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Gibt es eine europäische Identität?

Produktbeschreibung
Gibt es eine europäische Identität?
Autorenporträt
Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und lehrte an der Freien Universität Berlin sowie der Humboldt-Universität Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2001

Schwaches Quellendestillat
Europäisches Selbstverständnis in Berichten von "Amerikafahrern"

Hartmut Kaelble: Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2001. 268 Seiten, 68,- Mark.

"Das Amerikabild des deutschen Bürgertums vor 1914" - so soll der Titel einer Habilitationsschrift lauten, die ein Mitarbeiter von Hartmut Kaelble aus dem Material zu destillieren hat, das in dem vorliegenden Werk dazu dienen soll, etwas über das Selbstverständnis der Europäer zu ermitteln. Es geht aber tatsächlich nicht um das europäische Selbstverständnis, wie es sich in den Quellen der "Amerikafahrer" der beiden letzten Jahrhunderte darstellt (denn die interessierte Amerika und nicht Europa), sondern um das des Autors. Er verstößt gegen eine Grundregel historischer Erkenntnis, wenn er seine Quellen auf etwas befragt, wonach diese niemals gesucht haben.

Es sind keineswegs moderne "lettres persannes", die es auszuwerten gälte, sondern zumeist schlichte und beliebige Darstellungen des amerikanischen "way of life". Damit dieser dem europäischen Leser verständlich wird, muß natürlich verglichen werden - eben mit europäischen Zuständen, womit auch sonst! Daraus abzuleiten, diese Vergleiche bildeten deswegen das europäische Selbstverständnis ab, wirkt geradezu grotesk, weil doch das angebliche Europabild zu einer bloßen Stanzform des amerikanischen wird. Genausogut könnte man die Berichte der Japan- oder Indienfahrer als Folie benutzen.

Gerade wenn die Idee der "Vielfalt", wie Kaelble richtig feststellt, zum Wesen europäischen Selbstverständnisses zählt, kann man sich nicht auf die Einfalt jener berufen, für die Amerika groß und schön oder bedrohlich und häßlich war. Natürlich gibt es kein einheitliches Amerikabild, weder zeitgenössisch noch im Ablauf der Chronologie, und wer daraus schließt, das gelte auch für Europa, sagt zwar nichts Falsches - trivial ist es doch.

Was nicht in den Quellen steckt, kann man mutig postulieren: Der Idee des "überlegenen Europa" folge die des "bedrohten" und des "andersartigen" Europa. Es ist unschwer zu erraten, daß das irgendwie mit der Geschichte der beiden Kontinente im zwanzigsten Jahrhundert zusammenhängt. Wer aber hätte bislang nicht gewußt, daß der Aufstieg Amerikas schon vor 1914 Bedrohungsängste auslöste und das europäische Überlegenheitsgefühl ins Wanken geraten ließ, der ökonomische Einfluß der Vereinigten Staaten sowohl nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg den "Abstieg" Europas sichtbar machte, Europa den amerikanischen Lebensstandard bewunderte, gleichzeitig aber in seiner "Andersartigkeit" Trost fand?

Nahezu alles wirklich Wesentliche wird ausgeblendet - etwa die Diskussion um die Rassenfrage in den Vereinigten Staaten und in Europa, der Grundgegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der West-Ost-Konflikt und der Antisemitismus. Wenn das alles die Europäer nicht interessiert haben soll, wäre das "europäische Selbstverständnis" dann nichts als ein gelehrtes Phantom? Kaelble gibt sich nicht die geringste Mühe, wenigstens zu erklären, was man unter "europäischem Selbstverständnis" zu verstehen hat.

Wie verfehlt der Ansatz ist, das europäische Selbstverständnis aus europäischen Berichten über Amerika zu destillieren, läßt sich an der Behauptung ablesen, daß der Antisemitismus "in der zeitgenössischen Debatte kaum einmal" auftauchte - so als hätte es Reaktionen auf Chamberlain, Wagner, Lagarde, Lanz von Liebenfels oder Weininger nicht gegeben. Und auch Figuren wie Lenin, Stalin, Mussolini und Hitler sind im Selbstverständnis Europas offenbar nicht präsent, jedenfalls spielen sie bei Kaelble keine Rolle. Dann schon eher die Frauen - doch von der europaweiten lebhaften Diskussion um die "Frauenfrage", die von Amerika ausstrahlte und von Europa nach Amerika zurückschwappte, haben seine Gewährsleute und auch der Autor keine Ahnung. Da sich Kaelble aus unerfindlichen Gründen an oft drittklassige Journalisten und "Gelehrte" hält, die höchst subjektive Amerikaerfahrungen der Nachwelt mitteilen, entgehen ihm die eigentlichen Debatten - sowohl in Amerika als in Europa.

Um ein schlagendes Beispiel aus der Epoche nach 1945 zu nennen: Aus der Rezeption von Henry Kissingers Buch über den Wiener Kongreß läßt sich mehr zum europäischen Selbstverständnis lernen als aus den Rhapsodien von Simone de Beauvoir oder Klaus Mehnert - was nicht gegen diese, sondern gegen Kaelble spricht. Warum der Autor gar nicht erst den Versuch unternimmt, die Ergebnisse der Demoskopie oder der vergleichenden Schulbuchforschung heranzuziehen, bleibt ebenso unerfindlich wie die Ausblendung des Dialogs über das "zerrissene" Europa, wie sie etwa René Brague angestoßen hat. Auch das, was die deutschen Amerikahistoriker in den letzten Jahrzehnten in imponierender Fülle beigesteuert haben, findet keinerlei Berücksichtigung.

MICHAEL SALEWSKI

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nach Michael Salewski hinkt dieses Buch bereits im Ansatz, weil das europäische Selbstverständnis kaum - wie hier geschehen - aus europäischen Äußerungen über Amerika destilliert werden könne. Dadurch werde das "angebliche Europabild zu einer bloßen Stanzform des amerikanischen". Kaelble hat nach Ansicht des Rezensenten darüber hinaus Thesen postuliert, die sich aus Quellen in keiner Weise ergeben bzw. er habe "seine Quellen auf etwas befragt, wonach diese niemals gesucht haben". Auch vermisst der Rezensent die wirklich wesentlichen Fragen, etwa was die Rassenfrage betrifft, den West-Ost-Konflikt, Antisemitismus oder auch die Frauenfrage. Selbst Lenin, Stalin, Mussolini und Hitler tauchen in dieser Darstellung nicht auf, bemängelt Salewski. Darüber hinaus hätte er sich gewünscht, dass Kaelble auch die Ergebnisse europäischer Amerika-Historiker der letzten Jahre mit einbezogen hätte, ebenso wie demoskopische Ergebnisse, Einsichten durch die "vergleichende Schulbuchforschung" sowie den Dialog über das 'zerrissene' Europa.

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