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Produktdetails
  • Verlag: Claassen Verlag
  • Originaltitel: Ship Fever and other Stories
  • Seitenzahl: 319
  • Abmessung: 31mm x 129mm x 211mm
  • Gewicht: 454g
  • ISBN-13: 9783546002295
  • ISBN-10: 3546002296
  • Artikelnr.: 24386444
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2001

Wo die Schwalben überwintern
Kapriolen des Wissens: Andrea Barretts Erzählband "Schiffsfieber"

Johann Gregor Mendel züchtet seine Erbsen hinter der Klostermauer in Brünn, der amerikanische Biologe Richard kommt mit einem sechsten Finger zur Welt. Mendel trägt 1865 dem Verein für Naturforschung in Brünn seine Thesen zum dominanten und rezessiven Erbgut vor, seine Theorie stößt auf Desinteresse. Erst zwei Generationen weiter erkennt der Botaniker Hugo de Vries, daß Mendel die Gesetze der Vererbung formuliert hat. Auch Richards Hexadaktylie überspringt eine Generation, seine Kinder sind gesund, doch den Enkeln ist ein sechster Zeh gewachsen. Richard trägt, dies ist der springende Punkt der Kurzgeschichte, einen Brief von Johann Gregor Mendel in der Tasche. Antonia hat Richard diesen Brief geschenkt, seine spätere Ehefrau und Ich-Erzählerin, die wiederum ihre eigene Beziehung zu Mendel hat, den Erbsen und Brünn. Antonia ist die Enkelin eines tschechischen Einwanderers, der ihr Mendels Brief hinterlassen hat, der eher ein Zeugnis von der Einsamkeit des Klosterbruders und Biologen ablegt als von seinem postumen Ruhm. Auch Antonias Ehe mit Richard führt zur Einsamkeit, die Rolle der Hausfrau und Professorengattin zu einer Depression.

"Habichtskraut" ist ein gelungener Auftakt für diesen Erzählband von Andrea Barrett. Die amerikanische Autorin ist studierte Biologin mit Interesse für die Wissenschaftsgeschichte und literarischem Talent. Barrett führt historische und fiktive Elemente ein, die einander ergänzen oder kontrastieren, in jedem Fall kommentieren. Mendels Wissen wie Richards genetischer Defekt müssen einen Generationssprung vollziehen, bevor sie ans Tageslicht dringen. Bleibt die Frage, ob sich die Natur willkürlich oder nach einem Ordnungsprinzip entfaltet. In den Erzählungen stellen sich eine Reihe bekannter und unbekannter Wissenschaftler diese Frage, darunter Carl von Linné und Charles Darwin. Ihre Wirkungszeit war das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert, als die Grenzen des Wissens sich rasch zu weiten begannen. Mit dem Wissen der Nachgeborenen sät die Autorin Zweifel im Geist ihrer Wissenschaftler, Zweifel an dem Wert ihrer Erkenntnis und an dem Preis, der dafür zu zahlen war.

Man nehme Carl von Linné. Seine Geschichte mit dem Titel "Der englische Schüler" spielt 1777 in Uppsala, im Jahr vor dem Tod des Wissenschaftlers. Linnés einst bemerkenswertes Gedächtnis hat an einem Schlaganfall gelitten, nur mühsam findet er Worte. An einem Winterabend befiehlt er seinem Kutscher, in ein Blockhaus zu fahren, der Ausflug gerät zu einer Erinnerungsfahrt an seine Jugend, als Linné in Lappland forschte. In Linnés verwirrtem Geist mischen sich seine Triumphe mit seinen Niederlagen. Seine Schüler treten vor ihn, die in Linnés Auftrag die letzten Winkel der Erde bereisten, um exotische Spezies zu finden, und von denen nur einer zurückkam, der Rest ist verdurstet oder ertrunken oder verschollen. "Apostel" nennt der Alte seine Schüler, und das ist mehr als ein Scherz, denn er glaubt, ein von Gott Berufener zu sein.

Linné führte das heute verwendete System der zweigliedrigen Nomenklatur in die Biologie ein. In der Folge von Aristoteles glaubte er, damit die göttlichen Essenzen zu entschlüsseln. Ohne Linné zu denunzieren, zeigt Andrea Barrett, wie der Wissenschaftler an diesem Glauben wuchs und scheiterte. Da die aristotelischen Essenzen zeitlos und unwandelbar sind, verweigerte Linné sich der Empirie bis hin zum Starrsinn. Er behauptete bis zuletzt, daß die Schwalben in den Seen überwinterten, doch weigerte er sich, eine Schwalbe zu fangen und sie in Wasser zu tauchen. Dieses Experiment läßt Barrett in "Seltener Vogel" zwei unbekannte Engländerinnen schon 1762 durchführen. Eine von ihnen heißt Sarah Anne, auch sie eine historische Figur. Unter den Initialen S. A. Billopp schrieb sie an Carl von Linné, der ihrer Hypothese, Schwalben seien Zugvögel, noch weniger Beachtung schenkte als die Naturfreunde von Brünn dem Augustinerbruder Mendel.

Andrea Barretts Kurzgeschichten bestechen durch ihren knappen und lakonischen Erzählton und die Weise, in der Zeiten, Orte und Ideen zu einem Ganzen verschmelzen. Doch es finden sich auch Erzählungen in diesem Band, deren Bezüge forciert sind. Dies gilt vor allem für "Höhenkoller". Hier heiratet eine junge Amerikanerin aus der Unterschicht einen viel älteren Mann aus der oberen Gesellschaft. Die folgende Verunsicherung und die privaten Rückschläge inszeniert Barrett parallel zur Geschichte eines jungen Eingeborenen, den Charles Darwin aus Südamerika mit nach London nahm und erfolgreich bei Hofe einführt, um ihn anschließend wieder in Feuerland abzusetzen. Die übrigens verbürgte Episode wirkt in diesem Kontext sentimental, die beiden Handlungsstränge sind einander zu ähnlich, um überzeugend zu fusionieren.

Im Grunde handelt es sich bei Barretts komplexen Erzählungen um Romane in nuce, was besonders deutlich wird bei der titelgebenden, mehr als hundert Seiten umfassenden Geschichte "Schiffsfieber". Hier greift die Autorin das Elend der Iren auf, die 1847 vor der heimischen Kartoffelfäule nach Amerika flüchteten. Die mehrwöchige Seereise forderte ihre Opfer, viele der Emigranten starben an Dreck und an Typhus, der Rest erreichte die Neue Welt eher tot als lebendig. Nüchtern und ohne falsches Gefühl erzählt Barrett aus der Perspektive des jungen amerikanischen Arztes Laughlin. In dem Wissen, daß er selbst an der Seuche sterben kann - er wird sterben -, pflegt Laughlin die Typhuskranken in der Quarantänestation von Grosse Isle. Laughlin tut dies zunächst widerwillig, dann immer lieber, es gelingt ihm so, sich seiner verheirateten Jugendfreundin Susannah zu beweisen. Etwas behäbig und von Zweifel an seiner Profession geplagt, steht Laughlin in Kontrast zu Susannahs schneidigem Ehemann, der als Journalist durch Irland reist und in Briefen von der grassierenden Kartoffelfäule berichtet. Laughlin ist eine sympathische, jedenfalls dreidimensionale Erscheinung, mehr Mensch und weniger Theorem als die vorhergehenden Figuren in diesem Erzählband.

Mit der Willkür desjenigen, der Gott spielen darf, pflegt er die totgesagte Irin Nora gesund. Nora wurde kurz nach ihrer Ankunft in Grosse Isle von ihrem Bruder Ned getrennt. Der wiederum heuerte in Barretts vorletztem Roman "The Voyage of the Narwhal" als Schiffskoch unter Franklin an. Eine Fortsetzung könnte folgen, hoffentlich auch eine Fortsetzung von Barretts präzisem und einfallsreichem Zugriff auf die Geschichte der Wissenschaft.

TANYA LIESKE

Andrea Barrett: "Schiffsfieber". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Karen Nölle-Fischer. Claassen Verlag, München 2000. 336 S., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Tanya Lieske bezeugt der Autorin literarisches Talent und einen präzisen wie einfallsreichen Zugriff auf die Geschichte der Wissenschaft, mit dem sie fiktive und historische Elemente kombiniert. Die erste Erzählung des Bandes, "Habichtskraut", hält sie für einen gelungenen Auftakt; auch die Erzählung "Der englische Schüler" findet ihr Lob, sie schätzt den knappen und lakonischen Erzählton und die Verschmelzung der verschiedenen Motive und Ideen zu einem Ganzen. Manche Erzählungen sind ihr jedoch zu forciert, so etwa "Höhlenkoller" - diese Erzählung kommt ihr etwas sentimental vor, und die Parallelführung zweier Handlungsstränge findet sie aufgrund der zu großen Ähnlichkeit nicht überzeugend. Im Ganzen hält sie die Erzählungen Barretts für "Romane in nuce", was vor allem für "Schiffsfieber" gelte. Sie lobt auch die Gestaltung der Hauptfigur dieser Erzählung, die "mehr Mensch und weniger Theorem" sei - anders als andere Figuren dieses Bandes. Charakteristisch für ihre Erzählungen sei, dass sie mit dem Wissen der Nachgeborenen "Zweifel an dem Wert der Erkenntnis und an dem Preis, der dafür zu zahlen war" in den Geist ihrer Wissenschaftler sät.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Barretts narratives Labor bietet ein beeindruckendes Spektrum an Instrumenten auf: wechselnde Erzählstimmen, Tagebucheinträge, Briefe. Ihr Werk besticht allein schon durch schieres Wissen, ebenso wie durch gewissenhafte Beobachtungen und Beschreibungen. Ganz leise überwältigt uns der Text, als betrachte man handgeschöpftes Papier unter dem Mikroskop.« Thomas Mallon The New York Times