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Mirsad, ein alter Freund aus Sarajevo, ist angeblich krank, und so eilt ihm die Erzählerin aus Paris mit großem Getöse zu Hilfe. Doch schnell wird ihr klar, es ist keine schwere Krankheit, die Mirsad erfasst hat, es ist der Weltschmerz, den sie so gut kennt. Sarajevo oder Tirana, Serbien, Bosnien, Albanien, "alles Balkan", stellt die Erzählerin lapidar fest. Und der Besuch bei Mirsad gerät mehr und mehr zu einer Reise in die Vergangenheit, zu einem Pendeln zwischen Geschichte im Kommunismus und Gegenwart im Kapitalismus. Nach "Das ewige Leben der Albaner" führt Vorpsi uns nun witzig und…mehr

Produktbeschreibung
Mirsad, ein alter Freund aus Sarajevo, ist angeblich krank, und so eilt ihm die Erzählerin aus Paris mit großem Getöse zu Hilfe. Doch schnell wird ihr klar, es ist keine schwere Krankheit, die Mirsad erfasst hat, es ist der Weltschmerz, den sie so gut kennt. Sarajevo oder Tirana, Serbien, Bosnien, Albanien, "alles Balkan", stellt die Erzählerin lapidar fest. Und der Besuch bei Mirsad gerät mehr und mehr zu einer Reise in die Vergangenheit, zu einem Pendeln zwischen Geschichte im Kommunismus und Gegenwart im Kapitalismus. Nach "Das ewige Leben der Albaner" führt Vorpsi uns nun witzig und geistreich in eine Welt, in der man "Die Hand, die man nicht beißt" am besten küsst.
Autorenporträt
Ornela Vorpsi wurde 1968 in Tirana geboren und studierte an der Akademie der Schönen Künste. 1991 ging sie nach Mailand und 1997 nach Paris, wo sie als Photographin, Malerin und Videokünstlerin lebt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2010

Westgummi hält länger

Das Balkansyndrom: Die albanische Schriftstellerin Ornela Vorpsi erzählt in ihrem zweiten Roman "Die Hand, die man nicht beißt" vom guten Leben, das immer da ist, wo man sich selbst gerade nicht aufhält.

Der Staub legt sich auf alles, auf die Schuhe, die Haare, unter die Fingernägel, auf den Atem. Die Leute leben dicht an der staubigen Erde. Sie riechen nach Schweiß und Grappa, neuerdings vermischt mit westlichen Parfüms. Von der aufdringlichen, schweren Sorte, versteht sich. Im Flugzeug gen Osten macht er sich breit, der Geruch von Füßen, für die nur ein einziges Paar billiger Schuhe existiert. Die neue Freiheit könnte Abhilfe schaffen, von den Gerüchen und dem Heimweh danach, doch wer ein echter Serbe, Bosnier, oder gar Albaner ist, der leidet im goldenen Westen am "Emigrantenkummer". Die Freiheit, das gute Leben ist eben immer da, wo man selbst gerade nicht ist.

Darüber sinniert die Ich-Erzählerin des neuen Romans von Ornela Vorpsi während eines Fluges von Paris nach Sarajevo. Die Schriftstellerin, im Hauptberuf Fotografin und Videokünstlerin, muss es wissen: 1968 in Tirana geboren, lebt sie seit Anfang der neunziger Jahre im Westen, zunächst in Mailand, heute in Paris. 2007 erschien hierzulande ihr auf Italienisch verfasster, Aufsehenerregender Debütroman über das Heranwachsen in der kommunistischen Hölle Enva Hodschas. Darin erwies sie sich als spröde Sprachkünstlerin, als Dichterin der Prosa. In ihrem neuen Roman erzählt sie von den Gestrandeten jener Emigrationsfluten, die mit den politischen Zusammenbrüchen und den ihnen folgenden Kriegen auf dem Balkan in die westlichen Metropolen gespült wurden.

In Sarajevo wartet ein in Mailand seelenkrank gewordener Freund, er verschanzt sich mit seinen Hunden zu Hause und will nicht mehr vor die Tür. Was ihm widerfahren ist, bleibt im Vagen. Doch anstelle als Psychodoktor zu agieren, schliddert die Erzählerin in eine Welt zurück, die sie längst hinter sich gelassen zu haben glaubt. Da vermischt sich der himmlische Geschmack des Börek mit der unangenehmen Erfahrung balkanischer Machismo-Variationen. Beim Abendessen fühlt sie sich an die Hochzeiten ihrer Kindheit erinnert: Erst liegt man sich in den Armen, und im nächsten Moment ballert man aufeinander los. "Auf dem Balkan ist das Drama die Tochter der Großzügigkeit." Die Alten haben zerfurchte Gesichter wie Figuren auf Brueghels Bildern, die Hunde sind dürr und verwahrlost, den Frauen liegt ein bitterer Zug um den Mund, selbst wenn sie lächeln. In der Erinnerung hingegen mutiert der Balkan zum melancholischen Sehnsuchtstopos.

In Albanien konnte man noch von einem Zimmer voller Kaugummi träumen und tagelang auf einem heimlich ergatterten Westgummi herumkauen, auch wenn dieser schon lange nicht mehr nach Pfefferminze oder Erdbeeren schmeckte.

Das bunte Einwickelpapier wurde zärtlich geglättet und liebevoll aufbewahrt, als Lesezeichen in einem Buch oder in einer jener Schubladen, die sich in den engen Wohnungen über Jahrzehnte mit allem möglichen Krimskrams füllten. Fern der Heimat fehlen den Schubladen die Geschichten. Und erst der Raki! Die ganze Welt schwört auf den albanischen Raki, nur in Albanien hat er seine Wirkung scheinbar verfehlt.

Das schmale Bändchen, gut hundert Seiten, die kaum die Bezeichnung Roman rechtfertigen, liest sich flott, zuweilen bleibt man beim Lesen an einem Satz von herber Schönheit hängen, an einem traurigen Bild, wie es so viele in Ornela Vorpsis erstem Roman gegeben hat. Doch fügen sich die Sätze und Anekdoten nicht zum Ganzen, irgendwie und irgendwo verliert die Erzählung vom Leben, das immer anderswo ist, ihren Faden. Den Figuren mangelt es an Gesichtern, der Handlung an Geschichten. Alle leiden am "Balkansyndrom", an jenem "Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu sein", nur dass die Welt davon nichts wissen will.

Der geographische Raum kommt als Ansammlung von Aussagesätzen daher, als homogenes Kulturphantom, als Paprikaeintopf aus Armut, schnapsseligen Männern, Familien-Fehden und einer naiv-protzigen Sehnsucht nach Reichtum, die nicht davor zurückschreckt, marmorne Grabplatten zu plündern, weil sich daraus Badewannen herstellen lassen, wie man sie in westlichen Badezimmern vermutet. Den Letzten beißen in Sarajevo nicht die Hunde, die Hunde, die nicht beißen, sind am Ende die einzigen zu beklagenden Opfer dieser Maladie des Balkans.

SABINE BERKING

Ornela Vorpsi: "Die Hand, die man nicht beißt". Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010. 110 S., geb., 12,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2010

Die Tücken
der Erinnerung
Ornela Vorpsis Roman
„Die Hand, die man nicht beißt“
Majlinda hat einen Ausländer geheiratet, einen Märchenprinzen, was man an den Füßen sieht. Wenn sie ihren Holländer nachts betrachtet, untersucht sie jeden Zentimeter seines wundervollen Ausländerkörpers, aber erst der Anblick der Füße lässt ihre Liebe grenzenlos werden: „Diese Sohlen sind wie neu. Es sieht so aus, als hätte er nie einen Fuß auf den Boden gesetzt, um zu laufen. Etwas Kindliches, Makelloses ist noch an seinen Füßen. Und wenn er diese Makellosigkeit an den Füßen hat, hat er sie bestimmt auch in seiner Seele.“
In den eigenen Füßen sieht Majlinda bloß die „armseligen Glieder“ der Großmutter, die „Arbeiterfüße“ der Mutter und die „ungebändigten Zehen“ des Vaters. In ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Buch, „Das ewige Leben der Albaner“, nahm die in Paris lebende, italienisch schreibende Autorin, Photographin und Videokünstlerin Ornela Vorpsi ihre eigene Kindheit und Jugend als Folie für die durchwachsene Geschichte und Gegenwart ihres Landes. Jetzt geht es, ähnlich konzentriert, um das Verhältnis, das die Albaner zum Rest der Welt unterhalten.
Vorpsi geht wieder von einem Ereignis aus, bei dem man einen biographischen Hintergrund vermuten darf: Am Telefon hört die Ich-Erzählerin ihren alten Freund Mirsad, der in Sarajevo lebt, jammern. Es geht ihm wirklich schlecht. Seit Monaten, sagen ihr andere, habe Mirsad sein Haus nicht verlassen: „Er lässt sich sterben“, denkt sie, „und dann wird sein Tod an mir nagen, solange ich lebe.“ Sie wird wohl hinreisen müssen. „Auf Reisen“ beginnt das Buch, „habe ich gründlich begriffen, dass ich nicht fürs Reisen geboren bin.“
Ornela Vorpsis so gelassener wie knapper, poetischer Stil unterscheidet sich wohltuend vom inzwischen seriell daherkommenden Lebensprallen vieler Durchschnitts-Ostprodukte. Die Übersetzung von Karin Krieger vermittelt einen nahezu umgangssprachlichen, bis in jede Einzelheit durchgearbeiteten Ton, der für Überraschungen gut ist. Manche geben sich als Märchen: „Ich träume davon, in meinem Bett zu verreisen. ( . . . ) Ich sage dem Bett, dass ich morgen in Sarajevo sein muss. Ich weiß nicht, ob ich mich an die Matratze, an das Holzgestell oder an die Laken wenden soll, daher beschließe ich, das Bett als Ganzes zu bitten.“
Andere treiben die Schwierigkeiten zwischen balkanischen Völkern ironisch, aber unnachgiebig auf die Spitze. Etwa in jenem Witz, den ein serbischer Freund in Paris erzählt, wobei er unglaublich lacht. Der Witz handelt davon, wie drei Reihen Albaner von Serben erschossen werden. Die Frage: Wollt ihr Serben werden, wird dreimal beantwortet, doch selbst die Antwort der dritten Reihe, „Ja“, nützt nichts.
Ornela Vorpsi, 1968 in Tirana geboren, ist, wie die Ich-Erzählerin, über Italien nach Paris gekommen, schreibt nicht in ihrer Herkunftssprache und auch nicht in der Sprache des Landes, in dem sie lebt. Sondern auf Italienisch. Ihre Ich-Erzählerin setzt sie in Sarajevo auf einen dritten Stuhl, lässt sie auf sachliche Weise Distanz wahren. Souverän changiert sie zwischen dem schmalen, aber belastbaren Erzählstrang der Rückkehr ihrer Heldin in den Balkan und Erinnerungen an eigene und fremde Emigranten-Stories.
Mit den Mitteln der Reduktion erreicht Ornela Vorpsi eine beachtliche Wirkung. Aus einer Kindheitserinnerung entwickelt sie eine Beschreibung der scheinbar unkomplizierten albanischer Sitten. „Ich stoße die Haustür auf. Hier bei uns kündigt man sich nicht telefonisch an. Es gibt nicht mal ein Telefon. Man kommt vorbei. Wenn der Besuchte schläft, weckt man ihn eben, wenn er krank ist, geht man zu ihm, um ihn mit ein paar netten Worten zu trösten, und wenn er gerade beim Essen ist, fragt er dich: Möchtest Du ein paar Bohnen? Ein Stück Brot mit Öl?“
Doch umstandslos geht die Idylle in Schrecken über. Es ist Sonntag. Der Vater des Freundes langweilt sich und verprügelt seine Frau. „Der Mann hält eine geöffnete Schere in der Hand und zielt damit auf die Kehle der Frau.“ Plötzlich wirft der Vater die Schere weg und verschwindet. Die Mutter weiß nicht, wohin. Der Freund der damals elfjährigen Ich-Erzählerin sagt: „Keine Sorge, Mama, wenn ich groß bin, heirate ich dich.“
Woran es in der Gegenwart dem unglücklichen Mirsad, der behauptet, es mangle dem Westen daran, die Wahrheit des Ostens zu begreifen, wirklich fehlt, bleibt in der Schwebe. Und die zur Rettung einer unglücklichen balkanischen Seele heimgekehrte Erzählerin bleibt auf dem Balkan fremder als jede Europäerin. Zur Klugheit des schmalen Buches gehört, dass es die Illusion zerstört, man könne sich auf die Heilkraft der Erinnerung verlassen.
Am Ende zerstreiten sich der Unglückliche und seine Möchtegern–Retterin. Die Rückkehrerin auf Zeit beschließt, ihren Pariser Freunden einen Börek mitzubringen und nichts von Mirsad, der verschwunden ist, zu erzählen. Zu Hause legt sie sich auf den Fußboden, schließt die Augen und hört die Stimme von Sarah Vaughan. „Hier endet meine Reise. In ihren Noten, fern von allem, was mir nah ist.“
HANS-PETER KUNISCH
ORNELA VORPSI: Die Hand, die man nicht beißt. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Zsolnay Verlag, Wien 2010. 112 Seiten, 12,90 Euro.
„Auf Reisen habe ich gründlich
begriffen, dass ich nicht
für das Reisen geschaffen bin“
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wärmstens empfiehlt Hans-Peter Kunisch Ornela Vorpsis Roman "Die Hand, die man nicht beißt",der sich seiner Meinung nach in seiner stilistischen Knappheit und seiner poetischen Sprache äußerst wohltuend vom "Durchschnitts-Ostprodukt" der Gegenwart absetzt. Die albanische Autorin, Fotografin und Videokünstlerin, die heute in Paris lebt und auf Italienisch schreibt, lässt eine Ich-Erzählerin aus Paris nach Sarajewo reisen, um einem verzweifelten Freund beizustehen. Der Rezensent ist sich ziemlich sicher, dass Vorpsi auch hier Autobiografisches verarbeitet, wobei ihm die kritische Distanz auffällt, mit der die Ich-Erzählerin eigene und fremde Erinnerungen, die auf dieser Reise auf sie einströmen, schildert. Kunisch ist von der "Klugheit" diese Buches fasziniert, in dem kein Zweifel daran gelassen wird, dass es so etwas wie "Heilkraft der Erinnerung" nicht gibt, und er findet, dass die Autorin mit großer Souveränität ihren Erzählstrang der Rückkehr in die alte Heimat entwickelt.

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