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Über Jahrhunderte hatten Ärzte die Aufgabe, Krankheiten zu verhindern und zu behandeln. Nun stehen sie immer häufiger im Dienst der Selbstverwirklichung und Lebensplanung gesunder Menschen, besonders in der Fortpflanzungsmedizin und der ästhetischen Chirurgie. Welche Konsequenzen hat dies für die Zukunft der Medizin? Die Autoren beleuchten diesen Wandel von der krankheitsbekämpfenden zur wunscherfüllenden Medizin unter ärztlichen, rechtlichen und ethischen Aspekten.

Produktbeschreibung
Über Jahrhunderte hatten Ärzte die Aufgabe, Krankheiten zu verhindern und zu behandeln. Nun stehen sie immer häufiger im Dienst der Selbstverwirklichung und Lebensplanung gesunder Menschen, besonders in der Fortpflanzungsmedizin und der ästhetischen Chirurgie. Welche Konsequenzen hat dies für die Zukunft der Medizin? Die Autoren beleuchten diesen Wandel von der krankheitsbekämpfenden zur wunscherfüllenden Medizin unter ärztlichen, rechtlichen und ethischen Aspekten.
Autorenporträt
Matthias Kettner lehrt Philosophie an der Universität Witten/ Herdecke.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2010

Ich möchte gerne schöner und länger leben, Herr Doktor!
Matthias Kettner mustert die Ärzteschaft unter dem Erwartungsdruck der wunscherfüllenden Medizin

Stehen wir vor einer grundlegenden Umstellung des ärztlichen Berufsbildes? Der Philosoph Matthias Kettner ist dieser Auffassung. "Die lang bewährte, für die Krankheiten behandelnde ,kurative' Medizin maßgebliche Selbstbeschränkung medizinischen Wissens und Könnens auf die Zentralfunktion beginnt sich von den Rändern her aufzulösen." An ihre Stelle trete in zunehmendem Umfang der neue Typus der wunscherfüllenden Medizin. "Die Pointe der wunscherfüllenden Medizin lässt sich am besten in Abgrenzung zur kurativen Medizin erklären. Deren Kerngeschäft ist die Krankenversorgung unter der regulativen Idee der Heilung. Wunscherfüllende Medizin hingegen setzt medizinisches Wissen und Können für individualisierte Zwecke ein - jenseits des objektiven Zwecks der Krankenversorgung. Sie konzentriert sich auf die Gesundheit von Gesunden und erzeugt neben der Patientenrolle, wie wir sie kennen, Klienten- und Kundenrollen für ihre Rezipienten."

Das Spektrum der Behandlungsformen, die Kettner der wunscherfüllenden Medizin zurechnet, ist breit und heterogen. Es reicht von der Fortpflanzungsmedizin und der Schönheitschirurgie über die gezielte Verbesserung der kognitiven und vitalen Funktionen einer Person bis hin zur Alternativmedizin und den aus dem Erstattungskatalog der Kassen herausgenommenen sogenannten "individualverträglichen Gesundheitsleistungen". Dieser großzügige Zuschnitt des Gebiets wunscherfüllender Medizin dürfte dem Ziel einer möglichst steilen These geschuldet sein. Kettner unterschätzt dabei jedoch die Flexibilität des herkömmlichen, am Krankheitsbegriff orientierten Medizinverständnisses. Wie Markus Pawelzik zeigt, sind die Übergänge von der dem traditionellen ärztlichen Auftrag unterfallenden Krankheitsprophylaxe zum verbessernden Enhancement häufig fließend. Vor allem aber ist der Krankheitsbegriff selbst in einem gewissen Umfang offen und interpretationsfähig.

Ob wir einen bestimmten biologischen Sachverhalt achselzuckend als Teil der Conditio humana hinnehmen oder ob wir ihn als Krankheit klassifizieren, hängt nicht zuletzt vom Umfang des medizinisch Machbaren ab. Dies führt, so Pawelzik, tendenziell zu einer Ausweitung des Krankheitsbegriffs. "Was gestern noch als ,normal', ,gesund' und somit nicht behandlungsbedürftig angesehen wurde, gilt heute als ein klarer Fall von Krankheit. Morgen, so meine These, werden Ärzte Befindlichkeiten, die wir heute als ,normal' ansehen, zu verbessern suchen, ohne dass dies als Enhancement gelten wird."

Der normativ tragende Satz, der allen Formen medizinischer Zuwendung zugrunde liegt, lautet in den Worten Marcus Düwells deshalb, dass es "ein moralisches Gut ist, eine handlungsfähige Person zu sein". Mit diesem Prinzip aber ist es unvereinbar, in Fällen, in denen jemand beispielsweise sein Erscheinungsbild als sozial stigmatisierend erlebt, das Begehren des Betroffenen nach medizinischer Abhilfe allein deshalb abzuweisen, weil er nicht an einer Krankheit im medizinischen Sinn leidet.

Normativ entscheidend ist deshalb nach dem treffenden Befund Matthis Synofziks "nicht mehr die medizintheoretische Frage nach den intrinsischen Aufgaben der Medizin, sondern eine gesellschaftliche Frage: Von welchen Aufgaben wollen wir als Gesellschaft, dass sie von der Medizin übernommen werden?" In ihre Beantwortung gehen zahlreiche nichtmedizinische Erwägungen ein. Diese betreffen keineswegs nur den schnöden Mammon, obgleich die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen ist, dass eine großflächige Erweiterung des Aufgabenbestandes der Medizin den Kollaps des öffentlichen Gesundheitswesens noch beschleunigen würde. Finanzierungsprobleme plagen freilich auch die herkömmliche kurative Medizin. Die spezifischen Bedenken gegenüber den Glücksverheißungen medizinischen Enhancements wurzeln tiefer. So erneuert Phillan Joung vor dem Hintergrund der Geschlechterselektion in Südkorea die altbekannte Warnung vor den Gefahren einer Medizin, in der vermeintliche Wünsche zu sozialen Zwängen geraten. Origineller ist die von Alena Buyx und Peter Hucklenbroich geäußerte Skepsis gegenüber einer "Medikalisierung von Lebensproblemen", unter deren Ägide "statt der Lösung der sozialen oder wirtschaftlichen Probleme eine beispielsweise medikamentöse Ruhigstellung und Stimmungsaufstellung der Betroffenen angeboten wird".

Am schwersten aber wiegt eine Überlegung Pawelziks. Er betrachtet das Anliegen, Wohlbefinden und Funktionsfähigkeit mittels Neuroenhancements zu verbessern, als ebenso trügerisch wie den verbreiteten Wunsch, dasselbe mit Hilfe von beruflichem und wirtschaftlichem Erfolg, hohem sozialen Status und möglichst großer konsumtiver Potenz zu erreichen. "Das Interesse an Neuroenhancement folgt somit derselben Logik, wie die vielen anderen instrumentellen, an extrinsischen Zielen orientierten Wünsche, die in nicht geringem Maße für die Leere, Sinnlosigkeit und seelische Not unserer Wohlstandsgesellschaft verantwortlich sein dürften." Leser, die um die anthropologische Unwahrscheinlichkeit des Glücks wissen, werden dankbar zustimmen.

MICHAEL PAWLIK.

Matthias Kettner (Hrsg.): "Wunscherfüllende Medizin". Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009. 338 S., Abb., br., 39,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ist die Medizin von einer heilenden hin zu einer wunscherfüllenden umgeschlagen? Wenn Matthias Kettners Schönheitschirurgie, Alternativ-medizin und Reproduktionsmedizin über denselben Kamm der Wunscherfüllung schert, geht dies dem Rechtsphilosophen Michael Pawlik zwar zu weit.  Aber von der Leküre abbringen konnte ihn dies nicht. Denn differenzierter und interessanter findet Pawlik beispielsweise den Beitrag von Markus Pawelzik zu den fließenden Übergängen zwischen Krankheit und "Enhancement", die sich zudem in der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung ständig verschieben, wie er dem Aufsatz entnimmt. Als erhellend lobt er auch Matthis Synofziks Untersuchung der Fragestellung, was die Gesellschaft von heute als medizinische Aufgabe wahrgenommen sehen will sowie Phillan Joungs Bedenken gegen wunscherfüllende Medizin am Beispiel der "Geschlechterselektion" in Südkorea.

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