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'Mit 74 Jahren wird Yoram Kaniuk ein zweites Mal geboren, als er nach einem Koma im Krankenhaus erwacht. Monatelang hatte er in Halluzinationen gelebt, die Stationen seines langen Lebens zogen an ihm vorüber: Er glaubte, mit seinen toten Eltern und mit längst verlorenen Freunden zu reden, durch Tel Aviv und New York zu wandern, zu schreiben und zu malen. Humorvoll und selbstironisch berichtet Yoram Kaniuk, wie er im Erwachen die traumartigen Ohlbaum Erinnerungsfetzen einbaute in die kaum weniger absurde Realität des Klinikalltags.Der Roman ist eine mutige Auseinandersetzung mit Alter und Tod,…mehr

Produktbeschreibung
'Mit 74 Jahren wird Yoram Kaniuk ein zweites Mal geboren, als er nach einem Koma im Krankenhaus erwacht. Monatelang hatte er in Halluzinationen gelebt, die Stationen seines langen Lebens zogen an ihm vorüber: Er glaubte, mit seinen toten Eltern und mit längst verlorenen Freunden zu reden, durch Tel Aviv und New York zu wandern, zu schreiben und zu malen. Humorvoll und selbstironisch berichtet Yoram Kaniuk, wie er im Erwachen die traumartigen Ohlbaum Erinnerungsfetzen einbaute in die kaum weniger absurde Realität des Klinikalltags.Der Roman ist eine mutige Auseinandersetzung mit Alter und Tod, der trotz allen Zorns über den unvermeidlichen Verfall des Körpers die Fülle des Lebens spüren lässt. Er ist aber auch der Rückblick eines bedeutenden Schriftstellers auf sein reiches Leben.
Autorenporträt
Yoram Kaniuk, 1930 in Tel Aviv geboren, gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Israels und erhielt für seine Prosa bereits etliche Auszeichnungen, u. a. den Brenner Prize, den höchsten Literaturpreis Israels. Der Autor verstarb im Jahr 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2010

Sie funken ihm in den Tod hinein

Nach einer schweren Operation befand sich Yoram Kaniuk drei Wochen lang auf der Intensivstation im Koma: Sein daraus hervorgegangener autobiographischer Roman ist sein bisher stärkstes Buch.

In seinem autobiographischen Roman "Zwischen Leben und Tod" hat Yoram Kaniuk eine seltene Stimme eingefangen, einen Ton, der elegisch, rhythmisch, parataktisch und in seinem Sog unwiderstehlich ist. Es ist die Stimme des Erzählers hinter dem Vorhang, von dem Goethe sprach, um das Wesen des Epischen zu definieren. Nur dass der Vorhang, hinter dem dieser Erzähler agiert, der des eigenen Lebens ist. Drei Wochen lang befand sich der Autor nach einer schweren Krebsoperation und einer zusätzlichen bakteriellen Erkrankung auf der Intensivstation im Koma. In seinem bisher stärksten Buch erzählt er von dieser Zeit im Zwischenreich und lässt den ungeordneten Bewusstseinsstrom als einen Strom der Worte fließen. Das Ich mit seinen Interessen, seinem Willen und seinen Begehrlichkeiten ist ausgeschaltet, während die Poesie der assoziativen Erinnerung ihr komplexes Muster webt.

Der Kranke bewegt sich frei in Zeit und Raum, kehrt an die Orte seiner Kindheit zurück, zu den Tagen des Palmach, wie die Einsatztruppen der Untergrundorganisation Hagana hießen, und den Jahren, in denen es in Tel Aviv von europäischen Flüchtlingen wimmelte. Intensiv beschäftigt er sich mit seinem Vater, der nach dem Aufwachen "kurz Goethe oder Heine las", den er nie verstanden hat und dessen Lieblingslieder ihm nun durch den Kopf gehen: "Als er jung war, hat er diese deutschen Lieder in den Clubs brutaler Nazis gespielt, und jetzt sehne ich mich nach ihm." Von seiner Generation der in Israel Geborenen sagt Kaniuk: "Wir wussten nicht, dass man ohne Wurzeln und Geschichte nicht wirklich leben kann." Und nun, wo er sich als neuer Lazarus schon unter der Erde wähnt, regen sich all die Wurzeln, die er ein Leben lang vergeblich bekämpft hat. Er denkt an einen Kulturoffizier des Palmach, der "sieben Schallplatten von Beethovens 7. Sinfonie in drei Teile brach, damit jedes Bataillon Anteil an der Kultur bekäme", und an "den dicken jeckischen Würstchenverkäufer, dem man, um ein Würstchen zu erhalten, stets versichern musste, dass Goethe größer war als Shakespeare".

Auch das eigene Leben nimmt in diesen endlosen Stunden Gestalt an. Kaniuk reflektiert auf sein Glück als Autor, spricht von der Ambition, "meinen Wagen an einen Stern anzuschirren wie Nietzsche" und davon, wie sein Idealismus gebrochen wurde. Jetzt empfindet er das Bedürfnis, etwas zu "reparieren, das vielleicht im Alter von achtzehn Jahren in Jerusalem kaputtgegangen ist, an einem schönen, warmen, glasklaren Märztag voll Blut und Grauen". Immer wieder kehren seine Gedanken zu den strahlenden Vorbildern in den Tagen des Palmach zurück, jungen Emigranten, die ihre "Stalingrad-Uhr" am Handgelenk trugen, russische Lieder sangen und mit einem Mut kämpften, "den wir noch nie gesehen hatten". Dass gerade sie an ihrem Mut gestorben sind, ist die Wunde, die es zu reparieren gilt.

Denn nun wird Kaniuk von ihnen eingeholt, sie "funken" ihm "in den Tod" hinein, und sein Überleben relativiert sich, wenn zwei dralle Pflegerinnen, die ihn baden, mit seinem alten Leib wie mit einem Käfer umgehen. Die Erzählung erschafft einen Grenzort der Zeit, an dem sich die Lebenden und die Toten im Moment des Todes begegnen, der hübsche Mitschüler, der mit einem kühnen Sprung von einem Felsen im flachen Wasser aufschlug, das Kind, das Kaniuk einmal vor einem Auto gerettet hat, aber auch die unzähligen anderen, die, wie er zur Operation, "in die Schlachträume gebracht" wurden: "Ich sehe, wie die hübschen jungen Menschen, die in leuchtenden Farben angemalt sind, verloren am Eingang der riesigen Kirche der Messer stehen. Sie tragen Festkleidung, und ihr Anblick tut mir weh."

Weil Zeit und Raum in der "Unterwelt" des Komas keine Rolle spielen, fehlen die Medien, die das Ähnliche auseinanderhalten, Metaphern gipfeln sich zu Metametaphern auf, und alles beginnt sich in allem zu spiegeln. Der Krebs, der Kaniuk befallen hat, verschmilzt mit dem metonymischen Tier und hat als solches "eine Siedlung in meinem Inneren gegründet": Das Persönlichste wird zum Bild der israelischen Geschichte. Auch das Buch selbst sucht nach Spiegeln und findet sie in Werken der bildenden Kunst, vor allem in Goyas "Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid". An dem dort vor den feuernden Gewehrläufen stehenden Mann in Weiß interessiert Kaniuk "sein letzter und ewiger Moment", den er, obschon tot, "noch lebt". Der "unermessliche Zauber" dieses Moments mündet bei Kaniuk direkt in die zentrale Verheißung des Judentums: "Ich meine, der Tod hat etwas Positives, fast Optimistisches an sich, denn er ist der Messias, der zu kommen zögert." Und eine weitere Linie führt zum grotesken Witz, von dem "Zwischen Leben und Tod" nur so strotzt: "Wie nahe Leben und Tod beieinanderliegen", denkt sich der Kranke, "wie enttäuschend überflüssig dieser ganze Unfug mit der Ernsthaftigkeit ist."

Yoram Kaniuk gewichtet die Waagschalen neu, ungeheurer Reichtum häuft sich in der Schale des Todes, das ganze Diesseits wechselt die Seiten. "Ich war einmal ein Junge, und es regnete in Strömen", erinnert er sich: "Ich legte mich aufs nasse Feld, in den Morast, neben mir blühten Narzissen und Hahnenfuß und rote und blaue Anemonen. Auf der Erde lag es sich bequem, ich blickte in die Wolken, sah sie ihre Formen bilden, und mir gefiel der Anblick von unten, auf dem Rücken liegend." Nun liegt er im Bett, und die Wolken über ihm sind sein Leben, "Wabern, ohne zu existieren", nennt er das. Immer wieder kommt er auf das Nichts zurück, das der Tod ist und das dem Sterbenden im "letzten und ewigen Moment" doch diese Lage im Morast einräumt. So ist das Buch in seiner äußersten Konsequenz auch ein Schöpfungsmythos, der mit dem ersten Buch der Genesis spielt.

Unten ist nichts, trübe Wasser, Tohuwabohu, aber gleichzeitig gibt es den prophetischen Ton, der bei Kaniuk auch ein großes Gelächter ist und aus dem sich das Leben als dichtes Phantasma entfaltet. Zeile für Zeile teilt dieser Ton mit, dass Gerechtigkeit eine Illusion bleibt, solange man von zwei Waagschalen ausgeht. Denn es gibt nur eine, auf der alles so schwer und leicht zugleich wiegt wie der Erzähler, der "frei in der Luft" über seinem Bett schwebt.

Die letzten Seiten widmet Kaniuk seinen Spaziergängen mit Schimon, einem Pfleger, auf den er jeden Morgen "wie auf den Messias" wartet. Der junge Mann ist einsam und völlig arglos: "Die Tricks der Bosheit kennt er nicht." Schimon ist der letzte Spiegel in diesem Buch, in dem der Schriftsteller Yoram Kaniuk unbewaffneter denn je hervortritt und trotzdem jede Schlacht gewinnt. Seine Stimme erobert sich eine Güte und Transparenz der Verwunderung, beweglich und schwerelos genug, um an jeden Stern anzuschirren. Er ahnt, dass seine Phantasien "das Geheimnis dessen sind, was die Naiven den ,Kampf gegen den Krebs' nennen". Um die Metamorphosen dieses Kampfes zu fassen, spielt er mit dem christlichen Bild des Seidenraupenkokons, doch im Gedächtnis bleibt ein Klingelton, den der Erzähler vernimmt, als er in einer seiner "angenehmen" Phantasien zum Blatt Papier wird, das man "als Fax ins Nirgendwo" schickt: "Ich spüre die Schrift auf meinem Körper."

INGEBORG HARMS

Yoram Kaniuk: "Zwischen Leben und Tod". Ein autobiographischer Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Claassen Verlag, Berlin 2009. 220 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Schlichtweg als sein "stärkstes Buch" feiert Ingeborg Harms Yoram Kaniuks autobiografischen Roman, in dem er in einem einzigen assoziativen Bewusstseinsstrom von seinem dreiwöchigen Koma nach einer Krebsoperation erzählt. Erinnerungen an die frühe Kindheit, Erzählungen des Vaters und Erlebnisse als junger Palmach-Kämpfer werden hochgespült, und bei Kaniuk wird das "Persönlichste zum Bild der israelischen Geschichte" stellt die Rezensentin fest. Sie ist von der mitreißenden Poesie dieser Assoziationen genauso in Bann geschlagen, wie vom grotesken Humor, der sich auch bei schrecklichen Erinnerungen immer wieder Bahn bricht. Insbesondere aber fasziniert sie der "prophetische Ton", in dem der israelische Autor aus diesem Grenzreich zwischen Leben und Tod spricht, so schutzlos wie nie und mit einer Stimme, die sich "Güte und Transparenz der Verwunderung" erkämpft hat, wie Harms bewegt festhält.

© Perlentaucher Medien GmbH