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Willy Brandt war neben Adenauer der bedeutendste Kanzler der Bundesrepublik und einer der herausragenden Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts. Zehn Jahre nach seinem Tod legt der renommierte Historiker Gregor Schöllgen die erste große Brandt-Biografie vor - ein scharf gezeichnetes Porträt des Menschen, eine kritische Würdigung des Politikers Willy Brandt.

Produktbeschreibung
Willy Brandt war neben Adenauer der bedeutendste Kanzler der Bundesrepublik und einer der herausragenden Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts. Zehn Jahre nach seinem Tod legt der renommierte Historiker Gregor Schöllgen die erste große Brandt-Biografie vor - ein scharf gezeichnetes Porträt des Menschen, eine kritische Würdigung des Politikers Willy Brandt.
Autorenporträt
Gregor Schöllgen, geboren 1952 in Düsseldorf, Professor für Neuere Geschichte in Erlangen und Gastprofessor in New York, Oxford und London. Autor zahlreicher zeitgeschichtlicher Bücher und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Seine 2001 im Propyläen Verlag erschienene Biographie Willy Brandts wurde zum vielbeachteten Bestseller.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2001

Mehr Willy wagen
Die neue Biographie des großen Sozialdemokraten gibt sich ultimativ – stattdessen erzählt sie anschaulich, was man schon wusste
GREGOR SCHÖLLGEN: Willy Brandt. Die Biographie, Propyläen, Berlin 2001. 320 Seiten, 48,90 Mark.
Willy Brandt war eine der prägenden Gestalten der deutschen Nachkriegsgeschichte und in mancher Hinsicht eine einmalige Erscheinung. Der aus einfachen Verhältnissen stammende und in seiner Jugend weit links stehene Sozialdemokrat leistete dem NS-Gewaltregime schon in Lübeck Widerstand und überlebte nur, weil ihm erst Norwegen, später Schweden Asyl gewährten. Nach dem Kriege nach Deutschland zurückgekehrt, diente er seinem Land in zahlreichen öffentlichen Funktionen. Zunächst als Abgeordneter und Regierender Bürgermeister von Berlin, dann als Außenminister und Bundeskanzler, daneben fast ein Vierteljahrhundert lang als Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratie.
Ihm vor allem ist zu danken, dass die Worte Frieden und Deutschland seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder in einem Atemzug genannt werden konnten. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises hat diese Haltung weltweit Anerkennung gefunden.
Verklärte Erinnerung
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich in- und ausländische Publizisten wie Historiker schon zu seinen Lebzeiten und umso mehr nach seinem Tode mit dem Lebensweg, den politischen Leistungen und der Persönlichkeit dieses außerordentlichen Mannes beschäftigten. Ebenso haben sich zahlreiche Weggefährten über ihre Eindrücke und Erfahrungen im Umgang mit Willy Brandt geäußert; manche davon eher verklärend, andere nicht ganz ohne Ressentiment. Am eindrucksvollsten und ehrlichsten sowie mit beispielhafter Noblesse übrigens Rut Brandt, seine zweite Ehefrau in ihrem Buch „Freundesland”. Auch biografische Arbeiten gibt es bereits in größerer Zahl. Seit kurzem erscheint – herausgegeben von der Willy-Brandt-Stiftung – überdies eine auf 10 Bände bemessene Dokumentation von Originalunterlagen aus dem Nachlass Willy Brandts.
Nunmehr hat der Erlanger Historiker Gregor Schöllgen eine weitere biografische Arbeit vorgelegt und dafür den anspruchsvollen Titel „Willy Brandt. Die Biographie” gewählt. Das soll offenbar besagen, dass es bisher etwas Vergleichbares nicht gibt. Der Verlag unterstreicht diesen Anspruch mit der Feststellung, Schöllgen sei es gelungen, „das Wesen dieses vielschichtigen Mannes zu entschlüsseln” und „ihn uns als Mensch und Politiker auf neue Weise nahe zu bringen”. Beides lädt zu einer intensiveren Prüfung der Publikation ein.
Zunächst – und das ist positiv zu werten: Wer Sensationen oder gar Enthüllungen erwartet, wird nicht auf seine Kosten kommen. Das Buch enthält nichts, was der Sache nach nicht schon an anderer Stelle einmal dargetan oder zumindest behauptet worden wäre. Im Gegenteil: Schöllgen zitiert häufig andere Autoren und insbesondere Willy Brandt selbst, der ja mit nicht weniger als fünf Memoirenbänden an die Öffentlichkeit getreten ist und auch sonst eine Vielzahl von Selbstzeugnissen hinterlassen hat.
Aber – und darin sehe ich das eigentliche Verdienst von Schöllgen: Er hat das gesamte Schrifttum und dazu noch das schier überquellende Archivmaterial gesichtet, Verstreutes gesammelt und daraus ein beachtliches Opus gefertigt. In ihm werden die einzelnen Stationen des Lebens von Willy Brandt in einer flüssigen und leicht lesbaren Weise beschrieben, seine Erfolge und seine Niederlagen analysiert und seine jeweiligen Motive und Zielvorstellungen untersucht. Ebenso setzt sich der Verfasser in eindringlicher Weise mit der komplexen Persönlichkeit Brandts auseinander und spürt dabei seinen Stärken und seinem Charisma ebenso nach wie seinen Widersprüchen, seinen Gefährdungen und seinen Verletzlichkeiten.Besonders gut gelingt das Schöllgen in dem Abschnitt, in dem er sich mit den Jugendjahren Willy Brandts, deren Erfahrungen für sein Leben von substantieller Bedeutung waren, auseinander setzt. Ebenso in den Kapiteln, in denen von seinem Aufstieg in Berlin und den Bonner Jahren die Rede ist.
Was und wie er über die Kampagnen und Verdächtigungen schreibt, denen Brandt immer wieder ausgesetzt war, ist lesenswert; manches sogar von dramatischer Anschaulichkeit. So etwa die Schilderung der Vorgänge vom 5. November 1956, des Tages, an dem Brandt im Zusammenhang mit einer durch die gewaltsame Niederschlagung des Ungarnaufstandes ausgelösten Protestdemonstration eine unmittelbare Konfrontation aufgebrachter West- Berliner mit Sicherheitsorganen der DDR am Brandenburger Tor durch sein persönliches Eingreifen verhindert. Oder auch die Darstellung des Rücktritts von Willy Brandt als Bundeskanzler und der Ereignisse, die ihm vorausgingen.
Manchmal allerdings würde man dem Verfasser etwas mehr Zurückhaltung gegenüber dem persönlichen Bereich Brandts wünschen. Da streifen dann einzelne Bemerkungen den Rand der Peinlichkeit. Auch der Hinweis auf das angebliche „Suchtverhalten” Brandts wäre durchaus entbehrlich gewesen. Die Zensuren, die Schöllgen einzelnen Handlungen oder Unterlassungen Brandts erteilt, klingen reichlich selbstsicher.
Erstaunlich sind auch gewisse Urteile, die über Weggefährten Brandts und insbesondere über Herbert Wehner und Helmut Schmidt gefällt werden. Natürlich gab es zwischen Brandt, Wehner und Schmidt beizeiten Rivalitäten. Auch Aspekte persönlicher Macht haben dann und wann eine Rolle gespielt. Aber die Tatsache, dass alle drei primär nicht aus Ehrgeiz handelten, sondern vor allem ihrem Land dienen und für ihre Mitmenschen das Beste bewirken wollten, tritt gelegentlich zu sehr in den Hintergrund. Das könnte dem Vorurteil derer Vorschub leisten, die ohnehin glauben, Politik sei eben auch in der Demokratie ein Netz von Strippen, an denen von Egoisten konspirativ gezogen werde.
An dem insgesamt positiven Eindruck ändert das indes wenig. Das gilt auch für eine Reihe von Irrtümern und Unvollständigkeiten. So spricht der Autor davon, Herbert Wehner habe offenbar in der Zeit des großen Terrors in Moskau mehrere seiner Genossen denunziert. Hier hätte erwähnt werden müssen, dass er nach heutigem Kenntnisstand wohl nur Personen belastet hat, die sich außerhalb des Machtbereichs der Sowjetunion befanden oder verstorben waren.
Keine Zeit
Auch die Darstellung, dass Brandt bei seinem Besuch in Warschau 1985 zweimal mit Jaruzelski gesprochen, für ein Treffen mit Mazowiecki und mit Walesa aber keine Zeit gehabt habe, ist so nicht zutreffend. Tatsächlich bestand Walesa vielmehr darauf, dass Brandt zu ihm nach Danzig komme. Außerdem ist Brandt bei dieser Gelegenheit entgegen der Behauptung Schöllgens mit Tadeusz Mazowiecki, Bronislaw Geremek und anderen namhaften Oppositionellen zu einem mehrstündigen Gespräch in der Deutschen Botschaft zusammengetroffen. Von einer Brüskierung der polnischen Opposition kann also keine Rede sein. Zumindest zweifelhaft ist auch die Brandt zugeschriebene Vermutung, Wehner habe vor seiner fulminanten Bundestagsrede vom 30. Juni 1960, in der er sich für die SPD erstmals zur Westbindung der Bundesrepublik bekannte, niemanden informiert. Denn inzwischen spricht einiges dafür, dass er seine Rede vorab mit der Fraktionsspitze erörtert hat.
Irrig ist eine Bemerkung Schöllgens über Ludwig Erhard. Dieser war nämlich ebenfalls – wenn auch nur kurz – Vorsitzender seiner Partei. Weiter warf Egon Krenz nicht schon am 8. November 1989 das Handtuch. An diesem Tage wurde er vielmehr vom Zentralkomitee der SED in seinem Amt als Generalsekretär bestätigt. Zurückgetreten ist er von dieser Funktion erst am 3. Dezember 1989.
Am Ende ist man sich als Leser nicht ganz sicher, ob dies wirklich die Biografie Brandts schlechthin oder doch nur eine unter vielen ist, die schon geschrieben wurden und der wohl noch einige folgen werden. Aber: Schöllgen hat uns Willy Brandt einmal mehr als Mensch und als Politiker in bemerkenswerter Weise nahe gebracht. Und das ist ja gerade in einer Zeit, in der Traditionen und Erinnerungen an große Persönlichkeiten eher zu verblassen drohen, eine ganze Menge.
HANS–JOCHEN VOGEL
Der Rezensent ist Vorsitzender des Nationalen Ethikrates und war Nachfolger Brandts als Parteichef der SPD.
Die Hupe und ihr Widerhall: Willy Brandt, umjubelt wie ein Popstar, beim Besuch in Erfurt.
Foto: SZ-Archiv
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2001

Mensch Willy!
Mit Blicken vor und hinter die Kulissen: Gregor Schöllgen erzählt aus dem Leben des Kanzlers und SPD-Vorsitzenden Brandt

Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Die Biographie. Propyläen Verlag, Berlin/München 2001. 320 Seiten, 48,90 Mark.

Was ist Diskretion? Wenn im Personenregister eines neuen Buches über Willy Brandt unter "Bruns, Wibke" auf Seite 205 verwiesen wird, dort aber der Name der Journalistin nicht auftaucht. Statt dessen versetzt der Biograph den nachschlagenden Leser mitten in die Ereignisse des 1. Mai 1974, unmittelbar vor dem Rücktritt des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers. Wer erinnert sich noch? Am 24. April 1974 erfuhr Brandt, daß sein Referent Günter Guillaume verhaftet worden sei, sich sogar mit Stolz als Offizier der Volksarmee der DDR zu erkennen gegeben habe. 48 Stunden später behauptete der Bundeskanzler vor dem Bundestag, daß der Spion "nicht mit Geheimakten befaßt" gewesen sei.

Am "Tag der Arbeit" - auf Seite 205 - erscheint nun Klaus Kinkel, Persönlicher Referent des Bundesinnenministers, beim Regierungschef und zeigt ihm einen Brief des Bundeskriminalamt-Präsidenten Horst Herold an Hans-Dietrich Genscher. Es geht um Frauen-Affären. Was der Kanzler zu lesen bekommt, "verblüfft ihn dann doch: So viele sollen es gewesen sein, rund um den Globus, in Hotels, Zügen und wer weiß noch? An manche Situationen kann er sich gar nicht erinnern, zumal kaum Namen genannt werden. Überhaupt nur vier sind es, darunter ein Name, den die Gewährsleute nicht einmal korrekt zu buchstabieren wissen, und derjenige einer bundesweit bekannten Journalistin, die Brandt nach Guillaumes Aussage allerdings erst im ,zweiten Anlauf geschafft' haben soll. Im übrigen sind den Schnüfflern bestenfalls der Beruf beziehungsweise die Nationalität der einen oder anderen Dame oder auch ein Schmuckstück erinnerlich, das angeblich im Bett des Kanzlers gefunden worden ist und später von den Medien besagter Journalistin angedichtet wird."

In den 1989 erschienenen "Erinnerungen" sprach Brandt von einem "Produkt blühender Phantasie". Hier widerspricht Biograph Gregor Schöllgen: "Daß er sich gelegentlich mit einer Dame zurückgezogen hat, in ein Hotelzimmer oder auch in die Kanzlerräume des Sonderzuges, ist wohl richtig. Aber, was dann?" Ja, was dann gewesen sein könnte, darauf gibt der kundige Erlanger Wissenschaftler nun doch keine Antwort und verschont den Leser mit Spekulationen. Ein Romanautor hätte weiter ausmalen können, während sich der Historiker - weil bekanntlich nicht alles in den Akten steht - nun wegen fehlender schriftlicher Zeugnisse ganz auf die Zeitzeugen verlassen muß. So fährt Schöllgen fort: "Gewiß, mancher Weggefährte hat bei Brandt schon in den fünfziger Jahren Züge der Hemmungslosigkeit im Umgang mit Frauen beobachtet; andere glauben, der Einsame habe diese Nähe gebraucht; und dann der Streß, gerade in Zeiten des Wahlkampfes. Welche Rolle Frauen für Willy Brandt wirklich spielen, hat sich in den forschenden Polizistenaugen ohnehin nicht erschließen können."

Aber auch dem analytisch-scharfen Historikerblick bleibt manches verborgen. Schöllgen weiß das, und so macht er gar nicht erst den Versuch, den herausragenden Sozialdemokraten in mehreren Bänden bis in alle tagespolitischen Einzelheiten hinein zu porträtieren. Vielmehr verzichtet Schöllgen auf Tausende von Anmerkungen, auf Hunderte von Auszügen aus Reden und Aufzeichnungen. Er löst sich bewußt von ihm wohlbekannten Quellenmassen und konzentriert sich darauf, das Leben Brandts vor und hinter den Kulissen spannend zu erzählen und pointiert zu gewichten. Auch der geringe Umfang von dreihundert Seiten zielt auf ein großes Publikum.

Im Mittelpunkt des gelungenen Buches steht nicht nur der Politiker, sondern vor allem der Mensch Willy Brandt, der am 18. Dezember 1913 als nichteheliches Kind mit dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm in der Hansestadt Lübeck das Licht der Welt erblickte. Im Alter von 19 Jahren nahm er - im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur - erstmals den Namen Willy Brandt an. Durch die "vaterlose" Herkunft, das journalistische Wirken im Exil in Skandinavien, die Verbindungen zu Vertretern des deutschen Widerstandes, die Rückkehr nach Deutschland in norwegischer Uniform zur Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß 1946 und die nach der Wiedereinbürgerung 1949 amtlich vollzogene Namensänderung bot Brandt natürlich mancherlei Angriffsfläche für Verleumdungskampagnen seiner politischen Gegner. Hinzu kamen die kleinen und größeren Schwächen des Genußmenschen: gutes Essen, Alkohol (von eigenen Genossen als "Weinbrand-Willy" diffamiert), Nikotin und eben das Ewigweibliche.

Schon allein mit den drei Ehefrauen hielt Brandt in seiner Politiker-Generation sicherlich den bundesdeutschen Rekord: Die erste war seit 1941 die zehn Jahre ältere Norwegerin Anna Carlota Thorkildsen (eine gemeinsame Tochter: Ninja Frahm), die zweite seit 1949 die acht Jahre jüngere und eheerfahrene Norwegerin Rut Bergaust geborene Hansen (drei gemeinsame Söhne: Peter, Lars und Matthias) und die dritte die - 1977 als Redenschreiberin für den SPD-Parteivorsitzenden eingestellte und 1983 geehelichte - 33 Jahre jüngere Historikerin Brigitte Seebacher-Brandt, auch BSB genannt.

Schöllgens Bewunderung gilt Rut Brandt, die den schwierigen Helden über drei Jahrzehnte hinweg ge- und unterstützt hat. Demgegenüber bescheinigt der Biograph der Ehefrau Nr. 3 "beträchtlichen Ehrgeiz" und "enormen" Einfluß auf den Altkanzler. Nicht nur bei Brandts reger publizistischer Tätigkeit sei "ihre Handschrift mit der Zeit erkennbar" geworden, sondern auch äußerlich: "Unmittelbar äußert sich das neue Glück in den meist kräftig gestreiften Hemden mit mehr oder weniger passender Krawatte." Schöllgen wundert sich darüber, wie sich die BSB "bald nach dem Tod ihres Mannes von restlos allem trennt, was an die gemeinsame Zeit erinnert . . . : Möbel, Bilder, Bücher, intime Korrespondenzen - alles nimmt leidenschaftslos seinen Weg ins Archiv." Positiv stellt er demgegenüber heraus, wie sie den seit Ende 1991 in Unkel am Rhein "Dahinsiechenden aufopferungsvoll" bis zu seinem Tod am 8. Oktober 1992 betreute.

Brandts Nachkriegskarriere begann im freien Teil Berlins: 1955 wurde er Präsident des Abgeordnetenhauses, 1957 Regierender Bürgermeister. Auf bundesdeutscher Ebene wurde er von Herbert Wehner "aufgebaut und durchgeboxt": 1961 und 1965 war Brandt Kanzlerkandidat der SPD, 1964 wurde er Parteivorsitzender. Wehner hielt den sehr empfindlichen Brandt übrigens schon Anfang der sechziger Jahre "für einen Schlappschwanz", brauchte ihn aber als jugendlich, sympathisch und dynamisch wirkenden Hoffnungsträger der deutschen Sozialdemokratie. Sich selbst baute der Regierende Bürgermeister hin und wieder mit der Losung auf: "Nichts ist mit Nichtstun zu lösen."

Als Wehner sein Lieblingsprojekt einer Großen Koaltion aus CDU und SPD endlich Ende 1966 durchsetzen konnte, verließ Brandt, der eigentlich nach der Bundestagswahlniederlage von 1965 zu keiner dritten Kanzlerkandidatur mehr bereit war, seinen Berliner "Traumjob". Zunächst wurde er im Dezember 1966 Außenminister und Vizekanzler unter Kurt Georg Kiesinger, dann im Oktober 1969 Bundeskanzler: "Was für ein Triumph, welche Genugtuung! Der aus Deutschland Geflohene, von Deutschen Verfolgte und Diffamierte hat . . . den Gipfel der politischen Macht in Deutschland erklommen - aber um welchen Preis! Wenn jedem Menschen im Laufe seines Lebens ein gegebener Kräftehaushalt zur Verfügung steht, dann hat dieser Mann . . . sein Budget fast ausgeschöpft." Bis 1972 habe ihm ein "exzellentes Kabinett" zu Seite gestanden, habe er manches bewegen können.

Nach dem Wahlsieg vom November 1972 begann allerdings der Abstieg. "Willy Wolke" nannte man den Träger des Friedensnobelpreises von 1971 hinter vorgehaltener Genossenhand, weil der Kanzler mittlerweile selbst an die ihm zugeschriebene Rolle des großen Heilsbringers und Visionärs glaubte. Selbst im Kanzleramt trat er plötzlich anders auf, wollte nicht mehr nur "Primus inter pares" sein, sondern kehrte den Boß heraus. Helmut Schmidt und Herbert Wehner drängten den auch gesundheitlich Angeschlagenen schließlich zu der Entscheidung vom 6. Mai 1974, die "politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume" zu übernehmen und zurückzutreten. Damit sei - so Schöllgen - für den längst Überforderten "ein Leidensweg" zu Ende gegangen.

Nach kurzer Erholungsphase lief Brandt noch einmal zur Hochform auf: Er blieb Bundestagsabgeordneter, bis 1987 auch Parteivorsitzender der SPD, wurde zudem etwa Präsident der Sozialistischen Internationale, Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission. Im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte (Nato-Doppelbeschluß) 1981/82 fiel er sogar dem Nachfolger Helmut Schmidt in den Rücken.

Schöllgen kehrt Brandts deutschlandpolitische Irrpfade vor 1989 nicht unter einen hochpolierten Wiedervereinigungstisch: wie sich Brandt von Honecker, dem angeblich "letzten Gesamtdeutschen", im September 1985 wie ein Staatsgast hofieren ließ, wie er drei Jahre später die Einheit Deutschlands als "spezifische Lebenslüge der zweiten deutschen Republik" bezeichnete. Immerhin war er vom 10. November 1989 an nicht sprachlos, sondern geradezu sprachgewaltig, um seine Genossen in der deutschen Frage, in der "Neuvereinigung" auf Vordermann zu bringen. Bundeskanzler Kohl, der (ebenfalls wenig vorausschauend) 1987 noch den Ost-Berliner Staatsratsvorsitzenden mit protokollarischen Ehren in Bonn empfangen und damit zur Aufwertung der SED- und Stasi-Herrschaft beigetragen hatte, habe "in dieser bewegten Zeit häufig den Rat des Elder statesman" gesucht. Damals seien sich die beiden - wie Kohl jetzt Schöllgen berichtet hat - "in der Beurteilung immer näher" gekommen. Sie kannten offensichtlich vorübergehend keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.

RAINER BLASIUS

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Willy Brandt Biografie des Historikers Gregor Schöllgen findet Richard Meng zwar äußerst detailreich und informativ, aber in der "politischen Deutung nicht besonders ambitioniert". Es handelt sich hier um eine allzu konventionelle Darstellung des Lebensweges des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, meint der Rezensent, da es der Autor nicht wagt, einen etwas mutigeren und für die gegenwärtige Politik anregenden Zugang zu wählen. Details aus dem privaten Leben Brandts würden allzu effekthascherisch, ja sogar als Werbemittel eingesetzt, und erhielten dadurch allzu großes Gewicht. Die Folge ist eine Reduktion aufs Persönliche, so der Rezensent, die politische Fragen unbeantwortet lässt. In der politischen Lebensbilanz kommen für Richard Meng folgende Stationen zu kurz: Brandts Rolle für die "diffuse Neudefinition eines 'Demokratischen Sozialismus'", seine Integrationskraft gegenüber großen Teilen der Protestgeneration der sechziger Jahre, das "langsame Umsteuern der SPD mit Blick auf die Nach-Schmidt-Ära", sein Verhältnis zu Oskar Lafontaine und das Fehlen einer europäischen Vision in Brandts Politik. Aus welchen Motiven heraus die SPD in den achtziger Jahren nach einer neuen Ostpolitik tastete, beantworte der Autor ebenfalls nicht. "Begegnet bin ich ihm (Willy Brandt) nicht, aber ich kenne ihn gut", zitiert Meng aus dem Vorwort des Autors. Und dieser Satz trifft für ihn auch die Qualität der Biografie: So "nüchtern und emotionslos" arbeite Schöllgen die "Außenansicht" Brandts heraus. "Nicht weniger, aber auch nicht mehr" biete diese Biografie.

© Perlentaucher Medien GmbH
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