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Unser Verständnis von der menschlichen Seele erfährt heute nochmals eine grundlegende Veränderung. Die Theorie von der primären Lebensorganisation geht davon aus, daß die Grundstruktur des Seelenlebens angeboren und mit derjenigen höher organisierter Tiere verwandt ist. Alle im Leben erworbenen Strukturen der Persönlichkeit beziehen sich auf diese "alte", im Laufe der Phylogenese entstandene Seele und haben ihre Wurzeln in einer primären Affektorganisation und in einem affektiven Selbst.
Holderegger entwirft ein modifiziertes Menschenbild und unternimmt dabei den Versuch, das Bild vom
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Produktbeschreibung
Unser Verständnis von der menschlichen Seele erfährt heute nochmals eine grundlegende Veränderung. Die Theorie von der primären Lebensorganisation geht davon aus, daß die Grundstruktur des Seelenlebens angeboren und mit derjenigen höher organisierter Tiere verwandt ist. Alle im Leben erworbenen Strukturen der Persönlichkeit beziehen sich auf diese "alte", im Laufe der Phylogenese entstandene Seele und haben ihre Wurzeln in einer primären Affektorganisation und in einem affektiven Selbst.

Holderegger entwirft ein modifiziertes Menschenbild und unternimmt dabei den Versuch, das Bild vom Aufbau des seelischen Lebens neu zu zeichnen. Es wird klar, wie fließend und veränderbar, wie flüchtig und zerbrechlich unsere Vorstellungen von der eigenen Person und der Ich-Identität sind.

Aus seiner Analyse literarischer Werke (z.B. Eichendorffs "Der Taugenichts") und einer Neuinterpretation von Leonardos "Mona Lisa" geht hervor, wie groß die Faszination des Ursprungs für uns Menschen ist und daß unser ästhetisches Empfinden vom unaussprechlichen Wissen um unsere archaische Vergangenheit zeugt. Der Autor berücksichtigt beim Entwurf seines Modells vom "psychischen Apparat" die neueren Ergebnisse aus der Ethologie, der Psychoanalyse und der Hirnforschung ebenso wie seine Erfahrungen aus eigener klinischer Arbeit und Jan Philipp Reemtsmas Bericht über seine Gefangenschaft "Im Keller".
Autorenporträt
Dr. phil. Hans Holderegger, geboren 1942, Studium der Literaturwissenschaft und Ausbildung zum Psychoanalytiker. Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Vorlesungen zum Thema Pädagogik und Tiefenpsychologie an der Universität Zürich und Deutschunterricht am Gymnasium. Arbeitet in eigener Praxis und als Dozent am Freud-Institut Zürich und führt in dieser Funktion neben Seminaren auch Lehranalysen und Supervisionen durch.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2002

Ein Kind ist uns geboren
Doch wie wird es nun ein kluges Kerlchen?

Sonderbar inmitten der uferlosen Literatur über Babyforschung und pränatale Entwicklungen: ein Buch über die Organisation des Seelenlebens, das mit einer langen, gut fünfzig Seiten umfassenden Deutung von Eichendorffs Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" beginnt. Aber sonderbar muß dieser Zugriff eigentlich nur erscheinen, wenn man gewöhnt ist, die Beschreibung des Kindes von vornherein Entwicklungspychologen, Gehirnforschern und anderen Klinikern zu überlassen. Mit seinem Buch "Das Glück des verlorenen Kindes" will Hans Holderegger, selbst Psychoanalytiker in Zürich, das Kind gewissermaßen aus den Fängen der Professionellen zurückerobern. So empfiehlt es sich gleichsam als Antidot gegen die Suggestivität der naturalistischen Expertisen.

Holderegger lehrt einen Blick auf den frühen Menschen als Paradiesvogel. "Mit dem Paradies ist der Zustand des unreflektierten frühen Daseins gemeint, der seelische Zustand, der wahrscheinlich ausschließlich von der primären Lebensorganisation geprägt ist, noch vor dem Einbruch der sekundären, symbolisch organisierten Strukturen der Sprache, des Bewußtseins und des Denkens." Zur besseren Veranschaulichung schält Holderegger diesen Zustand aus der Welt des "Taugenichts" heraus, die einer Welt der Regression entspreche, in welcher "Denkprozesse auf eine wohltuende Art inhaltsleer" erscheinen. Die Faszination, die seit Generationen von Eichendorffs Novelle ausgehe, habe mit der Erinnerung des Lesers an den verlorenen Vorgang des eigenen regressiven Erlebens zu tun, der gleichwohl als "ungedachtes Bekanntes" weiterhin in ihm präsent sei: die passive Art des Sich-in-eine-Situation-Fallenlassens, die für den Taugenichts charakteristisch ist, das Ausblenden der Zeit als Zäsurerfahrung, der Ausfall jeglicher bewußter Planung und so weiter. So entsteht eine Phänomenologie des Kindes, die es nicht als Funktion von "Lernzielen" und "Entwicklungsschritten" beschreibt, sondern in seiner ganzen "törichten Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung" (Thomas Mann in seiner "Taugenichts"-Interpretation).

Derart eingestimmt, wird auch die Fibel von Lise Eliot den Blick auf das Kind nicht entzaubern können - im Gegenteil: Der Wunderglaube erhält hier reichliche naturwissenschaftliche Nahrung. "Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren" - so der Titel jener Fibel, mit dem die amerikanische Neurobiologin auch in Deutschland einen Bestsellerrang erklommen hat. Tatsächlich versteht man nach der Lektüre von Eliots Buch den ganzen Zinnober nicht mehr, den die Theologie um das Wunder macht. Liegt das Wunder nicht auf der Hand, sobald man dem Menschen bei seiner Entwicklung zuschaut? Eliots Bilanz der Gehirnentwicklung bietet Antworten auf klassische Elternfragen: Welche Formen der Stimulation fördern besonders die kognitive Entwicklung? Wie unterscheidet sich die Gehirnentwicklung von Jungen und Mädchen? Welchen Einfluß haben Ernährung, Streß und andere körperliche und soziale Faktoren auf das kindliche Gehirn? Bei alldem hütet sich Eliot doch wohltuend vor absoluten Normierungen, die die dämliche Fiktion einer "intakten Persönlichkeit" bedienen könnten. Es geht vielmehr um Fingerzeige, die am Ende nie weiter reichen, als daß jedes Kind ein Fall für sich bleibt. In diesem Sinne ist Jürgen Habermas unlängst sogar so weit gegangen, wider alle genetische Optimierungslust den Wert eines guten Gedächtnisses, eines hohen Intelligenzquotienten, eines gesunden Körpers in Frage zu stellen. Denn wie können wir wissen, so fragte er, ob irgendeine Mitgift der Natur den Spielraum der Lebensgestaltung tatsächlich erweitert? Jede "Wenn-dann"-Erklärung verbietet sich hier von selbst. Auch Lise Eliot wird nicht müde, bei allem prägenden Einfluß, die den neurobiologischen und sozialen Startbedingungen zukommen, doch auch deren Kontingenz zu betonen, jedenfalls dann, wenn diese Ausstattung vorschnell mit dem Begriff des "Lebensglücks" gekoppelt wird. Wer etwa will noch etwas Abträgliches über das Aufwachsen bei getrennten Eltern hören, wenn der wunderbarste Mensch, den er kennt, ein Scheidungskind gewesen ist?

Vor vielfältigem Aberglauben, wie er der pädagogischen Optimierungsidee anzuhaften pflegt, warnt schließlich auch der Gehirnforscher Wolf Singer in seinem Essay "Was kann ein Mensch wann lernen?" (veröffentlicht im Sammelband "Die Zukunft der Bildung"). Sein Beispiel: Wer früh anfängt, intensiv Geige zu üben, kann erreichen, daß die Repräsentation der linken Hand, welche die Saiten greift, in der Großhirnrinde mehr Platz eingeräumt bekommt als bei Nichtübenden oder Spätberufenen. Ob dies aber auf Kosten anderer Funktionen geschieht und falls ja, welcher, ist unbekannt. Weil es im Gehirn keine Leerstellen gibt, steht zu erwarten, "daß sich das eine nur auf Kosten des anderen ausbreiten kann. Dies auch deshalb, weil die verfügbare Zeit nicht dehnbar ist. Wer Geige übt, kann nicht gleichzeitig sozial kommunizieren und umgekehrt."

Andererseits zeigt Singer, wie Nervenzellen schrumpfen, wenn in den entsprechenden Entwicklungsphasen dem Kleinkind die visuellen oder akustischen Signale nicht verfügbar sind. Aber auch dieser ganz natürliche Bedarf an Stimulation sollte für Eltern kein Grund zu einen überzogenen Verantwortungseifer sein. Das Gehirn behält bei der Organisation seiner Entwicklung die Initiative, so Singer. Es genüge, sorgfältig darauf zu achten, "wofür sich das Kind jeweils interessiert, wonach es verlangt und wodurch es glücklich wird". Echte Taugenichtse finden ihren Pfad ins Leben selbst.

CHRISTIAN GEYER

Lise Eliot: "Was geht da drinnen vor?" Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. Aus dem Amerikanischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2002. 748 S., geb., 29,- [Euro].

Hans Holderegger: "Das Glück des verlorenen Kindes". Primäre Lebensorganisation und die Flüchtigkeit des Ich-Bewußtseins. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 207 S., geb., 25,- [Euro].

Nelson Killius, Jürgen Kluge, Linda Reisch (Hrsg.): "Die Zukunft der Bildung". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 227 S., br., 10,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wer was über die Kindheit lernen will, muss Eichendorff lesen. So jedenfalls die Auffassung des Zürcher Psychoanalytikers Hans Holderegger, der seine Studie mit einer ausführlichen Interpretation von "Aus dem Leben eines Taugenichts" beginnt. Kind sein, lernt man da, heißt, noch nichts zu ahnen vom Einbruch des Symbolischen, das als Sprache und Zeitbewusstsein daherkommt. Es heißt, mit Thomas Mann, sich in einem Zustand "törichter Seligkeit" zu befinden, den man beim Erwachsenwerden vergisst, oder, genauer, als "ungedachtes Bekanntes" halb erinnert und halb vergessen hat. Es macht ganz den Eindruck, als habe der Rezensent Christian Geyer gegen diese literaturgestützte "Phänomenologie des Kindes" rein gar nichts einzuwenden.

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