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Dieser monumentale historische Roman erschien 1945 und hat den Weltruhm von Ivo Andric begründet, der 1961 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Erzählt wird von einer Brücke, die bei Wischegrad, einer Stadt in Bosnien nahe der Grenze zu Serbien, über die Drina führt. Dort, im Herzen Bosniens, treffen sich seit Jahrhunderten die Menschen. Die Brücke verbindet und trennt Orient und Okzident. Der große Epiker Andric entfaltet die Geschichte vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, und er zeigt uns unzählige Figuren - politische Märtyrer und religiöse Eiferer, jüdische Handwerker und islamische Händler, serbische Bauern und österreichische Beamte.…mehr

Produktbeschreibung
Dieser monumentale historische Roman erschien 1945 und hat den Weltruhm von Ivo Andric begründet, der 1961 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Erzählt wird von einer Brücke, die bei Wischegrad, einer Stadt in Bosnien nahe der Grenze zu Serbien, über die Drina führt. Dort, im Herzen Bosniens, treffen sich seit Jahrhunderten die Menschen. Die Brücke verbindet und trennt Orient und Okzident. Der große Epiker Andric entfaltet die Geschichte vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, und er zeigt uns unzählige Figuren - politische Märtyrer und religiöse Eiferer, jüdische Handwerker und islamische Händler, serbische Bauern und österreichische Beamte.
Autorenporträt
Ivo Andric wurde 1882 in Travnik/Bosnien geboren und starb 1975 in Belgrad. Er studierte Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz. 1924 trat er in den diplomatischen Dienst ein, 1939 war er jugoslawischer Botschafter in Berlin. 1961 erhielt Andric den Nobelpreis für Literatur. 2011 erschien bei Zsolnay die überarbeitete Übersetzung von Die Brücke über die Drina und 2016 die überarbeitete Ausgabe von Wesire und Konsuln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2023

Nur eines ist beständig
Mit Ivo Andrics Roman "Die Brücke über die Drina" nach Visegrad. Der Roman erzählt von einem Gefühl, das es in Bosnien nicht mehr gibt.

Die Gewehrläufe waren noch heiß und die Minen frisch gelegt, als Peter Handke 1995 von der anderen Seite an die Drina kam, von der serbischen Provinzstadt Bajina Basta aus, nicht von Sarajevo. In seiner "Winterlichen Reise" versucht er vergeblich, aus dem sanktionsgebeutelten Restjugoslawien, in dem Benzin aus Plastikflaschen fließt, den Grenzfluss nach Bosnien zu übertreten. Ein Polizist weist ihn und seine Freunde zurück. Er kann nur von hüben über den Nebel der Drina in das vom Krieg zerrissene Land blicken. Später, im "Sommerlichen Nachtrag", schafft er es dann doch hinüber und sieht rund fünfzig Kilometer flussabwärts in Visegrad die berühmte alte Brücke über die Drina. Und eine leere, lebensleere Stadt. Aber die Brücke steht immer, egal, wem die Stadt gerade gehört, wie bei seinem Nobelpreisträger-Kollegen Ivo Andric.

Im Winter bin ich zum ersten Mal von Sarajevo gen Osten nach Visegrad gefahren und habe mich gefragt, wie rasch man eine Hauptstadt hinter sich lassen kann. Denn sofort hinter dem zentralen Marktplatz und dem Rathaus von Sarajevo, in dessen Trümmern 1992 ein Cellist trotz Sniper-Angriffen 22 Tage lang für die Opfer des Krieges spielte, beginnt die Nichtstadt. Man blickt auf karge und kalte Gebirge hinter dem Willkommensschild der Serbenrepublik am rechten Straßenrand. Von jetzt an steht die kyrillische Version der gleichen Sprache an erster Stelle auf den Straßenschildern. An renovierten orthodoxen Kirchen und Lebensmittelläden mit Leuchtreklamen für serbische Brauereien vorbei fahre ich weiter die Schlucht der Drina entlang. Bis zur bosnisch-serbischen Grenze wird der grünblaue Fluss immer breiter, bis er kurz vor Visegrad zum Stausee anwächst. Die Brücke ist das erste Anzeichen der Stadt. Von der Magistrale aus gesehen verbirgt sie sich hinter wuchernden Gebüschen.

Ivo Andric, der ewige Südslawe, war die Verkörperung des entgrenzten Raums. Im zentralbosnischen Travnik 1892 in eine katholisch-kroatische Familie aus Sarajevo hineingeboren, wuchs er bei einer Tante in Visegrad auf und studierte in den westlichen Fernen der Donaumonarchie. Während des Ersten Weltkriegs saß er in politischer Haft, während des zweiten schrieb er drei seiner größten Romane, darunter auch "Die Brücke über die Drina", zu einer Zeit, in der er "nicht einmal zwei Münzen" für sein Leben gegeben hätte, wie er später sagte. 1961 gewann er den Literaturnobelpreis.

Ist das überhaupt ein Roman? Andric hat eine vordergründig nüchterne Chronik geschrieben, über fünf Jahrhunderte vom Bau der Brücke bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs - Geschichten, die man sich immer noch erzählt, auch wenn sich alles ändert: wenn man Rum statt Rakija trinkt und die Österreicher auf einmal mit der Eisenbahn kommen und Annexionserklärungen verlesen.

Bosnien ist zwar der Schauplatz, aber Andrics Erzählung ist so universell und metaphysisch, dass sie schon zu vielen allegorischen Zeigefingern geworden ist. Man sehe die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs darin, sagen die einen, der Roman zeige das bald friedliche, bald latent angespannte Zusammenleben von Völkern und Religionen im kommunistischen Jugoslawien, sagen die anderen. Über alldem steht, wie Menschen mit dem Wandel umgehen und wie er Teil von ihnen wird. Andric fragte 1961 in Stockholm in seiner Nobelpreisrede, ob wir nicht in Gegenwart und Vergangenheit alle mit den gleichen Problemen und Phänomenen konfrontiert seien.

Baja Sokolovic, ein Kind aus der Nähe von Visegrad, wird von den im frühneuzeitlichen Bosnien herrschenden Osmanen nach Istanbul entführt, wo er zum Großwesir namens Mehmed Pascha aufsteigt und in seiner Heimat eine Brücke errichten lässt. Wie symbolisch: eine Verbindung von Orient und Okzident, von den in Visegrad Zurückgebliebenen freilich zunächst blöd angeguckt. Andric erzählt, gehüllt in Kleinstadtanekdoten, Physiognomien, Lebensläufe und Alltagsschilderungen, wie die Kapija, der breiteste Teil auf der Brücke, nach und nach zum Drehpunkt der Öffentlichkeit wird. Auf der großen Brücke gibt es viele kleine: zwischen alten und jungen Menschen, zwischen Bauern und Städtern, zwischen Kartenspielern und Händlern, zwischen Serben und Muslimen (und allen anderen!) - und zwischen Begehrten und Begehrenden: "Auf der Kapija und um die Kapija erlebten sie die ersten Liebesschwärmereien, erste Blicke treffen sich im Vorübergehen, erste Zurufe und erstes Geflüster", schreibt der Chronist seines Romans, kästnerhaft guckend im Vorübergehen.

Später, zur Zeit Österreich-Ungarns, kehren die Gymnasiasten aus Sarajevo und die Studenten aus Wien oder Zagreb auf Heimaturlaub zurück nach Visegrad und lungern dort in amerikanischen Anzügen auf der Brücke herum, fast ein Kammerspiel. Singend geht es um das, was an der neuen Welt der Universität läuft, auch um den aufziehenden Nationalismus und die Anfänge der feinen Unterschiede. "In Schülergesprächen folgt jeder seinen eigenen Gedanken", weiß der Chronist. Schade, dass der warme Klang der serbokroatischen Dialoge im Buch nicht ins Deutsche gerettet werden kann: Ganz gleich, welcher Religion oder welchem Volk Andrics flüchtige Figuren angehören, die vielen Turzismen und die Flapsigkeit der Dialoge sind eine Liebeserklärung an den bosnischen Multikulti-Geist. Der Originaltitel des Romans verwendet nicht den serbokroatisch hochsprachlichen Ausdruck für "Brücke", sondern den etymologisch türkischen, und dass die Feiernden der urserbischen und urorthodoxen Tradition der Slava bei ihrer Zeremonie einen Fez tragen, erzählt der Chronist mit genauso beiläufiger Normalität wie vom ausgiebigen Alkohol- und Tabakgenuss der Muslime von Visegrad.

Wer heute durch diese Stadt spaziert, dem wird klar: So etwas wollen die meisten hier nicht mehr, sie wären gerne jenseits der Drina, Teil von Serbien, eigentlich fühlt man sich auch so. Wie bei Andric rauchen und trinken die Leute immer noch zusammen und erzählen sich Geschichten, aber es ist klar, wer in den Cafés und Grillrestaurants die kulturelle Hegemonie innehat. Die Straßen sind nach serbischen National- und Amselfeld-Helden benannt, Graffiti feiern Putins "Spezialoperation", und wenn man über die Brücke in Richtung Altstadt geht, guckt das Denkmal des "dankbaren Volkes von Visegrad" an die "Beschützer der Serbenrepublik" trotzig und heroisch über die Straße, mit orthodoxem Kreuz auf der Brust.

Ivo Andric ist hier Kult: Der Filmregisseur Emir Kusturica hat auf dem in die Drina ragenden Teil des Ortes eine "Andric-Stadt" errichtet, als Kulisse für eine geplante Verfilmung des Romans, freilich mit Versatzstücken von serbisch-orthodox-klerikalem Dünkel in die Ödnis der monokulturellen Gegenwart gedrückt. Gipfel des Aberwitzes ist auf der Halbinsel eine Konditorei mit dem Namen "Sezession", offenbar anspielend auf die vermeintlich baldige Unabhängigkeit des serbischen Teils Bosnien-Hercegovinas. In dem pseudoorientalisch wirkenden Süßigkeitenpalast hängt ein Porträt von Wladimir Putin neben solchen von Che Guevara und Mahatma Gandhi über sehr schmackhafter Baklava in der Auslage. Die städtische Synagoge wurde schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Feuerwehrhaus umgebaut. Mehrere Moscheen gibt es in Visegrad zwar noch - Menschen, die hineingehen, bald wohl keine mehr. 2013 waren 95 Prozent der Einwohner orthodoxe Serben, 1971 nur 44 Prozent. Gut, dass man mit Andric belesen hierherkommt, um zu wissen, wie anders es ehedem gewesen ist.

Nach den blutigen Neunzigern gelesen, erkennt man in der "Brücke über die Drina" viel von dem, was zu dem Bürgerkrieg geführt hat. Ubiquitär ist die Gewalt, die immer auch ethnisch und politisch ist. Der aufmüpfige serbische Querulant Radisav wird von Abidaga, dem osmanischen Verwalter in Visegrad, für Sabotage bestraft, vor den großäugigen Städtern gepfählt und von der Brücke in die Drina gestoßen. Und als man während der Julikrise 1914 die Katastrophe heraufziehen sieht und die Serben, deren Landsmann Gavrilo Princip in Sarajevo das Seine vollbracht hatte, sich bewaffnen wie die Österreicher in Visegrad, da "vergingen die Sommernächte, aber ohne Gesang, ohne die Zusammenkünfte der jungen Burschen auf der Kapija, ohne das Flüstern der Paare im Dunklen". Andric kannte sein Bosnien. Er wusste: Es gab "immer heimliche Hassgefühle, Eifersüchteleien, religiöse Intoleranz und Grausamkeiten, aber auch Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, Gefühle, die all diese bösen Triebe in erträglichen Grenzen gehalten hatten". Der erste Teil seiner Diagnose ist eingetreten.

Ist Andric der Chronist der einen Seite, so Peter Handke der der anderen. "Immer wieder sollen scharenweise Kadaver die Drina abwärts getrieben haben", bringt er eine Frau aus der serbischen Provinz zum Sprechen über den Krieg. Sie kannte aber niemanden, "der das mit eigenen Augen gesehen hatte". Selbst Handke aber, der Balkan-Querdenker, weiß von der Tristesse des ethnisch Reinen: "Nun waren hier in der Grenzstadt die Serben ganz unter sich, und keiner hatte dem anderen mehr etwas zu sagen", beschreibt er Bajina Basta auf der anderen Seite der Drina, von woher er über die Brücke kam. So sieht es heute auch in Visegrad aus. Andrics Buch erzählt von ganz unterschiedlichen Menschen, die zusammenleben und sich etwas sagen. Die Kapitel enden oft mit dem Satz: "Die Brücke steht immer noch." Und auch wenn nach dem jüngsten Kapitel in der Chronik von Visegrad nicht mehr viel von dem steht, wie die Stadt in Andrics Roman wirkt: Die Brücke steht noch. LUCA VAZGEC

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"Ein großes menschliches und historisches Panorama. Was der Moderne zum Problem wurde, die Totalität einer Welt noch überzeugend im Rahmen eines Romans abzubilden, gelingt Andric mit einem ingeniösen Kunstgriff: Er führt vier mitteleuropäische Jahrhunderte durch das Nadelöhr seiner Drina-Brücke. Alles was in diesem Buch geschieht - und es geschieht viel -, ist bezogen auf dieses Bauwerk: Szenen des historischen Umbruchs, Episoden aus dem Alltagsleben, Legenden und Liebesdramen." Wolfgang Schneider, Tagesspiegel, 05.08.2011

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2011

Das Partisanentum
wider sich selbst
Abscheuliche Kerle holt der Teufel: Ivo Andric’ großer Roman
„Die Brücke über die Drina“ Von Thomas Steinfeld
Die Brücke über die Drina ist fast zweihundert Meter lang und gut sechs Meter breit. In elf Bögen überspannt sie den Fluss. Zwei Balkons in der Mitte schufen Platz für Grenzposten, für einen Kaffeeausschenker wie für nächtlich singende Burschen, und jedem Pfeiler ist ein Bug vorgemauert, damit der Bauer starken vertikalen Kräften, der Strömung, widersteht. Das lässt sich auch allegorisch verstehen: „Wenn man sagt ,verbindet‘“, schreibt Ivo Andric in seinem Roman über diese Brücke, „dann ist das schlechterdings dasselbe, als sagte man: Die Sonne geht morgens auf, damit wir Menschen uns umsehen und die notwendigen Arbeiten verrichten können, und sie geht abends unter, damit wir schlafen und uns von den Mühen des Tages ausruhen können. Denn diese große, steinerne Brücke, dieses wertvolle Bauwerk einzigartiger Schönheit, . . . ist der einzige dauerhafte und sichere Übergang am ganzen oberen und mittleren Lauf der Drina und die unentbehrliche Spange auf dem Weg, der Bosnien mit Serbien und, über Serbien hinaus, auch mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul verbindet.“ In der Nachbarschaft dieser Brücke verbrachte Ivo Andric, 1892 als Kind einer kroatischen Familie in Travnik, zweihundert Kilometer weiter nordöstlich, geboren, nur seine frühe Schulzeit. Gelebt hat er dann woanders, in späteren Jahren vor allem in Belgrad.
Die „Brücke über die Drina“ ist ein altes Buch. Zuerst im Jahr 1945 veröffentlicht und 1953 ins Deutsche übersetzt, trug es seinem Autor 1961 den Nobelpreis für Literatur ein. Es ist seitdem auch auf Deutsch immer in mehreren Ausgaben zugänglich gewesen. Wenn es indessen jetzt noch einmal veröffentlicht worden ist, gebunden und mit einem lehrreichen Nachwort von Karl-Markus Gauß versehen, dann liegt das nicht nur daran, dass solche Bücher ein langes und vielfältiges Leben haben müssen, oder daran, dass Serbien in diesem Jahr das Gastland der Leipziger Buchmesse ist.
Es gibt einen besseren Grund, und er erschließt sich erst, wenn man tief in dieses Werk hineingelesen hat: Die Welt, von der dieses Buch handelt, ist in den vergangenen Jahren auf bemerkenswerte Weise geschrumpft, sie ist nicht verschwunden, sondern klein geworden, und nicht nur klein, sondern auch einsam. Aus diesem Schrumpfen ins Unbedeutende, ja ins schon Abseitige entsteht ein eigener Reiz, eine heroische Verlorenheit, nicht unähnlich dem schwankenden, verbeulten Pathos, das der ebenfalls aus Bosnien stammende kroatische Serbe Goran Bregovic heute seinen Kompositionen für balkanische Blaskapellen und trunkene Chöre verleiht.
Denn den Staat Jugoslawien, dem Ivo Andric diente und dienen wollte, zuerst dem Jugoslawien des Königs und dann dem der Sozialistischen Republik, gibt es nicht mehr. Serbien, die politische Instanz, die bis zuletzt an der Idee einer zentralistisch verfassten, sich über mehrere Ethnien erstreckenden Macht festhielt und darüber nicht nur zu aller Welt Feind, sondern zu einer Filiale des Bösen wurde, hat sich in einen kleinen Staat verwandelt, der sich, Schritt für Schritt, der Europäischen Union nähert. Was immer dagegen der Roman von der „Brücke über die Drina“ in den vergangenen Jahrzehnten Anlass zu beschwören gab: die (mehr oder minder) friedliche Begegnung von christlichem Abendland und islamischem Orient, Habsburger und Osmanischem Reich, von Aufstieg und Niedergang Österreich-Ungarns, auch die Hoffnung auf einen „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, für den der Vielvölkerstaat Jugoslawien mit seinen Arbeiterräten stand, ja schließlich auch die Idee von „Mitteleuropa“ und einer den halben Kontinent übergreifenden Ökumene der Dichter und Gelehrten – das alles ist, sagen wir: einer bestenfalls realistischen Betrachtung politischer, kultureller und ethnischer „Verbindungen“ gewichen. Aber die Sonne geht auf, und sie geht unter. Zurück also bleibt: die Brücke.
Es ist die gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtete Brücke, deren Bau, in der Revolte Einzelner gegen die (urbane) türkische Herrschaft, ein Bauer zu verhindern sucht, indem er nachts niederreißt, was tagsüber geschaffen wurde – wofür er gepfählt wird. Es ist die Brücke, an die der starrköpfige Alihoza genagelt wird, mit seinem Ohr, als die Österreicher im Jahr 1878 Višegrad erobern und er sich dem bewaffneten Widerstand widersetzt. Und es ist die Brücke, auf der ein Wachhabender, ein junger russischer Soldat, sich so sehr in ein muslimisches Mädchen verliebt, dass er nicht bemerkt, wie sie einen Gesetzlosen nach Bosnien eskortiert – was ihn das Leben kostet, weil er die Schande einer dienstlichen Verfehlung nicht erträgt.
Um die hundert Menschen führt Ivo Andric über die Brücke, Muslime und Orthodoxe, Juden, Katholiken und Ungläubige aller Art, alte und junge Menschen, Männer und Frauen, Bauern, Händler und Soldaten. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, wenn der Autor ihnen erlaubt, sich aus der Gruppe zu lösen und ihr Gesicht zu zeigen, stehen sie alle für sich selbst, und die Besten von ihnen, die I  nteressantesten, tun es mit dem zerbeultem Pathos eines Einzelnen in unsicherer Partei: „Ein abscheulicher Kerl, hol’s der Teufel“, wobei sich, je machtloser die Menschen sind, die da aufeinander schimpfen (oder sich auf diese Weise Komplimente geben), ins Pathos auch der Ausdruck der Hilflosigkeit mischt – denn wer nimmt schon Rücksicht auf das einfache Volk, wenn die Heere über die Brücke ziehen? Und geht mit der technischen Moderne, die mit dem Sieg Österreichs nach 1878 in diesem Grenzland einzieht, mit der Eisenbahn, den Hotels und Handwerkern, nicht auch etwas Angenehmes verloren, nämlich die Weltvergessenheit einer alt gewordenen muslimischen Toleranz?
Gewiss, es verbirgt sich ein Nationalroman in diesem Buch. Und Karl-Markus Gauß hat recht, wenn er in seinem Nachwort schreibt, Ivo Andric bewerte alle historischen Ereignisse, die er in seinem Werk beschreibt, danach, was sie für einen jugoslawischen Staat bedeuteten. Diesen aber gab es nicht zur Zeit der Niederschrift, er ist allenfalls Hoffnung, Traum von einem Zustand der Versöhnung und insofern aller Geographie, aller Politik entzogen. Tatsächlich verhindert der Autor den Nationalroman im selben Augenblick, in dem er Gestalt annehmen könnte. Denn so viele Wanderungen, historische, soziale, kulturelle, ethnische hält keine Nation aus. Buchstäblich.
Im Frühjahr 1941 musste Ivo Andric, der Botschafter des Königreichs Jugoslawien in Berlin, dem Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt beiwohnen, dem kurz darauf die Eroberung seines Landes durch die Wehrmacht folgte. Seinen Roman „Die Brücke über die Drina“ schrieb er, neben zwei weiteren Büchern, in den folgenden Jahren, zurückgezogen in Belgrad lebend. „Wie oft in der menschlichen Geschichte“, heißt es im Roman über den Beginn des Ersten Weltkriegs, „waren Gewalt und Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden.“ Doch Vorsicht, das ist kein pazifistisches Programm, sondern folgt demselben Gedanken wie die Schilderung der Menschen auf der Brücke. Ivo Andric war kein Partisan, und es ist unsicher, ob er mit den Partisanen sympathisierte. Aber mit dem Partisanentum halten es alle seine Figuren, und auch: mit dem Partisanentum wider sich selbst.
Denn der Partisan ist einfach. Aus der Einfachheit resultiert seine Schwäche, nämlich das Unreflektierte, das Archaische und Halbverrückte, das ihn in hysterischer Höhe dazu treibt, echte wie eingebildete Feinde mit derselben Rücksichtslosigkeit zu bekämpfen und gleichermaßen erbittert auch noch gegen die eigenen Leute vorzugehen. Aus der Einfachheit aber entsteht auch seine Stärke, die Kraft, sich aus dem Sozialen zu entbinden, es abzustoßen zugunsten einer allenfalls vage existierenden, nie gesicherten Bruderschaft.
Den Partisanen an der Macht will man deshalb nicht erleben, und es hat von dieser Art vermutlich zu viele gegeben im ehemaligen Jugoslawien, wütende Nationalisten, die in jedem anderen den Verrat und den Betrug witterten. Wie aber ist es mit dem schwachen, mit dem verminderten Partisanen, mit dem verlorenen Krieger ohne Kampf? Er ist, ästhetisch wie womöglich auch lebenspraktisch, eine interessante Gestalt – und um so mehr in seiner reflektierten Form: eine Figur in schwebender Schiefe, ein Blechbläser, der den Krieg überlebt hat, und sein Horn gleicht einem alten Eimer.
Es gibt viele solche Gestalten in der „Brücke über die Drina“, den italienischen Kunstmaler Pietro Salo zum Beispiel, der mit den Österreichern nach Bosnien kommt und dann nicht über die Tatsache hinwegkommt, dass ausgerechnet ein Italiener die Kaiserin Elisabeth ermordet. Den Säufer Corkan, der sich in eine Tänzerin aus einem vorbeiziehenden Zirkus verliebt und dann in die Totenlegenden eingeht, die von Anfang an die Geschichte der Brücke begleiten.
Im selben Maße nun, wie die historischen und politischen Referenzen dieses Buchs in die Vergangenheit rücken, wie es kein Jugoslawien mehr gibt und kein Serbokroatisch mehr (die Sprache, die im Jahr 1955 im Abkommen von Novi Sad zum gemeinsamen Idiom der Serben, Kroaten und Montenegriner erklärt wurde; Ivo Andric war der erste Unterzeichner dieses Vertrags), im selben Maße auch, wie der Balkan sich in einen Fleckenteppich kleiner Staaten mit engen Bindungen an die Europäische Union verwandelt – im selben Maße nimmt auch dieses Buch partisanenhafte Züge an: Denn auch die Brücke ist einfach, kein Symbol, sondern ein Ding, schlicht da, aus alten Steinen gefügt, vom Hochwasser bedroht und zunehmend allein.
Der Roman endet mit der Sprengung der Brücke durch die Österreicher, im Jahr 1914, am siebten Pfeiler. Selbstverständlich wurde sie wieder aufgebaut. Aber längst gibt es andere Brücken über die Drina, und auf dieser verkehren nur noch die Fußgänger.
Ja, es steckt ein Nationalroman
in diesem Buch, aber der
Autor lässt ihn ungeschrieben
Ein Blechbläser, der
den Krieg überlebt hat, mit
zerbeultem Horn
Die Brücke über die Drina ist einfach. Sie ist kein
Symbol, sondern ein Ding, schlicht da, aus alten
Steinen gefügt, vom
Hochwasser bedroht und
zunehmend allein.

Foto: Mark Owen/
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ausführlich widmet sich Rezensent Thomas Steinfeld dieser mit einem "lehrreichen Vorwort von Karl-Markus Gauß versehenen Neuauflage von Ivo Andrics Klassiker "Die Brücke über die Drina". Serbiens Gastauftritt bei der Leipziger Buchmesse lässt er nur als Anlass für diese Neuedition gelten, denn seiner Ansicht nach muss man diesen großen jugoslawischen Nationalroman unter den Vorzeichen von Serbiens geschrumpfter Rolle auf dem Balkan neu lesen. Hunderte von Menschen führt Andric in seinem Roman über die gewaltige Brücke am Oberlauf der Brücke, Muslime, Orthodoxe und Katholiken, Türken, Österreicher, Bosnier und Serben, Bauern, Soldaten und Händler (mitunter lässt er sie auf ihr auch sehr, sehr grausam sterben). Wie schon in Peter Handkes "Immer noch Sturm" fasziniert den Rezensenten hier besonders die Gestalt des Partisanen, die er beim heutigen Wiederlesen in diesen vielen Einzelnen erkennen will. Denn auch wenn unsicher sei, ob Andric mit den Partisanen überhaupt sympathisierte, die gegen die deutschen Besatzer kämpften, während er zurückgezogen in Belgrad an seinem Roman schrieb, sieht Steinfeld hier dem Partisan in seiner Einfachheit und "Halbverrücktheit" sehr eindrücklich Gestalt verliehen.

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