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Der Historiker Alain Corbin geht in das Archiv eines nordfranzösischen Departements, greift sich aus dem Standesamtsregister wahllos einen Namen sowie die dazugehörenden Lebensdaten heraus und versucht nun, das Leben dieses Menschen zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion beschreibt Corbin in seinem Buch Auf den Spuren eines Unbekannten. Es beginnt die spannende Suche nach einem völlig Unbekannten und dessen Lebenswelt im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Stück für Stück holt Corbin das in Vergessenheit geratene Dasein des Holzschuhmachers Louis-Francois Pinagot (1798 - 1876) aus dem Dunkel der…mehr

Produktbeschreibung
Der Historiker Alain Corbin geht in das Archiv eines nordfranzösischen Departements, greift sich aus dem Standesamtsregister wahllos einen Namen sowie die dazugehörenden Lebensdaten heraus und versucht nun, das Leben dieses Menschen zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion beschreibt Corbin in seinem Buch Auf den Spuren eines Unbekannten. Es beginnt die spannende Suche nach einem völlig Unbekannten und dessen Lebenswelt im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Stück für Stück holt Corbin das in Vergessenheit geratene Dasein des Holzschuhmachers Louis-Francois Pinagot (1798 - 1876) aus dem Dunkel der Geschichte ans Licht der Gegenwart. Da Pinagot selbst keinerlei dokumentierte Spuren hinterlassen hat, stützt sich Corbin bei der Zusammensetzung des Puzzles auf die historisch belegten Gegebenheiten im Lebenskreis des Holzschuhmachers. Der Autor wählt in jedem Kapitel eine andere Herangehensweise: z.B. die Betrachtung der geographischen Bedingungen, des persönlichen Umfelds, der Bildungs- un d Sozialgeschichte der Zeit oder der politischen Situation aus der Sicht des kleinen Dorfes. Insofern bietet Corbin auch eine anschauliche Einführung in in die Methodenvielfalt der Geschichtswissenschaften. Auf spannende und fast spielerische Weise kommt der Leser dadurch nicht nur dem vergessenen Holzschuhmacher auf die Spur, sondern auch dem Denken eines berühmten Historikers.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Der beste Detektiv der Welt
Alain Corbin findet einen Unbekannten / Von Michael Jeismann

Zu viel, zu viel, zu viel: Geschichte, Alter, Hinterlassenschaft. Die beladene Gegenwart seufzt - aber zu viel. Ein schmales Rinnsal sind die Spuren ungezählter Toter, winzig das Bündel millionenfachen Lebens, wenn es vorüber ist. Vererbt und vergeben Gegenstände und Vermögenswerte, die man sich zurechnete, verblassend jede Erinnerung. Am Ende sind alle so lange Karteileichen gewesen, bis sie wieder zum unbeschriebenen Blatt werden und eines Tages vielleicht auferstehen in Fiktion.

Dieses unglaubliche alltägliche Verschwinden in der Geschichte kommt den Neuzeithistorikern selten in den Sinn; angesichts von unendlichen Archivmetern, die insbesondere das Fehlende verstecken, kann geschichtsphilosophische Empfindsamkeit, die vom Flüchtigen der Existenz sich anrühren lässt, leicht als Charakteristikum eines unproduktiven Bewusstseins erscheinen. Tatsächlich sind gerade unproduktive, unausgerichtete Empfindungen die Voraussetzung für eine Geschichtsschreibung, der das Widerborstige und das Ungedachte, Motiv und Motivation zugleich sind. Exemplarisch ist das Werk des französischen Historikers Alain Corbin.

Er hat wie kein anderer die Geschichte beobachtet, wenn sie durch den Alltag und die Sinne der Menschen zieht. Und nun ist er also "Auf den Spuren eines Unbekannten" und schreibt über einen Holzschuhmacher aus der Normandie, genauer gesagt, aus einem "Flecken ohne Eigenschaften", von dem er fast nichts weiß. Louis-François Pinagot heißt der Mann, ist 1,66 Meter groß, tatsächlich groß angesichts der durchschnittlichen Körpergröße der Menschen im neunzehnten Jahrhundert. Er ist Sohn eines Fuhrmanns und steht als Holzschuhmacher in etwa auf der gleichen sozialen Stufe wie Tagelöhner in der Landwirtschaft. Über seine Haar- und Augenfarbe ist nichts in Erfahrung zu bringen, da die Musterungsprotokolle seines Jahrgangs verloren gegangen sind. Zum Militär wurde er nicht eingezogen, denn beim üblichen Losverfahren hatte er Glück. Nur aus diesem Grund konnte er mit zwanzig Jahren schon heiraten. Lesen und Schreiben hingegen konnte er nicht. Über sein Gefühlsleben schließlich gibt kein Dokument Auskunft. Er scheint jedenfalls keiner der übermütigen Burschen gewesen zu sein, die nachts in den Weilern Lärm machten, Streiche verübten und sich deswegen später vor Gericht zu verantworten hatten. Vielleicht aber hat er sich einfach nicht erwischen lassen. Auch politisch ist er nicht hervorgetreten, wie weit man das Wort auch fasst. In die Welt hinausgetrieben hat es ihn gleichfalls nicht: Louis-François Pinagot hat den Gemeindebezirk Origny-le-Butin im heutigen Département Orne - gelegen auf halbem Weg zwischen Caen und Le Mans - nur einmal für kurze Zeit verlassen. Er starb mit sechsundsiebzig Jahren. Ganz richtig zieht Corbin im ersten Satz seiner Biographie den fundamentalen Umkehrschluss: "Louis-François Pinagot hat gelebt."

Muss man mehr wissen, will man mehr erfahren? Was kann dieses Personenphantom Pinagot dazu beitragen, dass wir anderes erfahren, als eine elaborierte Sozialgeschichte des "Volkes", der ländlichen Unterschichten und verschiedenen Milieus - hier der Normandie - bereits in Erfahrung gebracht hat? Das ist die Frage - die sich nach der Lektüre des Buchs nicht mehr stellt.

Mit Louis-François Pinagot hat Corbin sich zugleich eine Methode erschaffen, die er selbst mit einem Filmverfahren vergleicht, bei dem die Kamera sozusagen das Auge des Protagonisten ist. Es geht um die Wahrnehmung einer Welt vom Standpunkt eines einzelnen, unauffälligen Menschen. Corbin erliegt nun nicht der Gefahr, in anachronistische Unwissenheit verfallen zu wollen; er weiß, dass er mehr oder doch anderes weiß als sein Held. Pinagot, so kann man es auch sagen, ist Corbins Fokus, er ist der Bezugspunkt, von dem aus der Historiker seine Nachforschungen organisiert. Es handelt sich um Mikrohistorie einerseits; andererseits ist Corbin bei seinem Verfahren darauf angewiesen, von einem allgemeineren Wissen auf Pinagot sozusagen herunterzurechnen. Er füttert das dünne Mäntelchen des Pinagot mit Stoffen und Flicken, die er sich aus den Kleiderbergen vieler Geschichten leiht: aus der Wirtschaftsgeschichte nicht weniger als aus der politischen Geschichte, der Mentalitäts- und Sozialgeschichte, aus allen Bereichen eben, von denen ein Leben berührt und geprägt wird.

Corbin ist in die Tiefe der Sozialgeschichte getaucht und registriert die ins Dunkel getauchte Welt der kleinen Leute auf dem Land, die nach Corbin jeden individualistischen Hochmut, der Anspruch auf Überdauern erhob, verächtlich fanden. Es ist klar, dass Corbin auf dem Grat zwischen Fiktion und Faktizität balanciert - nur sichtbarer und exponierter, als dies Historiker ohnehin stets tun müssen, wenn sie Vergangenheiten rekonstruieren und befragen.

Alain Corbin ist seinem Holzschuhmacher in zehn grundlegenden Lebenssituationen gefolgt: Seine Kamerafahrt beginnt mit dem Raum, in dem sich Pinagot bewegt, sie begleitet ihn auf seinen alltäglichen Wegen; dann blendet sie über zu der Welt der Mitmenschen, zu "Wahlverwandtschaften und Familienverwandtschaft". Wir erleben Pinagot in seiner Berufswelt, treffen Forsthüter und Fuhrleute und erleben, wie die kleinen Leute versuchen, sich den Staatsforst von Bellême für ihre Zwecke nutzbar zu machen, auch auf illegalem Weg, indem sie ihr Vieh dort weiden. Oder wir schauen in die Stuben der Häuser, wo die Frauen erst als Spinnerinnen arbeiten, später aber für den Pariser Markt der Luxuswaren besonders fein gestickte Handschuhe anfertigen. Dann ein neuer Schwenk: in leere Vorratskammern, auf bittere Not, Kinder und Erwachsene, die um Brot betteln. Pinagot schließlich war aber, wenigstens der Theorie nach, seit der Revolution auch Staatsbürger, und er war Mitglied der Pfarrgemeinde. Corbin versucht herauszubekommen, wo die prägenden und bindenden Identitätsbezüge lagen, und nach und nach vervollständigt sich die Fülle von Informationen, Deduktionen und Indizien, die Corbin wie ein meisterhafter Advokat zusammenzufügen versteht, zu einem sehr eindringlichen Bild oder, um bei Corbins Metapher zu bleiben, zu einem außergewöhnlichen Dokumentarfilm eines ländlichen Lebens im Frankreich zwischen Revolution und früher Dritter Republik.

Ein Film, also eine Fülle von Bildsequenzen und Einstellungen, die auch nur umrissweise wiederzugeben schier unmöglich ist. Einige Schlüsselszenen aber seien doch angeführt. Von großer Plastizität ist etwa das erste Kapitel, in dem Corbin den Raum abschreitet, in dem sich Pinagot bewegt hat, den "Raum eines Lebens". Dieses Leben ist an den Wald gelagert und gelehnt, dieser Wald, der unter der strikten Aufsicht der staatlichen Verwaltungsbeamten steht und in dem es keine gemeindlichen Nutzungsrechte gibt. Sehr luzide beschreibt Corbin die Akustik dieses Waldes, der voller arbeitender Menschen ist, der widerhallt von Befehlen und Ausrufen, alles andere als ein romantischer Ort. Es ist kein Ort für Ungeduld, hier herrschen die langsamen Rhythmen: Alle dreißig Jahre findet der Holzeinschlag des Niederwaldes statt, alle hundert Jahre ist der Hieb für die Industrie und nur alle zweihundert Jahre wird für die Marine eingeschlagen. Dieser Arbeitsplatz und Lebensraum wird von den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ab romantisiert, als Ort der Besinnung und der Stille, und nun kommt es zu leicht skurrilen Begegnungen zwischen den Arbeitern der Wälder und den Anbetern des romantischen, verschwiegenen, tiefen Waldes. Corbin zeigt, wie die lokalen und die Pariser Eliten versuchten, nicht nur den Wald zu ästhetisieren, sondern zugleich immer stärker zu reglementieren. Es sollte sogar eine Kennzeichenpflicht für Fuhrwerke eingeführt werden. Wie wohnt Pinagot? In einem Haus mit zwei Öffnungen, nur zwei Öffnungen, weil die Häuser nach Öffnungen steuerlich veranschlagt werden.

Ohne Zweifel ist dieses Werk Corbins verwandt mit denen Hans Medicks über Laichingen (F.A.Z. vom 11. Dezember 1996) oder David Sabeans über Neckarhausen (F.A.Z. vom 15. Juni 1999). Indem der Fokus aber anders gewählt wurde, findet eine Art Individualisierung statt, mit der die Strukturen der ländlichen Klassengesellschaft personell gebrochen, sozusagen prismatisch auftauchen. Mit diesem versetzten Akzent kommt auch ein ethnographisches Moment ins Spiel, das gerade bei endogenen Milieu der Holzschuhmacher so etwas wie einen sozial-biographischen Fatalismus hervorbringt. Wie lange muss es dauern, bis hier Willen zur Veränderung entsteht oder gewollte Veränderungen tatsächlich greifen! Es schwingt etwas Morphologisches mit in dem Buch; wer es liest, wird von dem Gedanken beschlichen, dass diese Geschichtsschreibung, Alltagsgeschichtsschreibung im umfassenden Sinn, eine Idee von einer möglichen zukünftigen, geschlossenen Gesellschaft der vielen kleinen Dienstleister gibt. Ein eigentümlicher Eindruck gewiss und in jedem Fall ein beeindruckendes Buch.

Alain Corbin: "Auf den Spuren eines Unbekannten". Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben. Aus dem Französischen von Bodo Schulze. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1999. 339 S., 3 Karten, geb., 58,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Urs Hafner macht keinen Hehl daraus, dass er Corbins Versuch, in diesem Buch einen "Namenlosen" auferstehen zu lassen, für gescheitert hält. Per saldo habe Corbin gegen seine eigene Absicht Mikrohistorie betrieben, in dem er - zwangsläufig - mehr die Lebensbedingungen und den möglichen Alltag Pinagots beschrieben habe als die Person selbst. Gravierender findet der Rezensent jedoch, dass es Corbin nicht gelingt, dem Leser eine Vorstellung von Pinagots Persönlichkeit zu vermitteln. Kaum sein Name bleibe nach der Lektüre im Gedächtnis des Lesers haften.

© Perlentaucher Medien GmbH