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In einer Region Indiens, die von der Auflehnung gegen die Kolonialmacht unberührt bleibt, fristet Willie Chandrans Vater ein Dasein nach den Vorstellungen seiner Vorfahren. Insgeheim träumt er jedoch von Taten, die seine wahre Größe bezeugen könnten. Vergebens: Seine kärglichen Versuche spiritueller Erneuerung führen ins Verstummen, und auch seine Heirat mit einer Frau aus einer niederen Kaste, die er nicht einmal liebt, hat nur ein Ergebnis: Chandran wird Opfer seiner eigenen Rebellion. Aus dieser unglücklichen Verbindung geht Willie Chandran hervor. Eigenwillig wie sein Vater, sucht er…mehr

Produktbeschreibung
In einer Region Indiens, die von der Auflehnung gegen die Kolonialmacht unberührt bleibt, fristet Willie Chandrans Vater ein Dasein nach den Vorstellungen seiner Vorfahren. Insgeheim träumt er jedoch von Taten, die seine wahre Größe bezeugen könnten. Vergebens: Seine kärglichen Versuche spiritueller Erneuerung führen ins Verstummen, und auch seine Heirat mit einer Frau aus einer niederen Kaste, die er nicht einmal liebt, hat nur ein Ergebnis: Chandran wird Opfer seiner eigenen Rebellion. Aus dieser unglücklichen Verbindung geht Willie Chandran hervor. Eigenwillig wie sein Vater, sucht er begierig nach einem eigenen Weg, der ihn fort von zu Hause führt. Es verschlägt ihn in das England der Nachkriegszeit, in das London der Immigranten, in anrüchige West End-Clubs mit ihren sexuellen Verheißungen, verlassene Gegenden in Notting Hill und auch in das Milieu exzentrischer Schriftsteller. Doch erst die Liebe zu Ana, seiner Frau, bringt ihn der Erfüllung näher, nach der er so verzweifelt sucht. Er begleitet Ana in ihre Heimat in Portugiesisch-Afrika, wo gescheiterte Unternehmer mit ihren frustrierten Ehefrauen die letzten Tage der Kolonialherrschaft in Ungewissheit verbringen.
Einfühlsam und doch voller Humor und Leichtigkeit entwirft V. S. Naipaul das Porträt eines immer nur "halb gelebten" Lebens. Ein provozierendes und vielschichtiges Buch, das den Einzelnen gefangen in Herkunft und Abstammung zeigt und die Frage nach den Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens auf atemberaubende Weise neu stellt.
Autorenporträt
Vidiadhar Surajprasad Naipaul, geb. 17.8.1932 in Trinidad, lebt seit 1950 in Großbritannien. Der Romancier, Reiseschriftsteller und Journalist indischer Herkunft gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der englischsprachigen Literatur. Seine Romane 'Ein Haus für Mr. Biswas' und 'An der Biegung des großen Flusses' sowie das Sachbuch 'Eine islamische Reise' waren Welterfolge. Die meisten seiner Werke wurden ins Deutsche übersetzt. 2001 wurde V. S. Naipaul der Literatur-Nobelpreis verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2001

Vor sich selbst verkrochen, bis ins tiefste Mosambik
V. S. Naipauls neuer Roman „Ein halbes Leben” – Eine Odyssee durch drei Kontinente und die Lebensthemen des Nobelpreisträgers
Das Wunder, der Anfang. Am Ende seiner Nobelpreisrede hob V. S. Naipaul hervor, wie glücklich er darüber sei, als Schriftsteller gelebt zu haben. „Ich bin froh, dass ich mich in schöpferischer Hinsicht so weit vorangetrieben habe, wie ich konnte. Das größte Wunder ist aber in meinen Augen, dass es mir gelungen ist, einen Anfang zu machen. Ich habe das Gefühl – und ich kann mich noch heute lebhaft an die Angst davor erinnern – dass ich leicht hätte scheitern können, bevor ich ernsthaft angefangen hatte.”
William Somerset Chandran hat dieses Wunder nicht erfahren dürfen, er scheitert gleich im Anfang, in London. Naipaul lässt den jungen Inder dieselben Viertel durchstreifen, in denen er selbst Ende der Fünfziger Jahre lebte. Er lässt ihm, der als Immigrant so unwissend durch das verregnete London treibt, einen Job als freier Autor bei der BBC zufallen, so wie er einst selbst als BBC-Mitarbeiter begann. Aber er versagt ihm das Entscheidende, den Willen, aus seiner Begabung etwas zu machen, festzuhalten an dem erstmal so unbescheiden unbestimmten Wunsch, ein Schriftsteller zu werden, aus einer leeren Mitte heraus zu schreiben, selbst wenn da zunächst vermeintlich gar kein Thema ist, über das man schreiben könnte.
Aus Chandran sprudeln einige Erzählungen hervor, danach versiegt der Impuls zu schreiben für immer. In seinem Kurzgeschichtenband vermischt er Hollywoods B-Movieplots mit Erinnerungen an seine Kindheit auf dem indischen Dorf zu traurigen Possen um vorgespiegelte Identitäten. „Die Geschichten schienen nur auf ihn gewartet zu haben; es wunderte ihn, dass er sie vorher nie bemerkt hatte, und drei, vier Wochen lang schrieb er zügig. Dann begann das Schreiben an schwierige Punkte zu rühren, an Dinge, denen er sich nichts stellen mochte, und er hörte auf.”
Jahre später, er lebt inzwischen als Plantagenbesitzer in der portugiesischen Kolonie Mosambik, wird seine Frau Ana zu ihm sagen, dass es gerade das Motiv der erlogenen Lebensgeschichte war, das sie so an seinen Erzählungen fasziniert hatte, weil sie darin auch ihr eigenes Leben erkannt hatte: „Diese Fassaden – und dahinter die echte Traurigkeit. Das war der Grund, warum ich dir geschrieben habe.”
In seiner Stockholmer Rede sprach Naipaul davon, er sei die Summe aller seiner Bücher: „Und jedes dieser intuitiv erspürten und – im Falle meiner Romane – intuitiv erschaffenen Bücher baut auf den vorangegangenen Werken auf und erwächst aus ihnen.” „Ein halbes Leben”, sein neuer, schlanker Roman, wirkt wie ein Destillat seiner Lebensthemen: Die Trauer des Exils und die Profanierung alles Heiligen, die untrennbare Verfilzung in die eigene Familiengeschichte, die mächtigen Strudel postkolonialer Auflösungen, die zu den von Naipaul so genannten „half-made societies and half-made nations” führten – all diese mächtigen Themenströme werden in die Geschichte um William Somerset Chandran eingewirkt, den es durch drei Kontinente und drei halbskizzierte Existenzentwürfe treibt, bis er am Ende, mit 41 Jahren, im verschneiten Westberlin seiner Schwester von seinem phlegmatischen Tasten und Scheitern erzählt: „Ich habe mich vor mir selbst verkrochen. Ich habe nichts riskiert. Und jetzt ist über die Hälfte meines Lebens vorbei.”
In William Somerset Maughams Roman „Auf Messers Schneide” sucht ein Amerikaner im kolonialen Indien Erleuchtung. Er trifft auf einen Brahmanen, der sein weltliches Leben aufgab, um sich ganz dem Schweigen und der Askese hingeben zu können. Als der Amerikaner den Heiligen berührt, wird ihm Erleuchtung zuteil. Glücklich kehrt er nach Illinois zurück, um dort fürderhin in „Ruhe, Duldsamkeit, Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Enthaltsamkeit” als Taxifahrer zu leben.
Naipaul beginnt seinen Roman, indem er diese Geschichte noch einmal, diesmal als Farce, aus der Sicht des Brahmanen erzählt. Von Enthaltsamkeit und Wesensschau ist in dieser Version nichts mehr übrig. Willies Vater, der irgendwie von Gandhis Lehren gehört hat, davon, dass der Mahatma die Idee hatte, quer durch Indien zu laufen um am Meer Salz zu gewinnen, will etwas ähnlich Großartiges vollbringen, „ein Opfer dauerhafter Natur, etwas, das der Mahatma gutgeheißen hätte.” So entschließt sich der Vater, der das ganze Buch über namenlos bleibt, dazu, die niederste Person zu heiraten, die er finden kann. Sein weiteres Leben trägt er diesen Entschluss wie eine hochherzige Tat vor sich her; die dunkelhäutige Frau, die er ehelicht, die Mutter von Willie und dessen Schwester Sarojini, verachtet er freilich aus tiefstem Herzen.
Aus Faulheit und Dummheit vernichtet er in seinem Büro Akten und erklärt diese Schlampereien vor sich selbst zu heroischen Momenten zivilen Ungehorsams, auf die Gandhi stolz wäre.
Gandhis Karikatur
Schon in „Land der Finsternis”, seinem ersten Buch über Indien, beschrieb Naipaul voll spöttischem Ingrimm, wie Mahatma Gandhis Wirken von den Indern selbst zerstört wurde, indem sie ihn zum Heiligen ernannten und sich seine Lehre zum bequemen Hausgebrauch uminterpretierten. „Ein halbes Leben” nun nimmt dieses Thema in witziger Form wieder auf, als sich Chandrans Vater nicht Gandhis Frage: „Wie soll ich leben?” stellt, sondern nur pragmatisch kühl darauf schaut, was am einfachsten aufzugeben wäre.
Als der Vater wegen seiner Vergehen juristisch belangt werden soll, flüchtet er sich in einen Tempel und legt ein Schweigegelübde ab. Somerset Maugham kommt vorbei und ist beeindruckt von diesem Mann, der scheinbar so gelassen in seinem Schweigen wohnt und doch nur ein gerissener Blöffer ist.
Der kleine William entdeckt auf der Missionsschule die Lust am Schreiben und erfindet immer neue Parabeln um verlogene Könige und einen kinderfressenden Brahmanen. Als er ein Stipendium erhält, flieht er vor der Enge und Verlogenheit seiner Familie nach England, in die literarische Boheme der späten Fünfziger Jahre, nur um dort die Verhaltensweise seines Vaters zu kopieren, indem er immer neue Geschichten über seine Herkunft erfindet. Was ihn am Leben hindert, das hilft ihm allerdings in der Kunst: In dem Moment, da er sich aus amerikanischen Filmen fremde Identitäten leiht, um die herum er seine indischen Geschichten legt, gelingen ihm die besten Erzählungen.
Als er seine spätere Frau kennen lernt, geht er mit ihr nach Mosambik. Ein neues halbes Leben – und das faszinierendste Kapitel dieses Romans – fängt an, als Anhängsel seiner Frau, als Plantagenbesitzer, als ewig Fremder auf der kleinen Insel aus Gemütlichkeit und Luxus, die sich die portugiesischen Kolonialherren inmitten der afrikanischen Wildnis errichtet hatten. „Als er am Schlafzimmerfenster stand und durch Netzdraht und tote Insekten über den verwilderten Garten und die hohen Papayabäume und das abfallende Land mit seinen Cashewnusshainen und Grüppchen von Grasdächern hinweg zu den Felskegeln blickte, dachte Willie: ‘Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie ich je wieder zurückfinden soll. Diese Aussicht darf mir niemals vertraut werden. Ich darf nicht auspacken. Ich darf mich keine Sekunde verhalten, als würde ich bleiben.’ Er blieb achtzehn Jahre.”
Der früher so gnadenlos sarkastische Naipaul ist altersmilde geworden. Vor über vierzig Jahren stellte er seinem Buch „Auf der Sklavenroute. Meine Reise nach Westindien” einige brutale Sätze des englischen Kolonialreisenden James Anthony Froude voran: „Es gibt auf den karibischen Inseln keine Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes, Menschen mit eigenem Charakter und eigenem Ziel.” Willie erzählt am Ende des Romans, nach seiner Flucht aus Mosambik, kurz vor dem Zusammenbruch der Kolonie und dem Ausbruch des grausamen Bürgerkrieges, seiner Schwester seine Lebensgeschichte, die Geschichte eines Menschen mit schwachem Charakter und ohne eigenes Lebensziel. Aber immerhin erzählt Willie diese Geschichte mit seinen eigenen Worten. Und immerhin schenkt Naipaul seinem traurigen Helden einige tief beglückende sexuelle Erfahrungen und zwei Jahre, in denen er seine Frau Ana geliebt hat. ALEX RÜHLE
V.S. NAIPAUL: Ein halbes Leben. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth und Dirk van Gunsteren. Claassen-Verlag, München 2001. 37,16 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Dieses Buch soll ich geschrieben haben?
V. S. Naipaul erzählt von den Halbheiten des Lebens und von der Geschichte Westindiens / Von Joachim Kalka

Die Initialen des letzten Nobelpreisträgers lösen sich auf zu "Vidiadhar Surajprasad" - die indische Herkunft dieses in Trinidad aufwachsenden, in England studierenden Außenseiters besiegelt die von ihm empfundene Ortlosigkeit durch die doppelte Fremdheit des Asiaten aus Westindien in Europa. Früh bezeichnet er sich selbst als einen, der sich auf keine Seite stellen kann, kein Land hat, keine Gemeinschaft - "man ist ganz und gar Individuum". Andererseits schlägt immer wieder, unauslöschlich, das Spezifische dieser Ortlosigkeit durch: die eigenartige indische Kindheit in Trinidad.

Kein literarisches OEuvre hat so viel dazu beigetragen wie das Naipauls, uns naiven Europäern zu demonstrieren, daß die Dichotomie zwischen unserer und der sogenannten Dritten Welt nicht unbedingt immer die wichtigste ist - daß es andere Risse gibt, die zwischen anderen Kulturen und Existenzformen verlaufen.

Im umfangreichen Werk Naipauls wechseln die Fiktionen und die "factions" der Reisebeschreibungen einander ab - wobei letztere bei aller Sättigung mit realen Einzelheiten aus Politik und Alltag durchaus Kunstcharakter haben. Diese Reisebücher - bei denen die indischen Erfahrungen einen besonderen Platz einnehmen - sind immer auch, mit unausgesprochener Emphase, Teil der Autobiographie, Teil eines fortwährenden Reflexionsprozesses über die eigene Identität oder Nichtidentität. Ein Rezensent hat einmal bemerkt, daß es seit Yeats keinen großen Autor gegeben habe, der das Terrain eines eigenen Mythos mit solcher Hartnäckigkeit bearbeitet habe wie Naipaul: ein beharrlicher Selbstmythologisierer. Er war klug genug, diesen Mythos seiner selbst nicht auf einer scheinhaften "Authentizität" zu errichten, sondern ihn im freien Fall literarisch zu improvisieren.

Die lange Leidensgeschichte jener eigenartigen Institution, die der Nobelpreis für Literatur darstellt, hat dazu geführt, daß seine Zuerkennung nicht unbedingt Vertrauen in die literarische Bedeutung des Empfängers weckt. Naipaul aber war eine angemessene Wahl. Der Claassen Verlag hat jetzt zwei Titel vorgelegt, die zusammen dem deutschen Leser noch einmal die Eleganz und Eindringlichkeit seiner Prosa vorführen, ein altes und ein neues Buch: den jüngsten Roman "Ein halbes Leben" und die 2001 überarbeitete Version eines frühen Buches, das in gewisser Weise zu den Reiseberichten gehört - einer selektiven Chronik der Heimatinsel Trinidad, 1963 als "The Loss of El Dorado" erschienen, mit dem Untertitel: "Eine Kolonialgeschichte".

Naipaul erzählt die Geschichte Trinidads und seiner Hauptstadt Port of Spain, umkämpft zwischen englischen und spanischen Abenteurern und Administratoren (soweit diese Kategorien unterscheidbar sind). Er zentriert seine bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert führende Chronik um zwei "zwei vergessene Geschichten": die Suche nach Eldorado (dem legendären goldenen Mann, der Goldstadt, dem Goldland) und den seinerzeit sensationellen Rechtsfall um die Folterung der jungen Mulattin Luisa Calderón im Jahre 1801.

Beide Geschichten sind voller Schrecken und Pein; beide sind absurd. Die erste berichtet vom ohnmächtigen Versickern der gierig-utopischen Anstrengungen, welche die Europäer seit Raleigh machen, um des fabelhaften Goldes habhaft zu werden. Sie enden in "Einsamkeit und Wahnsinn". Die zweite Geschichte nimmt - 1797 hat der spanische Gouverneur beim Auftauchen eines britischen Flottenkommandos die Insel abgetreten - den in London hohe Wellen schlagenden Justizskandal um Luisa zum Anlaß, um sardonisch die spezielle Dialektik der englischen Entrüstung über die sorgfältig juristisch gestaffelte Folter- und Verstümmelungsmaschinerie der Plantagenwirtschaft vorzuführen.

Ein halbes Leben", der 2000 abgeschlossene Roman, spielt in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts - was man fast als grimmigen Kommentar des Autors lesen möchte: Als rechnete sich die damals aus einem fiktiven Leben zwischen Indien, London und Afrika gezogene Summe nach wie vor ohne Rest, als habe sich nichts Wesentliches geändert. Der Held - ein Antiheld, aber am Ende vielleicht doch ein Heros der Resignation - trägt den Namen Willie Chandran: Den Vornamen verdankt er einer eigenartigen Begegnung seines Vaters mit W. Somerset Maugham. So ist Willie quasi von Europa stigmatisiert - durch den Namen eines Unterhaltungsschriftstellers, der vor allem durch melodramatischen Exotismus bekannt geworden ist. Die Kultur Europas erscheint vom Standpunkt des Protagonisten aus jedoch nicht einmal mehr als übergestülpte Hegemonie, die man abstreifen müßte, sondern sie erscheint von Anfang an fern, absurd, zugleich zwanghaft und irrelevant.

Naipaul zeichnet eine Welt, in der nicht klar ist, ob die Menschen unbedingt scheitern müssen, weil eine monströs-alltägliche Instanz, unsichtbar in ihrer Ubiquität (das Klima, die Geschichte, der Imperialismus), ihnen keine Wahl läßt - in der aber jedes Scheitern das unverwechselbare, unerbittliche Aroma eines bestimmten Orts hat. Diese mit großer Präzision geschilderten Lebenslandschaften sind zufällig und unentrinnbar. Das ist die Form, in welcher eine Kategorie wiederkehrt, die Naipaul ansonsten ruhig und souverän dekonstruiert: die der Authentizität. Eine "eigentliche" Existenz, zu der man zurückfinden oder die man sich als Zukunft erobern könnte, gibt es nicht. Das vollkommen Beliebige, grob und mit beiläufiger Verzweiflung Zusammengezimmerte der Identitäten wird "authentisch" nur in deren schmerzlichem Unbehagen: "All diese Fassaden, diese Vorspiegelungen - und dahinter echte Traurigkeit." Das hat als Grundexempel Naipauls immer wieder vorgetragene Analyse der westindischen Gesellschaften: Künstlichkeit, aus dem Nichts von den Kolonisatoren geschaffen, ohne den Hintergrund etwa der alten afrikanischen oder asiatischen Kulturen. Aber dieses Exempel hat auch anderswo Konsequenzen, überall, wo man näher hinsieht. Auch in der Schilderung Indiens oder des weißen London, der aufgeklärten Bohème von Notting Hill, greift diese Diagnose höhnisch zu, denn hier gilt meist ebenso, daß "Identität" sich zugleich als tolldreist improvisiert und tragikomisch angebunden an einen sozialen Ursprung zeigt. In jenem London schreibt Willie ein kleines Buch, das er später wieder vergißt.

Naipaul verwendet diesmal mit völliger Gelassenheit einen fast archaischen Romanstil, der auf alle modernistischen Züge verzichtet: "Eines Tages fiel Willie auf, daß er Percy Cato schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte." Abgesehen davon, daß Anfang und Ende des Romans (die Geschichte von Willies Vater und seine eigenen Jahre in Afrika) in Form eigener Erzählungen im Erzählten stehen, und abgesehen von der kühnen flaubertschen Ellipsis bei der Ankunft in Afrika "Er blieb achtzehn Jahre", folgen wir dem langsamen Vorrücken einer klassischen Handlung (von weitgehender Ereignislosigkeit).

Wenn das afrikanische Dienstmädchen zu Willie sagt: "Wir essen jeden Tag dasselbe", so läßt Naipaul den Erzähler die großartige Bemerkung hinzufügen: "Ich wußte nicht, ob sie sich beklagte oder ob sie stolz darauf war oder ob sie lediglich auf eine Eigenart afrikanischer Lebensumstände hinwies." Eine solche Ungewißheit, die tief in die eigenen Lebenszusammenhänge hineinreicht, gehört zum eigentlichen Thema des Buches; sie gehört zur "Halbheit" des Lebens. Und Willies éducation sentimentale, die ihn von Indien nach England und dann nach Afrika führt, um zufällig in Deutschland zu enden - in einem mit wenigen Strichen angedeuteten schmutzig verschneiten Berlin, wo seine Schwester nach der Heirat mit einem arriviert-revolutionären deutschen Filmemacher wohnt und wo er ihr seine afrikanischen Jahre erzählt -, macht sein Leben, von einer kurzen erotischen Erfüllung abgesehen, nicht vollständiger.

Die Präzision, mit der Naipaul die kleinen Welten der Anomie schildert, ist ethnologisch. Oder zumindest ethnographisch im Sinne der "dichten Beschreibung". Seine Schilderung beispielsweise der nicht reinblütigen Mittelklasse-Portugiesen in Moçambique ist meisterlich. Sie zielt wie stets nie direkt auf Ökonomie oder Ideologie, obwohl auch hier en passant genaue Beschreibungen zu finden sind, sondern betätigt immer eine Art Goffmansches Beobachtungsinteresse: an den kleinen und für das soziale Funktionieren so unendlich wichtigen Formen der Selbstdarstellung im Alltag. Naipaul hat meist - es trug ihm manche Kritik ein - den Befreiungsbewegungen gegenüber Skepsis gezeigt. Aber niemals wird man in seinen Texten eine retrospektive Vergoldung der Kolonialherrschaft finden. Er schildert vielmehr das Groteske, Gelähmte, zwanghaft Theatralische dieser Lebensformen.

Als Willie in London eine Handvoll Erzählungen über Indien schreibt, stellt er fest, daß er nur dann etwas zu Papier bringen kann, wenn ihm mehr oder minder triviale westliche Modelle helfen, seine Erfahrungen zu entbinden: Die Hauptinspirationsquelle sind seine frühen Kinobesuche - seine indischen Geschichten sind "aus alten Hollywoodfilmen und der Maxim-Gorki-Trilogie aus Rußland abgestaubt". Die Alchemie der alten Filme, die Willie hilft, damit "der unbestimmte Ort" im Schreiben Gestalt annimmt, wiederholt diese Verknüpfung in betont trivialer Form: Auch die Trivialität gehört zu dieser Magie.

Das geheime Zentrum des Romans wäre vielleicht diese Inspiration Willies durch ein Halbbegriffenes, Fremdes, Unwirkliches. Er denkt bald nicht mehr an sein Buch. Aber was sein Freund Roger ihm einmal schreibt: "Ich glaube, dein Buch wird auf eine Art weiterleben, von der du jetzt noch nichts ahnst" - das wird von Naipaul nicht zurückgenommen. Das komische Ingenium, das in anderen Texten Naipauls so deutlich ausgeprägt ist - etwa in "Ein Haus für Mister Biswas" - ist hier leise geworden, aber vielleicht gehört es zur Komik des Romans, daß der Protagonist vergißt, ein bedeutendes Buch geschrieben zu haben.

Ein sehr schöner, leiser, entschiedener Roman; daneben Naipauls Buch über die qualvolle Geschichte Westindiens, das man fast beschämt "spannend" nennen kann. Es ist ein wenig schade, daß der Verlag für "The Loss of El Dorado" den falsch nostalgisch klingenden "Abschied von El Dorado" gesetzt hat. Aber es ist dankenswert, daß diese beiden sich schön ergänzenden Bücher nun in guter Übersetzung vorliegen. Übrigens: Hat eigentlich schon einmal ein Verlag daran gedacht, die Bücher des allzufrüh verstorbenen Bruders Shiva Naipaul (1945 bis 1985) auf deutsch herauszubringen? Werke wie "A Hot Country" oder "North of South" stehen denen von Vidiadhar Surajprasad Naipaul in nichts nach.

V. S. Naipaul: "Ein halbes Leben". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Roth und Dirk van Gunsteren. Claassen Verlag, München 2001. 223 S., 19,- .

V. S. Naipaul: "Abschied von El Dorado". Eine Kolonialgeschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Münch und Kathrin Razum. Claassen Verlag, München 2001. 448 S., geb., 23,- .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Anlässlich des 70. Geburtstages des Literaturnobelpreisträgers V. S. Naipaul bespricht Georg Sütterlin gleich eine ganze Reihe soeben auf Deutsch erschienener Werke des zu einem der "besten" Schriftsteller der Welt gekürten Literaten. "Ein halbes Leben" wirkt auf den Rezensenten schon im Titel "mehrdeutig". So werde hier ein Leben erzählt, das nur "zur Hälfte" zur "Entfaltung" komme, zugleich werde dieses Leben aber auch nur "zur Hälfte" erzählt. Im Roman geht es um die Geschichte des Inders Willie Chandran, der ein Stipendium nutzt, dem heimischen Elend zu entfliehen und nach England geht, sich dort in eine portugiesisch-afrikanische Studentin verliebt, ihr nach Mocambique folgt, seine Frau verlässt und schließlich, inzwischen Anfang vierzig, seiner Schwester in Berlin sein Leben erzählt, berichtet der Rezensent. Beeindruckt von Naipauls "glasklarer Sprache" und dessen Talent, "viel sagen und gleichzeitig so leicht lesbar" schreiben zu können, hat Sütterlin trotzdem den Eindruck, dass Naipaul sein Diktum über den Tod der Romanform hier zum Tragen gebracht habe. Außerdem wirkt dieser Roman, denkt der Rezensent, wie eine "Verallgemeinerung der eigenen Befindlichkeit" des Autors, der vieles mit seinem Protagonisten gemeinsam habe.

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