Geschichtswissenschaft malt er aus, die mit den Gewohnheiten und Bequemlichkeiten der traditionellen Geschichtsschreibung bricht, das empirische Terrain besetzt und sich die Methoden der Nachbardisziplinen aneignet. Der Historiker soll zugleich Soziologe, Ökonom, Geograph sein. Das Ancien Régime, das Braudel zu überwinden trachtet, sind Politik- und Ereignisgeschichte mit ihren großen Männern, die das Schicksal ganzer Völker lenken. Die Fokussierung auf Ereignisse und Individuen vergleicht Braudel mit Glühwürmchen: "Sie leuchten überall, ununterbrochen, mehr oder weniger hoch, aber sie leuchten viel zu kurz, um klar und deutlich die Landschaft zu erhellen."

Der Glühwürmchengeschichte stellt Braudel sein eigenes Konzept entgegen, das zumindest in Teilen auch das der "Annales" ist: eine tiefschürfende Geschichtswissenschaft, die mit der Grubenleuchte in die vielen Schichten der Interaktion von Mensch und Welt vordringt und dabei die empirische Landschaft großzügig in Raum und Zeit vermisst. Die Welt ist hier vor allem Raum, weil jene Kapitel, in denen Braudel die übrigen Schichten - Kultur und Rasse, Sozialstruktur, Wirtschaft und Politik - beschreiben wollte, unausgearbeitet blieben oder verlorengingen. Allzu misslich ist dies indes nicht - auch wenn man gern gelesen hätte, was Braudel zu den Versuchen seiner deutschen Kollegen zu sagen hatte, eine "Geschichte des Blutes" zu schreiben -, sollten doch Raum und Umwelt zu einer beherrschenden Größe in seinem Werk werden.

Ungeachtet seiner fast schwärmerischen Ausführungen über das Potential einer "Geohistorie" aber hat Braudel mehr im Sinn, wenn er von Sozialgeschichte spricht, nämlich eine "Histoire totale", die alles menschliche Verhalten mitsamt seinen (im Wortsinne) natürlichen Bedingungen zum Thema hat, die den Fürsten nicht länger gegenüber dem Händler und dem Handwerker privilegiert, die dezidiert "Gruppengeschichte" und nicht Heldenmythos sein will, die nach Strukturen und Gesetzen sucht. Zugleich will Braudels Art zu sehen und zu schreiben sensibel sein für die widersprüchlichen Tempowechsel der Zeit: für die Beschleunigungseffekte technologischer Innovation wie für die Beharrungskräfte von Traditionen, für die Entschleunigung im frühneuzeitlichen Winter wie für das langsame, doch beständige Auseinanderdriften der Kontinentalplatten. Ob und wie all das für den Historiker nicht nur mach-, sondern auch denkbar ist, wo also die Erkenntnisgrenzen verlaufen, bleibt indes unklar - ein revolutionäres, utopisches Programm eben.

So einschüchternd die Dimensionen der Braudelschen Visionen, so bemerkenswert die Diktion, in denen er sie vorträgt. Bestimmt, doch stets höflich geht er mit der Ereignisgeschichte ins Gericht und findet freundliche Worte selbst für jene Werke, die er durch die neue Geschichte überholt sieht. Mit Verve legt Braudel seine Kritik dar, farbig und mitreißend entwirft er sein Gegenbild und kommt doch ohne jene Verbissenheit aus, welche die deutsche Sozialgeschichte späterer Jahre auszeichnen wird. Dies hat viel mit dem Ethos des Historikers zu tun, das Braudel - ganz wie Bloch zur selben Zeit - als inneren Antrieb zu erkennen gibt. Denn der Historiker arbeitet nicht wie der von Nietzsche karikierte Antiquar der zu Quellen geronnenen Vergangenheit zuliebe. Vielmehr dient den Annalisten die Vergangenheit als Mittel zum Zweck, als Schlüssel zur Welt der Gegenwart.

Auf diese Weise formuliert Braudel inmitten des Infernos seinen Glauben an die Einheit der Welt: sachlich mit Blick auf jene Entwicklung, die wir heute als Globalisierung erforschen, ethisch als moralischer Maßstab, an dem historisches Handeln zu messen ist, politisch als Appell, weil man "die Welt noch weiter eindeichen und nötigen kann". Dass Braudel und Bloch aus der Gegenwart der Zeitgeschichte, zu der sie beide kaum arbeiteten, ihre Impulse erhielten, mag für jene altmodisch anmutende Formel von der Einheit der Geschichte sprechen. Doch mehr noch drücken sich darin die biographischen Erfahrungen beider Autoren aus - und ein Humanismus, der bei aller Neigung zum Kollektiv und zur "longue durée" den Menschen ins Zentrum der sozialhistorischen Perspektive stellt.

KIM PRIEMEL.

Fernand Braudel: "Geschichte als Schlüssel zur Welt". Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft.

Aus dem Französischen von Peter Schöttler und Jochen Grube. Hrsg. v. Peter Schöttler. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 232 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2013

Gottvater hinter
Stacheldraht
In deutscher Kriegsgefangenschaft entwarf der
Franzose Fernand Braudel sein historisches Denken
VON ACHIM LANDWEHR
Nachgeborenen mag es schwerfallen, die Worte „Lager“, „Zweiter Weltkrieg“ und „Deutschland“ miteinander in Verbindung zu bringen, ohne dabei unmittelbar an Tod und Vernichtung zu denken. Und doch hat es sie gegeben: Kriegsgefangenenlager, die sicherlich alles andere als Horte der Glückseligkeit waren, in denen sich aber überleben und teilweise sogar leben ließ. Zumindest gefangenen Offizieren war dies möglich. Weil sie laut Genfer Konvention nicht zur Zwangsarbeit herangezogen werden durften, konnten sie in den Lagern selbst organisierte Beschäftigungsformen entwerfen, zum Beispiel Bildungsangebote und regelrechte „Universitäten“ einrichten.
  Diesen wenig vorteilhaften Voraussetzungen verdankt die Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts ihr möglicherweise einflussreichstes Buch. Der französische Historiker Fernand Braudel (1902- 1985) hat während seiner fünfjährigen Haft in Kriegsgefangenenlagern in Mainz und Lübeck die erste Fassung seines Buchs über „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ geschrieben. Im Lager füllte er eine Unmenge von Schulheften mit seinen Notizen, die er dann an seinen Mentor Lucien Febvre nach Paris schickte. Den Einfluss dieses Buchs auf die weitere Entwicklung geschichtswissenschaftlicher Forschung kann man kaum überschätzen, denn Braudel hat darin exemplarisch vorgeführt, wie geografische Grundlagen, wirtschaftliche Konjunkturen, soziale Strukturen und politische Ereignisse zu einer neuen historischen Sichtweise verknüpft werden können.
  Das war aber nicht das einzige Buch, das Braudel während seiner Gefangenschaft konzipierte. In der „Kriegsgefangenenuniversität“ hielt er Vorlesungen zu Grundlagen der Geschichtswissenschaft ab, die er in ein Einführungsbuch einmünden lassen wollte. Zum Abschluss kam dieses Projekt nie, aber die damals fertiggestellten Kapitel wurden in Frankreich erstmals 1997 aus dem Nachlass veröffentlicht und liegen nun in deutscher Übersetzung vor. Peter Schöttler hat sich als Herausgeber einmal mehr um diese Transferleistung über den Rhein verdient gemacht. Er hat der deutschen Leserschaft bereits zahlreiche Werke der französischen historischen Schule nahegebracht, die sich um die Zeitschrift Annales gruppiert. Zusätzlich findet sich in diesem Band noch ein autobiografischer Beitrag Braudels aus dem Jahr 1972: „Wie ich Historiker wurde“.
  Welche Form von Geschichtswissenschaft mag entstehen, wenn man hinter Stacheldraht sitzt? Welche Aufgaben weist man der Geschichtsschreibung in einem Umfeld zu, das durch die Erfahrungen von Krieg, Gefangenschaft, Tod und Zerstörung geprägt ist? Die überraschende Erkenntnis aus Braudels unvollendet gebliebener Grundlegung ist, dass der unmittelbare Erfahrungskontext kaum eine Rolle spielt – oder keine Rolle spielen soll. Braudel erwähnt zwar hier und da die Lebensumstände von Gefangenenlager und Weltkrieg, lässt diese aber nicht unmittelbar in sein Konzept einfließen. Im Gegenteil scheinen die aktuellen Erfahrungen ihn eher darin zu bestärken, dem momentanen Geschehen gerade keine allzu große Bedeutung zuzumessen. Er beginnt seine Vorlesungen zwar mit dem Anspruch, die Gegenwart erklären zu wollen, möchte dies aber nicht auf dem offensichtlichen Weg einer Nacherzählung der Ereignisse tun. Es geht ihm vielmehr um „eine große, umfassende und eine tiefgreifende Geschichte“. Gerade weil er sich von „blutroten Ereignissen“ umstellt sieht, misstraut er dem Ereignis als historischer Größe. Die Ereignisse zeigten nur die historische Oberfläche an, seien nur Glühwürmchen, die kurz aufflackerten, um danach wieder im Dunkel zu verschwinden.
  Braudel geht es schon hier, wie in seinen späteren Arbeiten, die ihn berühmt machen sollten, um die strukturellen Grundlagen, wie er sie vornehmlich in der Geografie, in Zivilisationen sowie in Wirtschaft und Gesellschaft entdeckte. In einer historischen Situation, in der die Welt dem Untergang geweiht zu sein schien, machte er tatsächlich die These stark, dass die soziale Wirklichkeit strukturell kohärent sein müsse – so wie die materielle Welt für die Physik kohärent sei –, denn sonst könnte man sie historisch nicht untersuchen. Inmitten des Kriegs, als alle Formen menschlichen Miteinanders in Frage gestellt zu sein schienen, gibt Braudel ernsthaft das Ziel aus, historische Gesetze formulieren zu wollen, um den wissenschaftlichen Anspruch der Historie zu untermauern.
  Hierin eine Bewältigungsstrategie der Situation des Gefangenenlagers zu entdecken, ist nicht allzu weit hergeholt. In seinem autobiografischen Beitrag aus dem Jahr 1972 macht Braudel deutlich, dass es im Lager darum ging, in diesen „tragischen Zeiten“ all die Nachrichten „zurückzudrängen, und zu verleugnen. Nieder mit dem Ereignis, vor allem, wenn es unangenehm ist.“ Stattdessen „flüchtete“ er sich auf die Strukturebene, in die „Position Gottvaters“, der über den Geschehnissen in all ihrer Schrecklichkeit schwebte. Deswegen forderte er die Zuhörer seiner Vorlesung dazu auf, hinter all den Ereignissen den wesentlichen, den tiefen Kern ausfindig zu machen.
  Die Strukturgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine unübersehbare Prominenz erlangen sollte, lässt sich daher (auch) als eine Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs verstehen. In Braudels Vorlesungen aus dem Jahr 1941 kann man dieser Verdrängungsleistung bei ihrer Entstehung zusehen.
Fernand Braudel: Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941. Herausgegeben von Peter Schöttler, übersetzt von Peter Schöttler und Jochen Grube. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 228 Seiten, 22,95 Euro.
Fernand Braudel ist einer der einflussreichsten Historiker des 20. Jahrhunderts. Seine Überzeugung, dass Strukturen wichtiger als Ereignisse seien, hat er erstmals in Vorlesungen vor Kriegsgefangenen formuliert.
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