Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 3,37 €
  • Gebundenes Buch

Dass 1945 von einer Stunde null nicht die Rede sein konnte, zeigen Lebensläufe wie die von Hermann Josef Abs, Hans Filbinger, Reinhard Gehlen, Reinhard Höhn, Erich Manstein, Hanns-Martin Schleyer, Hans-Günther Sohl und vielen anderen. Exemplarische Biografien veranschaulichen, wie wichtige Funktionsträger des Nationalsozialismus schon bald nach dem Ende der politischen Säuberung einflussreiche Positionen in dem entstehenden demokratischen Staat erlangten. Was waren die politischen und moralischen Folgen für die Bundesrepublik? Und wie gehen wir heute mit dem Fortwirken nationalsozialistischer…mehr

Produktbeschreibung
Dass 1945 von einer Stunde null nicht die Rede sein konnte, zeigen Lebensläufe wie die von Hermann Josef Abs, Hans Filbinger, Reinhard Gehlen, Reinhard Höhn, Erich Manstein, Hanns-Martin Schleyer, Hans-Günther Sohl und vielen anderen. Exemplarische Biografien veranschaulichen, wie wichtige Funktionsträger des Nationalsozialismus schon bald nach dem Ende der politischen Säuberung einflussreiche Positionen in dem entstehenden demokratischen Staat erlangten. Was waren die politischen und moralischen Folgen für die Bundesrepublik? Und wie gehen wir heute mit dem Fortwirken nationalsozialistischer Normen nach 1945 um? Mit dem Fall der Berliner Mauer hat das Thema neue Brisanz gewonnen: Hat die Republik gelernt, mit belasteten Führungskadern und Spezialisten umzugehen? Die Geschichte der Eliten in den Gründerjahren der Bundesrepublik ist ein spannendes Lehrstück politischen Verhaltens zwischen Strafe und Integration, Kontrolle und Unterwanderung, Reform und Restauration.
Autorenporträt
Norbert Frei, geboren 1955, ist Professor für Neuere und neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vorgelegt, darunter Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, erweiterte Neuausgabe München 2001.

Dr. Thomas Fischer, Jahrgang 1947, Leiter der Redaktion Bildung und Zeitgeschehen beim Fernsehen des Südwestrundfunks, verantwortlicher Redakteur der ARD-Serie Karrieren im Zwielicht.

Tobias Freimüller, Jahrgang 1973, Erstes Staatsexamen 2001 an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit über den Umgang der bundesdeutschen Ärzteschaft mit ihrer NS-Vergangenheit.

Marc von Miquel, M.A. , Jahrgang 1968, Promotionsstipendiat an der Ruhr-Universität Bochum im Forschungsprojekt "Ahndung, Verjährung, Amnestie 1945-1969". Veröffentlichung u.a.: "Wir müssen mit den Mördern zusammenleben!" NS-Prozesse und politische Öffentlichkeit in den sechziger Jahren, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Jahrbuch 2001 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/M. 2001.

Tim Schanetzky, M.A., Jahrgang 1973, Sprecherassistent beim Sonderforschungsbereich "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel" an der Universität Frankfurt/M. Veröffentlichungen u.a.: Unter einem Dach. Engagement und Sozialkompetenz. 100 Jahre Hattinger Wohnstättengenossenschaft, Essen 1999; Endstation Größenwahn. Die Geschichte der Stadtsanierung in Essen-Steele, Essen 1998.

Jens Scholten, M.A., Jahrgang 1974, Magisterexamen 2000 an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit über die Einführung der Selbstbedienung im deutschen Lebensmittelhandel. Veröffentlichung: Themenroute 18: Großchemie und Energie, in: Kommunalverband Ruhrgebiet (Hg.), Reiseführer Route der Industriekultur, 2000.

Matthias Weiß, M.A., Jahrgang 1969, Promotionsstipendiat an der Ruhr-Universität Bochum im Forschungsprojekt "Medienpolitik in der Bundesrepublik 1949-1970". Veröffentlichung u.a: Sinn und Geschichte. Die filmische Selbstvergegenwärtigung der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft", Regensburg 2000.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2002

Mit der Nazi-Riecherei Schluss machen
Die junge Bundesrepublik brauchte Leute, die „von der Geschichte von früher her etwas verstehen”: Wie die Eliten der NS-Zeit nach dem Krieg reüssierten
Revolutionen und Systemwechsel werfen die Frage auf, was mit den alten Eliten geschehe: Soll man sie versklaven, ermorden oder deportieren? Die französischen und die russischen Revolutionäre zum Beispiel haben mit den vormaligen Herren und denen, die man dafür hielt, kurzen Prozess gemacht. Sie gaben ihre Zeit nicht hin für Unterredungen darüber, ob die Säuberungen moralisch legitim oder langfristig opportun wären.
Anders verhält es sich mit den Umwälzungen, die ein Land unfreiwillig auf sich nimmt. So hatten die wenigsten Deutschen 1945 den Einmarsch der Alliierten dringlich erwartet. Nachdem die vier Mächte das Land umgekrempelt hatten, überließen sie es den neuen deutschen Regierungen, mit der Elite des Nazireiches fertig zu werden. Und weil der Nationalsozialismus eben nicht das Unternehmen einer verblendeten Verbrechertruppe war, sondern politische Normalität, sind die Deutschen mit den Deutschen nach 1945 sehr sanft umgesprungen. Wie kulant mit den Juristen, Medizinern und Offizieren verfahren wurde, die im Nazi-Reich auf Kosten von Recht und Menschenleben Karriere machten, wie die Unternehmer wieder Fuß fassten und wie die Journalisten das alles darstellten, ist jetzt in einigen vorzüglichen Aufsätzen nachzulesen.
Lieber ein paar alte Nazis...
In den achtziger Jahren, als die Debatten und Versäumnisse der Nachkriegszeit lange verjährt waren, gab der politische Philosoph Hermann Lübbe der Verdrängung der Vergangenheit die theoretischen Weihen: In einem 1983 publizierten Aufsatz pries er die Vorzüge der „gewissen Stille”, mit der die Nazizeit übergangen wurde: Das „kommunikative Beschweigen”, wie Lübbe es nannte, war „das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland”. Soll heißen: Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Deutschen nur eines von beidem haben können: entweder eine gerechte Aufarbeitung der NS-Zeit oder die Ausbildung eines demokratischen Gemeinwesens im Westen.
Diese These ist anstößig – nicht etwa weil sie falsch oder politisch unkorrekt wäre, sondern weil es nach 1983 nicht mehr nötig war, den deutschen Verdrängern und Beschweigern beizuspringen. Lübbes Aufsatz fiel in eine Zeit der historischen Aufbruchstimmung in der Bundesrepublik: Man fühlte sich mittlerweile mehr den Opfern als den Tätern der Nazizeit verpflichtet. Die Leute wollten wissen, wie es im „Dritten Reich” eigentlich gewesen war. All jenen aber, die sich daran störten, bescheinigte Lübbes Aufsatz, dass ihr Trotz historisch gerechtfertigt war und dem Aufbau der Bundesrepublik diente.
„Karrieren im Zwielicht” ist als Begleitband einer Fernsehserie der ARD konzipiert. Das Buch besteht aus sechs Aufsätzen, einigen Exkursen sowie zahlreichen eingestreuten Textbrocken, die einzelne Biographien und Umstände erläutern. Unübersehbar ist der Versuch, die Texte so häppchenkompakt zu gestalten, dass auch die Fernsehzuschauer sich angesprochen fühlen, die nur selten aus eigenen Stücken lesen. Das Buch konkurriert also nicht mit gelehrten Dissertationen, sondern mit den pathetisch-suggestiven Simplizitäten eines Guido Knopp, der den Hauptsatz mit drei Wörtern zur Grundformel für die Erklärung historischer Zusammenhänge gemacht hat. Knopps telegener Nationalsozialismus besteht aus einigen ungewöhnlich bösen Männern und einer fackeltragenden Schar ununterscheidbarer Gestalten. „Karrieren im Zwielicht” hingegen versucht, Geschichte wirklichkeitsnah zu erklären. Der Bochumer Ordinarius Norbert Frei hat das Buch herausgegeben, die Aufsätze stammen von jungen Historikern, fast alle sind Schüler Norbert Freis.
Weil die Taten der Nazi-Zeit nicht ausreichend gesühnt wurden, hat es oft geheißen, dürfe das Land stolz darauf sein, dass es dazu gelernt habe und das in der DDR von Staats wegen begangene Unrecht verfolgt. Doch der Vergleich ist ganz schief: Die Übeltaten der DDR werden von außen, nämlich von Seiten des bundesdeutschen Rechtes verfolgt. Da ist ein System zum Richter über ein anderes geworden, „Täter” und „Richter” haben nichts miteinander zu tun. Nach 1945 hingegen waren alle Deutschen in ihrer Schmach vereint. Es waren, wie gern gesagt wurde, alle irgendwie schuldig geworden. Deshalb sind beide deutsche Staaten mit den sogenannten „Mitläufern” so milde umgesprungen.
Dass das kein Zustand war, fand zuallererst Konrad Adenauer: Die Denazifizierung, so verkündete er schon 1949, habe „viel Unglück und viel Unheil” angerichtet. Die Nazis in der Bundesrepublik sollten – anders als die Freikorpsmänner nach dem Ersten Weltkrieg – schnell in die neue Demokratie integriert werden.
Davon abgesehen musste der Kanzler sich mit sittlich-psychologischen Erwägungen nicht herumschlagen. Er benötigte die ehemaligen NS-Bediensteten aus praktischen Gründen: „Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen.” Daher sollten wir „jetzt” – 1952 – „mit der Nazi-Riecherei Schluss machen.” Ähnlich äußerte Adenauer sich anlässlich der „Wiederbewaffnung”: „Achtzehnjährige Generäle”, erklärte er, würden ihm die Alliierten schließlich nicht abnehmen. Jens Scholten zufolge fanden sich 1959 im Offizierskorps der Bundeswehr unter 14 900 Berufssoldaten 12 360 ehemalige NS-Offiziere.
Wie Marc von Miquel in seinem Beitrag über die deutschen Juristen erklärt, erkannten schon die Alliierten, dass sie ohne die NS-Juristen nicht auskamen: Wie sonst hätten sie der ausufernden Kriminalität Herr werden sollen? Miquel zeigt, wie die alten NS-Richter fast alle ungeschoren davonkamen (und tut leider Gustav Radbruch und Werner Sarstedt Unrecht, indem er behauptet, sie hätten aus falscher Standessolidarität den juristischen Standpunkt der ehemaligen NS-Richter vertreten). Das immerhin lief im Osten Deutschlands anders: Dort erhielten die NS-Juristen keine „zweite Chance”. Die freien Stellen wurden vielfach durch Laienrichter besetzt. Auf anderen Gebieten waren SBZ und DDR auf das Personal mit den braunen Westen ebenso angewiesen wie Westdeutschland.
...als die neuen Kommunisten
„Karrieren im Zwielicht” konzentriert sich auf die Bundesrepublik. Die ostdeutschen Verhältnisse, die große methodische Probleme aufwerfen, kommen ein bisschen kurz. Damit geht ein anderes Versäumnis einher: Wenn die Bundesrepublik es Hitlers Eliten so leicht machte, dann lag das natürlich auch an dem überwältigenden Antikommunismus, der im Westen das politische Leben dominierte und fast alles rechtfertigte. Die Rolle, die der Antikommunismus spielte, hätte in dem Buch prägnanter herausgestellt werden müssen.
Dies Versäumnis ist heutzutage symptomatisch. Und je mehr die DDR aus dem gemächlichen Fluss der deutschen Zeitgeschichte ausgeblendet wird, desto mehr droht sich eine Art neudeutsche Entsprechung der englischen „Whig- Historiography” herauszubilden: eine schöngefärbte Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, die ganz den präsentablen Themen Verantwortung und Demokratie gewidmet wäre.
Zu diesem nationalen Selbstbetrug wird es hoffentlich nicht kommen. Vorerst ist „Karrieren im Zwielicht” zu begrüßen: Das Buch ist bewegend, ohne bloß zu rühren. Es setzt auf die Kraft der plastischen, präzisen Darstellung. Sie ist fair und nötigt doch den Leser immer wieder, sich über die fernen, fremden von eingebildeter Anmaßung und verstockter Selbstgerechtigkeit durchdrungenen Viten in der jungen Bundesrepublik zu empören. „Karrieren im Zwielicht” ist ein wahrhaft aufregendes Buch.
FRANZISKAAUGSTEIN
NORBERT FREI (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001. 362 S., Abb., 25,50 Euro.
„Kleiner Mann – armer Mann”: So kommentierte der Zeichner E. M. Lang 1949 die Debatte über das Ende der Entnazifizierung.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2002

Die Karrieren gingen weiter
Eliten im Übergang vom "Dritten Reich" zur Bundesrepublik

Norbert Frei/Sybille Steinbacher (Herausgeber): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 168 Seiten, 15,- Euro.

Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2001. 364 Seiten, 25,50 Euro.

Der Sammelband "Beschweigen und Bekennen" eröffnet eine von der Stadt Dachau zusammen mit dem "Jugendgästehaus Dachau" herausgegebene Buchreihe, die wissenschaftliche Projekte zum Konzentrationslager Dachau ergänzen und ein breiteres Publikum erreichen soll. Der Band setzt mit Sybille Steinbachers Rezeptionsgeschichte der Verbrechen in der frühen Nachkriegszeit ein. Sie untersucht die Gründe für die vielfältigen Formen der Wahrnehmungsverweigerung, die Mechanismen, Funktionen und Wirkungen eines sprachlich sakralisierten Umgangs mit den Verbrechen und für die alsbald "habitualisierte Schuldzurückweisung", in deren Mittelpunkt der Topos von der diffamierten Stadt gestanden hat. Sie bleibt damit die einzige aus dem Kreis der Autoren, die ein direkt auf das KZ Dachau bezogenes Thema behandelt. Vier weitere Beiträge geben knappe Überblicke zur Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen in beiden deutschen Staaten, zur Rezeption der Filme "Holocaust" und "Schindlers Liste" sowie zum sogenannten Historikerstreit.

Raphael Gross, Direktor des "Leo Baeck Instituts" in London, erörtert Grundlagen, Frage- und Problemstellungen der aktuellen Diskussion über die "Zeugenschaft", die primäre Erinnerung von Überlebenden der nationalsozialistischen Judenvernichtung, die Vorteile und Schwächen der "Oral History" und den Wert von Masseninterviews. Er geht von dem Provokativen zweier Fälle aus, der "Täterbiographie" des Germanisten Hans Schwerte (Hans Schneider) und dem "Erinnerungsbuch" des Schweizer Autors Wilkomirski (Bruno Grosjean), in denen trotz aller Verschiedenheiten im Detail grundsätzlich mehr Gemeinsames zu entdecken sei, als zumeist vermutet werde.

In beiden Vorgängen zeige sich das "Konstruktive" der verbreiteten Vorstellungen über das Normale und das Außerordentliche in der Geschichte des Nationalsozialismus und der Nachkriegsgesellschaft, über die Grundlagen und Rituale einer "Bewältigungspolitik", die Funktionen und Ziele einer "Vergangenheitspolitik". Da in diesem Kontext die Trennungslinien zwischen der "Realität" und einer "Fiktion" nicht mehr vollständig und klar aufzuzeigen seien, könne es zu Vermischungen der Bereiche kommen, so daß Erinnerungen und Forschungen doppelbödig würden: Schwerte forschte über die "Aufarbeitung" der nationalsozialistischen Diktatur, und Wilkomirski "erinnerte" sich mit erfundenen Geschichten an Grausamkeiten des Lagers, die in allen Einzelheiten in der von ihm zur Fälschung herangezogenen Literatur zweifelsfrei überliefert sind.

Schwieriger Neuanfang

In dem zweiten hier vorzustellenden Buch über "Karrieren im Zwielicht", das sich auf eine von dem Zeithistoriker Norbert Frei und dem Fernsehredakteur Thomas Fischer konzipierte Fernsehserie gründet, überzeugen die gut geschriebenen und sorgfältig recherchierten Beiträge über Mediziner, Unternehmer, Juristen und Journalisten. Marc von Miquel widmet sich den "Richtern in eigener Sache" und zeichnet die einzelnen Stufen der Auseinandersetzung über die Weiterbeschäftigung von Richtern und Staatsanwälten in der Bundesrepublik (vorwiegend im Bereich der zivilen Strafjustiz) nach. Das Ausmaß des juristischen Wirkens in der nationalsozialistischen Diktatur spiegelt sich wenigstens zum Teil in den folgenden Zahlen: Von den bis Mai 1945 ausgesprochenen rund 17 000 Todesurteilen haben Sondergerichte und der Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler 11 000 gefällt; von militärischen Strafgerichten sollen über 50 000 Todesurteile wegen "Desertion" oder "Wehrkraftzersetzung" ausgesprochen worden sein.

Der Neuanfang der westdeutschen Justiz war schwierig, weil es kaum unbelastete Juristen gab. Die erste Phase hatte mit der Aufarbeitung des 1947 mit dem Nürnberger Juristenprozeß gegen 577 Angehörige des Volksgerichtshofs begonnen: "Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen", hieß es im Urteil. In der zweiten Phase rückten bereits die Selbstamnestierungen der deutschen Justiz in den Vordergrund. Mit der gut dokumentierten Kampagne der DDR gegen die ehemals treuen Diener des nationalsozialistischen Staates setzte 1957 ein zähes Ringen um die Schuld des Berufsstandes und nicht selten langwierige Prozesse ein, in denen individuelles Verschulden nachgewiesen werden mußte. Sie wurden in der Öffentlichkeit durch die studentische Ausstellungsinitiative "Ungesühnte Nazijustiz", den Spielfilm "Rosen für den Staatsanwalt" sowie das Engagement des Generalbundesanwalts Max Güde (1959) bekannt.

Verlust an Glaubwürdigkeit

Obwohl sich in den sechziger Jahren ein massiver Verlust an Glaubwürdigkeit abzeichnete, hielt sich die Bundesregierung weitgehend zurück und überließ es den Landesjustizverwaltungen, gegen die krassesten Fälle vorzugehen. Der Autor betont die Bedeutung des 1963 begonnenen Auschwitz-Prozesses und der zwei Jahre später erfolgten Debatte im Bundestag über die Frage der Verjährung für Mordverbrechen - der erzielte Kompromiß gab den Untersuchungsbehörden noch einmal vier Jahre Zeit. Er führt des weiteren den skandalösen Freispruch von Hans-Joachim Rehse (1968) - neben Freisler der am schwersten belastete Richter am Volksgerichtshof - und den Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger (1978) an.

Miquel legt den Schwerpunkt auf eine quellengesättigte relativ dichte Darstellung, so daß das innen- und außenpolitische Klima, die publizistische Begleitung der Entwicklung und der Einfluß einzelner Ereignisse - wie die Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust" und die Enthüllungen von Rolf Hochhuth - nur gestreift werden können. Die von gesetzespositivistischen Vorstellungen geprägte Zurückhaltung vieler Politiker und Parlamentarier, die Verschleppungs- und Verhinderungstaktiken der Juristen und die "Uneinsichtigkeit" der Täter hätten noch stärker herausgearbeitet werden können.

Eine letztlich beschönigende Perspektive nimmt Thomas Fischer in seinem "Vorwort" ein. Er fühlt sich schlimmstenfalls irritiert über die schnelle und nicht nur moralisch bedenkliche Art und Weise, mit der nach 1945 den Mitverantwortlichen für zahlreiche Unmenschlichkeiten eine "zweite Chance" geboten wurde. Außerdem meint er, Skandale um Personen wie Filbinger hätten "die Demokratie letztlich eher gestärkt als geschwächt" - ohne dabei zu erwägen, ob die damals enthüllten sachfremden Einflüsse, persönlich, taktisch und parteilich motivierten Interessenkämpfe nicht zu Reaktionen der Abneigung und des Widerwillens gegen Opportunismus, Klüngelei und Proporzdenken geführt und damit eher negative Folgen gezeitigt haben könnten.

Insgesamt haben die Autoren eine gute Ausgangsposition für dringend notwendige weitere Forschungen geschaffen. Diese sollten sozialgeschichtlich noch breiter angelegt werden und sich auch geographisch nicht so stark begrenzen. Neben biographischen Skizzen zu den noch nicht behandelten Eliten (Verwaltung, Bildung, Technik, Künste oder auch Nachrichtendienste) müßten auch Karrieren von nationalsozialistischen Funktionären in der DDR, in Österreich, Frankreich, der Sowjetunion, der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten thematisiert werden.

BERND SÖSEMANN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Norbert Seitz hält die Arbeit des Historikers Norbert Frei über Hitlers Eliten schlichtweg für "atemberaubend". In dem Buch, das auch Beiträge anderer Historiker wie Tobias Freimüller oder Jens Scholten enthält, stellt sich Seitz zufolge Nachkriegsdeutschland als ein "Eldorado von unermesslicher Toleranz" dar: Mediziner, die Euthanasieprogramme durchführten, Bundeswehrgründer aus der alten Wehrmacht, ökonomische Profiteuren des Unrechts, kriegspropagandistische Journalisten oder schrecklichen Juristen - sie alle trafen nach 1945 auf das weite Herz ihrer Mitmenschen und durften ihre Karrieren in der Bundesrepublik fortsetzen. Die Beispiele ungebrochener Karrieren verweisen dabei nicht nur auf ein Problem der Elitenkontinuität, meint Seitz, sondern auch auf die mental nach 1945 durchaus weiter bestehenden 'Volksgemeinschaft'. Überzeugend findet der Rezensent auch Freis unaufgeregten Ton und sein differenziertes Fazit, wonach die Demokratie letztlich die vielen alten Nazis "einigermaßen schadlos überstanden" habe, und die Skandale um Globke und Oberländer, Filbinger oder Werner Höfer "die Demokratie eher gestärkt als geschwächt" hätten.

© Perlentaucher Medien GmbH