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Die ersten Nachkriegsdeutschen sind im Rentenalter. Fühlen sich beim wehmütigen Blick zurück aber noch jung. Michael Jürgs, geboren im Mai 1945, gehört zu dieser Generation. In heiterer Gelassenheit schildert er jene aufregenden Zeiten, in denen aus der von Nazis geprägten Demokratur ein Land der Freien wurde - die Bundesrepublik. In denen jede noch so kleine Liebe ein großes Abenteuer war, die Helden John Lennon und Willy Brandt, John F. Kennedy und Rudi Dutschke hießen, es nur zwei Fernsehprogramme gab, in den Milchbars die Hormone tanzten und in verrauchten Kneipen die Revolution besungen…mehr

Produktbeschreibung
Die ersten Nachkriegsdeutschen sind im Rentenalter. Fühlen sich beim wehmütigen Blick zurück aber noch jung. Michael Jürgs, geboren im Mai 1945, gehört zu dieser Generation. In heiterer Gelassenheit schildert er jene aufregenden Zeiten, in denen aus der von Nazis geprägten Demokratur ein Land der Freien wurde - die Bundesrepublik. In denen jede noch so kleine Liebe ein großes Abenteuer war, die Helden John Lennon und Willy Brandt, John F. Kennedy und Rudi Dutschke hießen, es nur zwei Fernsehprogramme gab, in den Milchbars die Hormone tanzten und in verrauchten Kneipen die Revolution besungen wurde. Seine Reise in die Vergangenheit wird immer wieder unterbrochen durch Abstecher in die heutige Welt oder durch Begegnungen mit jungen Propheten und Machern des digitalen Fortschritts. Er geißelt zwar zornig die weltweit wachsende Verrohung und Verblödung im Netz, doch bestaunt ebenso im neugierigen Blick nach vorn die unendlichen Möglichkeiten des Internet.
Autorenporträt
Jürgs, MichaelMichael Jürgs war u.a. Chefredakteur des stern. Er hat Biografien über Romy Schneider und Günter Grass, Axel Springer und Eva Hesse geschrieben, Sachbücher wie Der kleine Frieden im Großen Krieg und Wer wir waren, wer wir sind oder Seichtgebiete, eine zornige Polemik über die Verwahrlosung der Sitten, die monatelang ganz oben in den Bestsellerlisten stand.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2017

Als man noch an Liebesheiraten glaubte
Was waren das für Zeiten: Michael Jürgs besichtigt als Autobiograph seine Epoche und landet automatisch bei der Zivilisationskritik

Seit den sechziger Jahren verehrt der Kulturbürger als höchstes Gut einen Geisteszustand, der kritisches Bewusstsein heißt. Es ging darum, das gesellschaftliche Lebens nicht als gott- oder schicksalsgegeben hinzunehmen (wie es die sogenannte breite Masse tat), sondern es im Hinblick auf seine speziellen Nachteile zu durchmustern. Der avancierte Kulturbürger erkennt sich nicht als Mitglied der Gesellschaft, er steht ihr gegenüber. Diese Attitüde verbreitete sich rasch. Man konnte den Eindruck gewinnen, wir lebten in einer Gesellschaft, die mehrheitlich aus Gesellschaftskritikern bestehe.

Das bringt die professionellen Kritiker in eine schwierige Lage. Sie müssen überprüfen, ob sie die Gestaltungen des gesellschaftlichen Lebens billigen, gar lobpreisen wollen. Michael Jürgs, Jahrgang 1945, auf dem Höhepunkt seiner Karriere Chefredakteur des "Stern", wählt den Terminus "Liebeserklärung" für seine Darstellung der Gegenwart. Die Zeiten sind, um den minimal positiven Ausdruck zu gebrauchen, aufregend. Das erfordert eine persönliche Darstellung. Michael Jürgs schreibt Autobiographie. Die "Prinz Eisenherz"-Hefte, die Milchbar als Zentrum der jugendlichen Gesellung, die Ermordung von J. F. Kennedy, die Studentenrevolte, die RAF und so fort. Das alles liegt längst in einer besonnten Vergangenheit. "Im Unterschied zu heutigen Zeiten", schreibt er, "erscheinen damalige globale Krisen fast harmlos." Das ist ein bemerkenswerter Erinnerungsfehler. Der Korea-Krieg, der 17. Juni in der DDR, der Aufstand der Ungarn gegen den sowjetischen Imperialismus, der Mauerbau in Berlin, die Kuba-Krise: Michael Jürgs ist entfallen, dass der Kalte Krieg immer mal wieder mit dem endgültigen Atomschlag zu enden drohte.

Das erklärt sich aus seiner Profession. Medienleute kennen immer nur die Gegenwart, in der apokalyptische Ereignisse sich wenigstens ankündigen. Vom IS, von den Kriegen in Syrien und im Irak zu erzählen lohnt nur, wenn sie den Mauerbau oder die Kuba-Krise, von denen schwere Weltkriegsgefahr ausging, um Längen übertreffen. Aber Jürgs hat es ja auf eine Liebeserklärung abgesehen.

Auftritt Alan Rusbridger, lange Jahre Chefredakteur des britischen "Guardian", "ein Mann mit Haltung, Moral, Mut, ein Vertreter alter journalistischer Primärtugenden", der die digitale Präsentation seiner Zeitung besonders schön hinkriegt und durch intelligente Geschäftsmanöver ihr Weiterleben sichert. Außerdem hat sich Rusbridger vorgesetzt, sein Klavierspiel so zu vervollkommnen, dass er ein komplexes Stück von Frédéric Chopin meisterlich vorzuspielen vermag. Jürgs selbst arbeitet an einer Vervollkommnung seines Klavierspiels - der eigentliche Gegenstand des Lobpreises ist hier das menschliche Gehirn. Welche Möglichkeiten auch noch in späteren Jahren: Die Hirnforschung im Verein mit den Computern und dem Netz könnte uns herrlichen Zeiten entgegenführen!

Ein weiterer Held unter vielen anderen ist Alain de Botton, der geschäftige Essayist, der Bestseller zur Lebenskunst geschrieben hat. Er hat in London eine School of Life gegründet. "Auf eine griffige Formel gebracht", schreibt Michael Jürgs, "lautet ihr größenwahnsinnig cooler Anspruch, die vorhandene Masse der Weisheiten weltweit zu verbreiten. Die Ware ist analog. Die Vertriebswege sind digital." Es geht darum, das richtige Leben im falschen so breit und umfassend wie möglich zu organisieren.

Später im Buch tritt de Botton noch einmal auf, in einem merkwürdig verworrenen Kapitel über die Liebe. Vernünftigerweise verzichte man auf die Illusion, sie könne eine Ehe stiften und lebenslang erhalten. Voller Ironie, wenn nicht Hohn spottet Jürgs über diese jugendliche Illusion, eine romantische Verblendung, die glücklicherweise noch die Jugend von Michael Jürgs bestimmte, im Gegensatz zu den Jungmenschen von heute: "Die haben keine Zeit. Was sie suchen, ist Zeitvertreib. Was sie lieben, ist Sex. Ohne Umwege direkt zum Ziel."

Irgendwann in seinem Buch verliert Michael Jürgs das Genre der Liebeserklärung an aufregende Zeiten aus den Augen und landet bei der gängigen Zivilisations- und Gesellschaftskritik. Einer ihrer beliebtesten Topoi besagt, dass die jeweils heutige Jugend zur Liebe unfähig ist und nur noch die blanke Geschlechtslust erstrebt. Zu meiner Zeit erkannte der Zivilisationskritiker den Sachverhalt in der sinkenden Geburtenziffer; die Jugend von heute will sich nicht binden, sie will nur Spaß. "Schon an ihrem Gang sind Süchtige erkennbar. Gesenkten Hauptes eilen sie durch Fußgängerzonen, starren auf ihre Smartphones, überqueren Kreuzungen ungeachtet des fließenden Verkehrs, rempeln blind für ihre Umgebung jeden nieder, wer ihren Weg kreuzt." Besonders gern empört sich diese Art von Kulturkritik über das neueste Kommunikationsmedium, das die jeweilige Jugend bezaubert.

Die Generation von Michael Jürgs (und des Rezensenten) bekam das in ihrer Jugend an den Comics zu spüren, die das sich bildende Bewusstsein zerstören, wie die Kritik wusste; dann war die mit Rock' n 'Roll gefüllte Schallplatte dran, schließlich das Fernsehen und die Horrorvideos, die einst die Jugendlichen massenhaft brutalisierten.

Diese Art von Kultur- und Zivilisationskritik läuft automatisch ab, wie Michael Jürgs' Buch schön demonstriert: Irgendwann ergreift sie unwiderstehlich die Macht im Text, auch wenn der Autor anfangs ganz andere Ziele verfolgte. Katharina Rutschky entdeckte in ihrer Archäologie der Pädagogik einen Locus classicus dieser Kritik: Ihr Thema war seit dem achtzehnten Jahrhundert die jugendliche und die weibliche "Lesewut". Statt sich mit seiner lebendigen menschlichen und natürlichen Umgebung zu beschäftigen, verschwinde der Leser ungreifbar in seinem Buch. Heute sei es das Smartphone.

MICHAEL RUTSCHKY

Michael Jürgs:

"Gestern waren wir

doch noch jung".

Eine Liebeserklärung

an aufregende Zeiten.

C. Bertelsmann Verlag, München 2017.

347 S., geb., 19,99 [Euro].

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