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'Eine Familie, drei Generationen, die Geschichte der Bundesrepublik: Robert Freytags Großvater Erich, der Kriegsheimkehrer, der seine Frau an eine andere Frau verliert. Roberts Eltern, die Schriftsteller Nora und Rolf, die sich in einer Amour Fou zerfleischen und über ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und freier Liebe zugrunde gehen. Robert selbst, der zwischen der Geborgenheit im Haus seiner Großeltern und dem enthemmten Leben der 68er aufwächst, immer auf der Suche nach dem eigenen Glück, das so schwer zu finden ist. Oskar Roehlers Roman ist die Geschichte einer Familie und zugleich…mehr

Produktbeschreibung
'Eine Familie, drei Generationen, die Geschichte der Bundesrepublik: Robert Freytags Großvater Erich, der Kriegsheimkehrer, der seine Frau an eine andere Frau verliert. Roberts Eltern, die Schriftsteller Nora und Rolf, die sich in einer Amour Fou zerfleischen und über ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und freier Liebe zugrunde gehen. Robert selbst, der zwischen der Geborgenheit im Haus seiner Großeltern und dem enthemmten Leben der 68er aufwächst, immer auf der Suche nach dem eigenen Glück, das so schwer zu finden ist. Oskar Roehlers Roman ist die Geschichte einer Familie und zugleich ein sehr persönliches Zeitdokument von großer poetischer Kraft.
Autorenporträt
Oskar Roehler wurde 1959 als Sohn der Schriftstellerin Gisela Elsner und des Schriftstellers und Verlagslektors Klaus Roehler geboren. Er wuchs in London, Rom und Nürnberg auf. Seit Anfang der 80er Jahre lebt Roehler in Berlin, arbeitete zunächst als freier Journalist und Autor. 1984 erschien bei Luchterhand der Erzählband "Das Abschnappuniversum". Seine Filmkarriere begann Oskar Roehler als Drehbuch-Autor. Er drehte u.a. die Filme "Silvester Countdown", "Gierig", "Latin Lover" und nach "Die Unberührbare" "Suck my Dick".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2011

Das Logbuch des Entkommenseins
Oskar Roehler, gefürchtet als Filmregisseur, hat einen Roman geschrieben: "Herkunft", ein Wagnis, ein Wahnsinn

Gerechtigkeit ist kein Programm. Nicht, wenn jemand einen Roman schreibt, der von den eigenen Eltern handelt. Und schon gar nicht, wenn diese Eltern so waren wie die von Oskar Roehler, 52, Autor und Regisseur von Filmen wie "Die Unberührbare", "Jud Süß - Film ohne Gewissen" oder "Elementarteilchen". Die Mutter, die Schriftstellerin Gisela Elsner, setzte sich ab, als er drei war, der Vater, der Lektor und Autor Klaus Roehler, vernachlässigte den Sohn, wenn er glaubte, sich um ihn kümmern zu sollen; die Großeltern kümmerten sich, so gut es eben ging, weil sie glaubten, ihn nicht vernachlässigen zu sollen.

Gerechtigkeit ist der Tod aller Prosa, die aufs Ganze geht, in der einer etwas über sich selbst erfahren will, indem er eine, seine Geschichte erzählt und sie, so schlicht wie bestimmt, "Herkunft" nennt. Natürlich muss man dann auch fragen, ob es ein autobiographisches Buch sei. Roehler hat die Frage längst auf seine Weise beantwortet: "Zu 28,75 Prozent", hat er dem "Kölner Stadtanzeiger" gesagt.

Auf dem Buchumschlag steht "Roman", und hinten findet sich die rituelle Formel: "Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden und realen Personen wäre rein zufällig." Das ist schon okay. Fiktion und Wirklichkeit sind ja längst verschmolzen. Wer, nur zum Beispiel, in einer Suchmaschine nach Bildern von Roehlers Mutter Gisela Elsner schaut, der wird zuerst Hannelore Elsner sehen, die in der "Unberührbaren" jene Schriftstellerin spielt, die Roehlers Mutter nachempfunden ist, mit Kleopatra-Perücke und mächtigen Kajal-Balken.

"Ich musste einiges abarbeiten", hat Roehler in einem Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung" vor zwei Jahren gesagt. Er hat damit öffentlich schon vor mehr als elf Jahren angefangen, als er "Die Unberührbare" drehte, eine Fiktion, deren Rohstoff die letzten Tage im Leben seiner Mutter waren, die sich 1992 aus dem Fenster einer Psychiatrischen Klinik in München stürzte. Damals hieß diese Mutter Hanna und der Vater Bruno, jetzt heißen die Eltern Nora und Rolf, im Film hieß der Sohn Viktor, im Roman heißt er Robert, aber schon der Name Oskar ist ja einem Roman entliehen, der "Blechtrommel", weil Roehlers Vater zeitweise Lektor von Grass war.

Gewidmet hatte Roehler den Film seinem Vater, der 2000 verstarb. Der Roman ist niemandem gewidmet, und es mag sein, dass Roman wie Film auch eine spezielle Form von Psychotherapie sind, für die es keine Methode gibt und keine Erfolgskontrolle. Die entscheidende Frage ist, ob es ein gutes Buch ist. Und es ist nicht nur gut, es ist stark, es berührt, erschüttert, es klingt mal wie ein Aufschrei, mal wirkt es wie eine Vivisektion, es hat etwas Befreiendes, und es hat eine Sprache, die für all diese gefährlich schwankenden Gemütszustände den Ton und die Bilder findet.

"Herkunft" beginnt im Jahr 1949, in der pränatalen Welt des Erzählers. Ein Stück Familienarchäologie, eine Etappe in der Geschichte dieser Republik. Ein Blick voller Neugier und auch Empathie, auf den Großvater, den Kriegsheimkehrer, den Gartenzwergfabrikanten; auf den Vater, auf dessen Schriftstellerträume. Roehler hat die Orte der Vergangenheit noch mal bereist, die Briefe der Eltern gelesen, die 2001 unter dem Titel "Wespen im Schnee" erschienen sind. Er hat sich vorgestellt, was war - und was hätte sein können. In glühenden Sätzen und in eisigen Beobachtungen, mal von Melancholie durchzogen, mal von unbändiger Lebensgier.

Von Anfang an ist der Ich-Erzähler da, aber er tritt zur Seite, fast zweihundert Seiten lang, in denen es um Großeltern und Eltern geht; wie Nora und Rolf einander kennenlernten, nach Luft ringend in den erstickenden Mittfünfzigern, in Nürnberg und im fränkischen Stein, am Fuße eines Bergs, der Walberla heißt. Aber es ist eben auch eine Suche nach sich selbst, nach dem irreversiblen Moment, in dem die Verliebtheit umschlug in eine amour fou. "Hier hätte mein Vater Rolf Freytag noch einmal die Gelegenheit gehabt, seinem Leben eine Wendung zu geben. Er tat es nicht." Und so kommt der Erzähler zur Welt, das Kind, das die Mutter nicht wollte, das sie, im Roman, dem Vater unterschob, was sie dem Sohn später, an einem Abend im "Hofbräuhaus", als sie politisch, literarisch längst gescheitert war, erzählen musste, unbedingt. Und dagegen steht die Erinnerung des Dreijährigen, "wie meine Mutter vorher im Fahrstuhl geisterhaft verschwunden war, einfach so, ohne etwas zu sagen, ein dunkles Mysterium meiner Kindheit. Ich habe sie seither nie wieder als meine Mutter gesehen."

Das Kind Robert wird nach der Scheidung abgestellt bei den Großeltern väterlicherseits, aber auch gerettet, es geht für kurze Zeit auf in dem, was ihm später als fränkische Idylle erscheint: "Man pilgerte nach Hause und fraß, was nur ging. Viele Jahre später wird dem Erzähler dieses Leben ungeheuer dicht, ungeheuer gleißend und verheißungsvoll vorkommen. Näher wird er sich vielleicht nie mehr gekommen sein." Dann holt der Vater ihn zu sich, nach Berlin, Robert wird zum Schlüsselkind, das sich herumtreibt, verwahrlost, weil der Vater Frauen aufreißt, zecht, den Siebenjährigen durch den Friedenauer Literaturbetrieb der mittleren Sechziger schleift. Ein Kind, das immer mit dem Gespenst der Trennung lebt: "Schemenhaft wirkten nun die Beteuerungen, dass das, was geschah, nur das Beste für uns sei. In ein trügerisches Licht geriet allmählich jede vertrauenerweckende Geste von früher, jedes Lächeln, jedes sanfte Streicheln des Kopfes, jedes Abendbrot, jeder Spaziergang."

Die Eltern der Mutter holen ihn aus dem Berliner Sumpf, in die Nürnberger Villa mit dem nierenförmigen Pool, der scheiternden Schwester, der Migräne der Großmutter. Er wird ins Internat geschickt, das der Vater, längst zum "Phantom" geworden, nicht bezahlen will. Es ist ein einziges Hin- und Hergeschobenwerden, ein Umherirren, aus dem der Wunsch nach Symbiose, nach Zugehörigkeit erwächst, die er in den Nachbarsfamilien sucht. Und die er bei Laura findet, der Nachbarstochter in Stein: "Ich erwartete nichts von ihr, außer dass sie immer für mich da war."

Roehlers Blick ist so genau und scharf, dass er unbarmherzig erscheinen könnte, wenn er die Aufsteiger-Spießer-Hölle beschreibt, die Anfälle von Zerstörungswut schildert, die Rachewünsche grell ausleuchtet. Aber es ist eher ein Aushalten, die Entschlossenheit, sich nicht abzuwenden. Seine Augen, könnte man sagen, bleiben trocken, ohne die Tränen des Selbstmitleids, die den Blick verschleiern würden. So kommt das Monströse zum Vorschein, das Obszöne, das Abseitige, Peinliche, Schamvolle, das immer auch in Roehlers Filmen war - wie ein fernes Echo aus den Romanen der Mutter, deren Spießbürger-Satire "Die Riesenzwerge" (1964) sie zum frühen Fräuleinwunder des Literaturbetriebs machte. "Ich musste irgendwann aus mir hinaus und in der Welt einen Graben ausheben, tief genug, meine Eltern für immer verschwinden zu lassen, eine Schlucht."

"Herkunft" ist ein Logbuch des Entkommenseins: der Urszene, den endlosen Streitereien, den familiären Verwerfungen, der eigenen Ohnmacht, dem Umstand, dass Robert Mitte der siebziger Jahre in Berlin "vorübergehend der Drogendealer meiner Mutter (wurde). Ich schickte ihr billiges, polnisches Speed in Reclam-Heftchen, in die ich vorher mit der Rasierklinge Löcher geschnitten hatte." Selbst wenn nur diese 28,75 Prozent von alldem autobiographisch wären, kommt es einem beim Lesen wie ein mittleres Wunder vor, dass Oskar Roehler heute eine bürgerliche Existenz führt, dass er, durchs Kino und die Literatur, einen Weg gefunden hat, sich dem Strudel dieser "Herkunft" zu entziehen.

Gegen Ende von "Herkunft" klingen manche Sätze schon kathartisch: "Ich würde die Teile auflesen, ausgraben auf meiner langen Wanderung. Und eines Tages zusammensetzen." Und es ist dann eine so großartige wie großzügige Idee, wenn sich das Erzähler-Ich schließlich ganz leise aus seiner Geschichte davonstiehlt. Der Epilog gehört Lauras Mutter, und Laura, sie ist der wunde Punkt, die Kindheits- und Jugendliebe, die sich nicht in die Erwachsenenwelt hat retten lassen; sie ist so unvergessen wie unerreichbar in die Vergangenheit gefallen. "Doch dieses vor Glück strahlende Lächeln des jungen Mädchens, das voller Zuversicht und Hoffnung auf ihre große Liebe blickt, würde nie wieder auf das Gesicht ihres Kindes zurückkehren" - das ist der letzte Satz des Buches, und er trifft einen Ton, der sehr lange nachhallt.

Inzwischen heißt "Herkunft" auch "Die Quellen des Lebens", ist zum Drehbuch geworden, das zurzeit in Köln zum Film wird, mit Jürgen Vogel, Meret Becker, Moritz Bleibtreu und vielen anderen. Von einem solchen epischen Projekt, das mehr als drei Jahrzehnte Bundesrepublik umspannt, habe er schon lange geträumt, sagt Stefan Arndt, der das Neun-Millionen-Euro-Projekt für X-Filme produziert: als einen langen Kinofilm, aus dem anschließend ein Zweiteiler für ARD und Arte werden wird. Im Moment, sagt Arndt, 50, gebe es für seine Generation jeden Tag so peinigende wie erhellende Zusammenstöße mit der Vergangenheit, mit Schlaghosen und Plateausohlen, mit "Morning Has Broken" und "I'd Love You to Want Me", mit dem Klammerblues von damals, mit all den Dingen, an die nicht nur Arndt zuletzt Ende der siebziger Jahre gedacht hat.

Doch erst einmal ist da dieser Roman, der vielen deutschen Schriftstellern höllische Angst einjagen müsste - wenn Oskar Roehler nicht beschlossen hätte, weiter Filme zu machen, anstatt den Literaturbetrieb aufzumischen. In all seinen Unebenheiten hat dieser Roman eine ungeheure Wucht. Er schenkt einem das Vertrauen wieder, dass sich mit der Kraft der Sprache nicht nur ein Bild der eigenen Lebensgeschichte entwerfen lässt, in dem man sich mit Schrecken und mit Erleichterung wiedererkennt; sondern dass in diesem Bild auch wie von selbst das Porträt einer Generation durchschimmern kann.

Ein Buch, das die Welt zeigt, über die 1968 hereinbrach, und das zugleich die Karikatur, in die das Selbstverwirklichungsideal der 68er sich verwandelte, am Beispiel einer Jugend schmerzlich erfahrbar macht. Es ist ein Roman, der keinen faulen Frieden sucht mit den 68er-Eltern, der aber auch nicht dem selbstgerechten Furor verfällt, mit dem die 68er die Generation ihrer Eltern tribunalisierten. Er ist voller Schmerz, Leidenschaft und Trauer, voller Vitalität, pubertärer Todessehnsucht und trotzigem Überlebenswillen - weil er unbeirrbar dorthin geht, wo es weh tut. "Herkunft" ist ein Roman, den jeder gelesen haben muss, der wissen will, wie wir Kinder der späten fünfziger Jahre zu denen wurden, die wir heute sind.

PETER KÖRTE

Oskar Roehler: "Herkunft". Roman. Ullstein, 585 Seiten, 19,99 Euro. Erscheint am 14. September.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2011

Von schlechten Eltern
Der Filmregisseur Oskar Roehler hat einen ebenso bedrückenden wie berückenden Familienroman geschrieben: „Herkunft“ erzählt von der Kindheit der Bundesrepublik
Nein, er hat sich nicht die Kellertreppe hinabgestürzt, um das Wachstum einzustellen. Und er hat auch nicht die Schlegel gerührt, um den Untergang seiner Familie mit Trommelwirbeln zu begleiten. Und er verfügte schon gar nicht über die Fähigkeit, so hochfrequent zu kreischen, dass in der näheren Umgebung die Fensterscheiben zersprangen. Doch wenn der Kinoregisseur Oskar Roehler seine Stimme erhebt in dem Buch, das er jetzt geschrieben hat, um sie erst sechshundert Seiten später wieder zu senken, so ist das ein einziger Aufschrei, der über drei Generationen und gut vierzig Jahre deutscher Geschichte hinwegträgt und von dieser Zeit nicht mehr als einen Scherbenhaufen übrig lässt.
Doch sollte man diesen wütenden Familienroman, der den apodiktischen Titel „Herkunft“ trägt, nicht für eine Abrechnung mit der Hagiographie der Gruppe 47 vereinnahmen, wie es das konservative Feuilleton mit einiger Häme getan hat. Zu den Vorzügen des Buches gehört es gerade, dass Roehler das Private vom Politischen trennt. Dass der Nazi-Großvater deutlich besser wegkommt als die 68er-Eltern, hat mit menschlichen Eigenschaften zu tun, über die Vater und Mutter in ihrer Egomanienicht verfügen.
Genauso wenig jedoch muss man sich darum in die sentimentale Emphase einer Jugendgeschichte hineinkuscheln, wie es die progressive Literaturkritik vorgemacht hat. Wenn einer 1959 geboren wurde, in dem Jahr, als Günter Grass’ „Blechtrommel“, das ratifizierte Hauptwerk der Nachkriegsliteratur, erschien, und er nach dessen Helden Oskar heißt, und wenn seine Eltern die Schriftsteller Gisela Elsner und Klaus Roehler, beide Mitglieder der Gruppe 47, sind, kann man ihn getrost als ideelles Kind des literarischen Deutschland bezeichnen, das sich in seinem Fall als Rabenvaterland erwies. Dabei ist es eine böse Pointe, dass Oskars Name ihn zeichnet als ungewollt, denn auch sein Namenspatron, Grass’ Oskar Matzerath, war ein Unfall. „Deine Mutter hatte recht! Sie hätte dich damals abtreiben sollen!“, sagt der Vater dem Jungen, der im Roman Robert heißt, Jahre später, als aus dem ungeliebten Kind ein schwer erziehbares geworden ist.
Um zu verhindern, dass Robert zur Welt kommt, hat die selbstzerstörerische Gisela alias Nora nichts ausgelassen. Sie, die schon als Nürnberger Schulmädchen in der Kellerbar der elterlichen Villa regelmäßig abstürzt und sich später mit Kleopatraperücke und schwarzen Kajalbalken zur Ikone stilisiert, trinkt und raucht auch in der Schwangerschaft exzessiv. Das Kind hat sie ihrer Jugendliebe Rolf – hinter ihm verbirgt sich Klaus Roehler – untergeschoben. Robert ist das Ergebnis einer Bar-Bekanntschaft. Um das ungeborene Kind zu retten, stellt Rolf sie unter Quarantäne, schleift Nora in ein bayerisches Dorf, versteckt Alkohol, Zigaretten und spitze Gegenstände vor ihr, mit der Folge, dass Nora in den eiskalten Starnberger See geht, um das Kind zu verlieren. Als die Hebamme ihr nach der Entbindung das Baby zeigen will, guckt sie weg und sagt: „Schaffen Sie dieses Bündel fort, ich will damit nichts zu tun haben.“
Damit beginnt für Robert eine Kindheit, die sich nur als Martyrium beschreiben lässt: Um die Familie durchzubringen, geht Rolf als Lektor nach Frankfurt. Tagsüber bleibt das Krabbelkind in der leeren Wohnung sich selbst überlassen. Von seiner Mutter sieht Robert nichts als die Nikotinschwaden, die durch den Schlitz der verschlossenen Tür dringen. Je lauter er weint, desto lauter hämmert Nora auf ihrer Schreibmaschine dagegen. Schriftstellerfreunde geben Erziehungstipps und raten, das Baby oben auf den Schrank zu setzen, wenn es zu laut schreit. Natürlich stürzt Robert immer wieder herunter, doch wenn er zwischen Wand und Schrank feststeckt, empfindet er das Grauen als eine Art Ersatz für die fehlende Geborgenheit.
Wenn Rolf abends heimkommt, muss er seinen Sohn von den verschissenen Windeln befreien. Wund wie der Babypo ist dessen Seele. Einmal fordert der Vater Robert auf, zuzusehen, wie er Nora von hinten auf der neuen Siemens-Waschmaschine vögelt – ein Protest gegen das Geschenk der Schwiegereltern, dessen Gegenwert ihn der leidigen Erwerbspflicht für einige Zeit enthoben hätte. Als Nora bei einer Tagung der Gruppe 47 liest, kommt es zum Bruch. Rolf fällt mit seinem Text durch, Nora avanciert aus dem Stand zum neuen Fräuleinwunder der deutschen Literatur. Nach Hause kommt sie nur noch ein einziges Mal: um ihre Sachen abzuholen. Da ist Robert drei Jahre alt und wird abgeschoben werden – vom Vater zu den Großeltern, von dort ins Internat.
„Herkunft“ beginnt nicht erst mit der Geschichte von Nora und Rolf, die zart, vorsichtig und tastend anfängt und damit endet, dass sich beide gegenseitig zerfleischen – die Amour fou seiner Eltern hat Roehler anhand ihrer Briefe und Tagebücher rekonstruiert. Der Roman setzt bereits im Jahr 1949 ein, als der Vater des Vaters aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt und in einem Dorf in Unterfranken, wohin die Familie aus Thüringen ausgesiedelt worden ist, nach den Seinen sucht. Doch Erich ist nicht willkommen. Seine Frau lebt mittlerweile mit seiner Schwester Elli in einem eheähnlichen Verhältnis. Erich verbringt die ersten Nächte in Freiheit auf einer Parkbank gegenüber dem Haus, in dem seine Frau und seine Kinder wohnen. Er bezieht gleichsam Posten, und was folgt, ist Mahnwache und Belagerungszustand zugleich, ein ganz persönlicher kalter Krieg, bis Elli geht und das Wirtschaftswunder kommt. Die Familie bringt es mit der Herstellung von Gartenzwergen zu bescheidenem Wohlstand.
„Er ist ja selbst ein Gartenzwerg“, sagt Nora über dessen Vater, als sie Rolf besucht. Und als sie beginnt, an den Regalen zu rütteln, in denen Hunderte Gartenzwerge lagern, mit denen Erich symbolisch die Reihen seiner gefallenen Kameraden wieder auffüllt, ist das nicht nur der Punkt, an dem die Liebe der Eltern ins Zerstörerische kippt, sondern auch ein Vorgriff auf die Studentenrevolte, in der beide – sie als schreibende Kommunistin, er als Freund von Rudi Dutschke und Kassenwart der RAF – in vorderster Front marschieren werden.
Oskar Roehler erzählt in „Herkunft“ die Geschichte der Bundesrepublik exemplarisch über drei Generationen hinweg, und sein Blick ist bis ins unappetitliche Detail bohrend wie ein eisiger Sengstrahl. Immer wieder fürchtet man, seine Figuren würden nicht ausgeleuchtet, sondern gelasert, literarisch ausgeweidet, und die Familienaufstellung könnte in die Karikatur verrutschen. Aber dazu sind die autobiographisch beglaubigten Erlebnisse zu schmerzhaft. Roehlers Erzählen gleicht eher einer Kraftprobe. Erst im Ringen mit seinen Dämonen tritt deren wahre Monstrosität zu Tage.  
Der Roman ist in seinem ganzen grausigen Furor da am stärksten, wo der Ich-Erzähler noch nicht auf den Plan getreten und die Schilderung durch Recherche vermittelt ist. Je mehr Robert heranwächst, desto stärker wird das Zeitgeschichtliche vom nur Lebensgeschichtlichen verdrängt. Der kleine Robert verlebt schöne, wilde Kindertage bei den Großeltern, schreckliche als vernachlässigtes Berliner Schlüsselkind beim Vater. Wie ein vertauschter Prinz wird er von Noras Eltern gerettet, im Kempinski darf er sich satt essen, im KaDeWe wird er neu eingekleidet, bevor sich sein neues Zuhause bei den millionenschweren Großeltern als neue Hölle entpuppt. Und er landet schließlich im Internat bei der wohlstandsverwahrlosten Jugend, hin- und hergerissen zwischen einem mephistophelischen Mitschüler, der ihn in die Drogenszene einführt, und seinem Gretchen, der Nachbarstochter, in deren heiler Welt er eine Ersatzfamilie findet. Als keiner mehr das Internat zahlen will, bricht Robert bei seinem Vater ein, um das Schulgeld aus der RAF-Kasse zu stehlen. Das ist nur eine von vielen Episoden, deren tragikomischer Grusel die Lektüre zu einem schaurigen Vergnügen macht. Und es wäre keine schlechte Pointe gewesen, wenn die RAF die Ausbildung des derzeit interessantesten deutschen Filmregisseurs bezahlt hätte. Doch so weit kommt es nicht. Robert bricht die Schule ab, stürzt sich ins Berliner Nachtleben und in eine Beziehung zu einem Peepshow-Mädchen, er wird Zuhälter wider Willen. Und der Dealer seiner Mutter – schon aus Rache streckt er den Stoff, den er ihr in ausgehöhlten Reclam-Heftchen zukommen lässt.
Nora endet wie ihr Vorbild im wahren Leben als vereinsamtes Schwabinger Original, tabletten- und nikotinsüchtig verprasst sie ihr Erbe in Münchner Edelboutiquen, bevor sie sich 1992 bei einem Nikotinentzug aus dem Fenster einer Klinik stürzt. Oskar Roehler hat ihr vor zehn Jahren in „Die Unberührbare“ eine elegische Hommage gewidmet, und weil der Film ihm den großen Durchbruch brachte, hat die Mutter postum doch noch etwas gutgemacht an ihrem Sohn. Auch aus „Herkunft“ ist bereits ein Drehbuch geworden. Unter dem Titel „Die Quellen des Lebens“ verfilmt Roehler derzeit sein Buch.
„Herkunft“ ist ein Abgesang auf den Künstlermythos – aus Vater Rolf, einst selbst eine Hoffnung der deutschen Literatur, wird ein verkrachter Szene-Adabei, ein Säufer und Stecher, der nachts in den Studentenkneipen die letzten weiblichen Gäste abschleppt und tags in der Männergruppe Buße tut. Dass sein Ruhm sich darauf beschränkt, „Lektor von G., Freund von J. und D.“ zu sein, entfaltet seine ganze Erbärmlichkeit erst im Weglassen der Klarnamen: Grass, Johnson und Dutschke. Stilistisch mag der Roman keine ganz große Literatur sein, dazu ist er zu nachlässig geschrieben. Und wo Roehler literarischen Mehrwert nachschiebt, wirkt das bemüht. So scheinen jene Passagen, in denen er seine wenigen unbeschwerten Kindertage mythisiert, allzu deutlich von Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“ inspiriert. Trotzdem ist ihm ein gewichtiges Buch dieses Herbstes gelungen, stofflich gesättigt und getragen von Leidenschaft und räudigem Schmerz, von Trotz und Aberwitz. Ein Buch, das lesen muss, wer wissen will, woher wir gekommen sind. „Herkunft“ handelt von einer ideell unbehausten Generation, den Schlüsselkindern von ’68. CHRISTOPHER SCHMIDT
OSKAR ROEHLER: Herkunft. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2011. 592 Seiten, 19,99 Euro.
Oskar Roehler schildert eine
Kindheit, die sich nur als
Martyrium beschreiben lässt
Im Schatten von
Gartenzwergen erblühte
das Wirtschaftswunder
Es sind weniger die literarischen
Qualitäten als die stofflichen,
die das Buch auszeichnen
Hat sich am eigenen Schopf aus dem Familiensumpf gezogen: Oskar Roehler (Bild oben). Unten links seine Mutter Gisela Elsner 1962 und Vater Klaus Roehler (rechts), zusammen mit Hans Werner Richter 1967.
Fotos: Gerald von Foris, Hilde Zemann/Roba Press/Vanit, pa/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Etwas durchwachsen scheint Eva Behrendt dieses Romandebüt des Regisseurs Oskar Roehler, das von der "beschädigten" Jugend eines ungewollten Kindes erzählt. Der Autor, der seine Familiengeschichte bereits teilweise in Filmen wie "Die Unberührbare", einem schonungslosen Porträt seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, thematisiert hat, verarbeitet diesen Themekomplex nach Informationen von Behrendt auch in vorliegendem Roman. Dabei attestiert sie Roehler eine Menge "erzählerischer Potenz". Gleichwohl kommt ihr das Werk auch wie ein "therapeutisches Projekt" vor. Gelungen findet sie vor allem den Teil des Buchs, in dem der Ich-Erzähler noch gar nicht geboren ist, sondern das Leben seiner Eltern und Großeltern in der Nachkriegszeit und in der Zeit des Wirtschaftswunders überaus dicht beschrieben wird. Später, nach der Geburt des Ich-Erzählers, entgleiten dem Autor nach Ansicht Behrendts allerdings zunehmend seine Figuren. Die Schilderung der ersten Lebensjahre findet sie zwar erdrückend und geradezu albtraumhaft. Der Suche des abgeschobenen Kindes nach einer heilen Familienwelt aber fehlt zu ihrem Bedauern die "Wucht und Distanz des verheißungsvollen Beginns".

© Perlentaucher Medien GmbH
"Roehler schreibt klar, drastisch, präzise und mit Hingabe an seine Figuren.", FAZ, Andreas Kilb, 13.02.2013