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Alexander Mitscherlich, der im September 2008 hundert Jahre alt geworden wäre, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten, die der geistigen Physiognomie der Bonner Republik ihren Stempel aufgedrückt haben. Als Mediziner und Wissenschaftler trug er entscheidend dazu bei, die Psychosomatik und die Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland institutionell zu verankern. Als Publizist traf er nach dem Ende der Adenauer-Ära mit seinen Bestsellern 'Medizin ohne Menschlichkeit', 'Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', 'Die Unwirtlichkeit unserer Städte' und 'Die Unfähigkeit zu trauern' neuralgische…mehr

Produktbeschreibung
Alexander Mitscherlich, der im September 2008 hundert Jahre alt geworden wäre, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten, die der geistigen Physiognomie der Bonner Republik ihren Stempel aufgedrückt haben. Als Mediziner und Wissenschaftler trug er entscheidend dazu bei, die Psychosomatik und die Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland institutionell zu verankern. Als Publizist traf er nach dem Ende der Adenauer-Ära mit seinen Bestsellern 'Medizin ohne Menschlichkeit', 'Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', 'Die Unwirtlichkeit unserer Städte' und 'Die Unfähigkeit zu trauern' neuralgische Punkte. Und als öffentlicher Intellektueller entwickelte er sich aus dem antidemokratischen Milieu der Weimarer Republik heraus zu einem streitbaren Demokraten, der mit Leidenschaft zu den brennenden Problemen der Zeit Stellung bezog. Timo Hoyer verfolgt den Werdegang von Deutschlands bekanntestem Psychoanalytiker von der Kindheit an bis zu dessen Tod 1982. Das Porträt von Mitscherlichs intellektueller Entwicklung, seines wissenschaftlichen Wirkens und seines gesellschaftlichen Engagements ist zugleich das Porträt einer Epoche. Zahlreiche erstmals veröffentlichte Quellen und Abbildungen machen diese Biographie einzigartig.
Autorenporträt
Hoyer, Timo
- geboren 1964- Magisterstudium der Erziehungswissenschaft, Philosophie und Neueren deutschen Literatur in Frankfurt/Main- 1997 bis 2005 Wissenschaftlicher Angestellter an der Universität Kassel- 2001 Dissertation mit der Schrift 'Nietzsche und die Pädagogik', für die er den Georg-Forster-Preis der Universität Kassel erhält- 2005 Habilitation für das Fach Erziehungswissenschaft mit der Arbeit 'Tugend und Erziehung'- 2005 bis 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt/Main- Privatdozent an der Universität Kassel- 2007/2008: Vertretungsprofessor für Praktische Philosophie an der Universität Kassel- 2008 bis 2010: Vertretungsprofessor für Allgemeine Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe- seit 2010 Akademischer Rat an der PH Karlsruhe- seit 2011 apl. Professor an der Universität Kassel
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.09.2008

Die Ein-Mann-Armee der deutschen Psychoanalyse
Timo Hoyer zeichnet ein biographisches Porträt des zerrissenen Multitalents Alexander Mitscherlich
Alexander Mitscherlich ist nicht nur einer der intellektuellen Gründungsväter der Bundesrepublik, er zählte auch zu den Medienstars des derzeit wieder so stark diskutierten Epochenjahres „1968”. Trotzdem war er bis vor kurzem einer der großen Vergessenen der Bonner Republik. Auch wenn manche der von ihm geprägten Schlagwörter sich beharrlich in den Umlaufbahnen des kulturellen Diskurses halten – am nachhaltigsten sicherlich das von der „Unfähigkeit zu trauern” – , sein Werk ist in den Jahrzehnten nach seinem Tod 1982 nahezu vollständig ignoriert worden.
Gerade weil der Wissenschaftler Mitscherlich so gründlich in der Versenkung verschwunden ist, blieb das aus seiner Glanzzeit stammende Bild des politisch eingreifenden Meisterdenkers und psychoanalytischen Chefinterpreten der deutschen Kollektivseele unangetastet. Damals, in den Sechzigern, war Mitscherlich der öffentliche Intellektuelle par excellence und eine moralische Instanz. Was nicht zuletzt mit dem Ruf zusammenhing, er habe im Nationalsozialismus zum Kreis der Widerstandskämpfer gehört. Er selbst hat dies in seinem Lebensrückblick entsprechend betont.
Originell und sonntagsmalerisch
Kein Zufall, dass das Interesse an der Person Mitscherlichs prompt mit dem Erscheinen zweier Biographien wieder erwachte, die einige Korrekturen an dieser Version vornahmen. Die im Vorjahr publizierten Arbeiten der Historiker Martin Dehli und Tobias Freimüller konnten einige Retuschen an dem linksliberalen Heiligenbild freilegen, das Mitscherlich zum NS-Widerstandshelden, Demokraten der ersten Stunde und zugleich entschiedenen Dissidenten der zweiten deutschen Republik verklärte. Nun liegt, zu seinem 100. Geburtstag am 20. September, eine dritte, die umfangreichste Biographie Mitscherlichs vor. Der Frankfurter Sozialwissenschaftler Timo Hoyer betont, sein Buch sei „ein biographisches Porträt, in dem sich die Epoche spiegelt, und kein psychologisches”. Ein erfreulicher Irrtum. Denn auch wenn es nicht in der Absicht des Autors gelegen haben mag: Am Ende der 600 Seiten starken Schrift steht ein Bild Mitscherlichs, das durchaus etwas von der empirischen psychologischen Person zeigt, ohne die sein Lebenswerk schlechterdings nicht zu verstehen ist. „Seine Sozialpsychologie”, so sagt Hoyer selbst, „ist von seiner Persönlichkeit nicht zu trennen.”
Hoyer zeichnet das Bild eines vielfältig Begabten, der ein Leben lang damit zu tun hat, nicht von seinen auseinanderweisenden Strebungen, Neigungen und Zielstellungen fragmentiert zu werden: das Multitalent Mitscherlich – ein Zerrissener. Das beginnt beim jungen Mann aus großbürgerlichem Haus, der in seinen Karriereplanungen ähnlich uneindeutig ist wie in seinen politischen Orientierungen. Mitscherlichs zeitweilige Nähe zu Kreisen der antidemokratischen Rechten und Leitfiguren wie Ernst Jünger oder Ernst Niekisch ist spätestens seit den Arbeiten von Dehli und Freimüller bekannt. Hoyer verschmäht es zu Recht, diese juvenile Episode zu skandalisieren. Aber er macht durchaus deutlich, dass Mitscherlichs eigene Einordnung dieser Lebensphase ebenso durch Erinnerungslücken und sachliche Unstimmigkeiten getrübt ist wie die Darstellung seiner Resistance im Nationalsozialismus.
Das Bild des Zerrissenen verdeutlicht sich in seinem beruflichen Werdegang. Nach dem abgebrochenen Geschichtsstudium und einem Intermezzo als Buchhändler in Berlin ist der junge Arzt Mitscherlich im Gefolge seines Mentors Viktor von Weizsäcker um eine radikale Reform der Medizin bemüht. Noch im Krieg schreibt er, unter Auflagen der Gestapo im Heidelberger Klinikum praktizierend, das Buch, das vielleicht am besten Aufschluss über seine Art des Denkens gibt. „Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit” ist ein kühner, synkretistischer Entwurf, in dem die unterschiedlichsten Theorietraditionen miteinander verschmolzen werden: von der philosophischen Anthropologie über die Paläontologie bis hin zur Psychoanalyse – in der C. G. Jung damals noch gleichberechtigt neben Sigmund Freud steht.
Systematik und Methodik waren nie Mitscherlichs Sache. Sein erster theoretischer Begründungsversuch einer biographisch orientierten, ganzheitlich Leib und Seele umfassenden Medizin ist das Werk eines geistigen Grenzgängers; eines Wagemutigen, den mit Freud das Naturell des wissenschaftlichen Abenteurers verbindet. Freuds Selbstbeschreibung als „Konquistadorentemperament” trifft auch auf Mitscherlich zu.
Zu diesem Wesenszug gehört, im Zweifel mehr zu wollen, als möglich ist. Und daraus resultiert, im Glücksfall, Unerwartetes. Mitscherlich gelang das als Wissenschaftsorganisator. Die Gründung des Sigmund-Freud-Instituts 1959 in Frankfurt, und damit die Wiedereinbürgerung Freuds und seiner von den Nazis verfolgten Lehre ins deutsche akademische Leben, war das Ergebnis jahrelangen Kampfes und geschickter Diplomatie. Dass der, dem diese Großtat gelang, nicht nur keine analytische Ausbildung hatte, sondern lange davor zurückscheute, sich einer Lehranalyse zu unterziehen, passt ins Bild. Nicht nur deshalb blieb der im Ausland als „one-man-army” der deutschen Psychoanalyse Gefeierte in der deutschen psychoanalytischen community ein ambivalent bewunderter – und gefürchteter weil mächtiger – Außenseiter. „Man möchte Ihnen besonders viel Vertrauen schenken und schützt sich durch das Gegenteil: Traut ihm nicht, er kann Euch vernichten” schrieb Horst-Eberhard Richter an Mitscherlich. Er sei vielen ein verehrtes Vorbild und doch „andererseits der gefährliche Zauberer, der mit einer Handbewegung alles zertrümmern kann”.
Im Feld der Theorie brachte ihm sein Grenzgängertum weniger Glück. Mitscherlichs ehrgeizigste Vorhaben, allesamt in Grenzbereichen unterschiedlicher theoretischer Ansätze angesiedelt, kamen nicht zur Vollendung. Das wichtigste Heidelberger Projekt, die Etablierung einer verstehenden psychosomatischen Medizin, blieb klinisch ein Torso, das geplante Lehrbuch ungeschrieben. Der in Frankfurt betriebene Syntheseversuch von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft, der in Mitscherlichs großen sozialwissenschaftlichen Studien Ausdruck fand, erbrachte zwar interessante zeitdiagnostische Einsichten (etwa in „Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1965, soeben im Suhrkamp-Verlag neu aufgelegt), konnte aber weder methodisch noch systematisch überzeugen. Es war das kaum anschlussfähige Werk eines einzelgängerischen Virtuosen.
Über sein theoretisch anspruchsvollstes Buch, „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft” schrieb Mitscherlich selbstkritisch: „Es ist irgendwie ein selbständig und unermüdlich erdachtes Buch, aber auch irgendwie dilettantisch und sonntagsmalerisch.” Der Sozialpsychologe, der seit seiner Zeit als Berichterstatter über die Nürnberger Ärzteprozesse stets den unauflösbaren Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft betont hatte, war, so Hoyer, „ein Gesellschaftstheoretiker ohne konsistente Gesellschaftstheorie”.
Tatsächlich war dieses theoretische Manko jedoch eine Bedingung seiner Produktivität. Mitscherlichs unbändiges intellektuelles Temperament war nicht in den Grenzen der Normalwissenschaft einzufrieden. Und auch nicht in jenen des psychoanalytischen Mainstreams. Die Frage ist berechtigt, ob der Zugewinn an theoretischer Konsistenz, den seine zunehmende Orientierung am orthodoxen Freudianismus – sicherlich auch Resultat seiner späten Analyse in London – mit sich brachte, nicht durch einen Verlust an Originalität erkauft war. Manche seiner sozialpsychologischen Ideen jedenfalls wirken heute wie allzu gelehrig-schematische Umsetzungen analytischer Lehrsätze aufs Kollektiv.
Die Kraft der Übertreibung
Dies war jedoch seinem Talent als wortmächtiger Souffleur des Zeitgeistes durchaus nicht abträglich: Mitscherlichs größte Fähigkeit war, zum richtigen Zeitpunkt Stichworte in die öffentliche Debatte einzuspeisen, die schnell ihren Duktus bestimmten. Das Paradebeispiel dieser Praxis ist der Titel des zusammen mit seiner Frau Margarete verfassten wissenschaftlichen Bestsellers der sechziger Jahre: „Die Unfähigkeit zu trauern”. Der analytische Wert dieser recht schlichten Übertragung eines kaum ausformulierten Freud-schen Gedankens auf das Kollektiv der Deutschen nach 1945 ist durchaus fragwürdig, aber die Wirkung der Parole war ungeheuerlich. Parolen wirken durch die Kraft der Zuspitzung. Darin war Mitscherlich unübertrefflich. Die in der „Unfähigkeit zu trauern” angestoßene Debatte über den Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit öffnete Denkräume für die Vorstellbarkeit des Ungeheuerlichen. Die Psychoanalyse fungierte dabei als Mittel der Pointierung.
Theodor W. Adorno, Mitscherlichs Weggefährte und Freund, hat das Bonmot geprägt, an der Psychoanalyse sei nichts wahr als ihre Übertreibungen – und damit eine methodische Eigenart der Psychoanalyse getroffen. Ihre „Übertreibung” besteht zweifellos in der Kunst, die Abgründe und Monstrositäten erkennbar zu machen, die inwendig unsere scheinbar so restlos entzauberte Welt immer noch beherrschen. Mitscherlich gelang das Kunststück, die Übertreibung als mäeutisches Mittel der kollektiven Selbstreflexion einzusetzen: genau in jener entscheidenden Phase der umwegigen Verwandlung einer im Kern immer noch autoritären in eine Zivilgesellschaft. Er hat, könnte man sagen, den verfremdenden psychoanalytischen Blick dafür genutzt, seine Zeit in Gedanken zu fassen. CHRISTIAN SCHNEIDER
TIMO HOYER: Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – ein Porträt. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 623 Seiten, 39,90 Euro.
Alexander Mitscherlich (1908-1982) Foto: Brigitte Hellgoth / SZ Photo
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Hans-Martin Lohmann bemüht sich, der letzten und innerhalb zweier Jahre dritten Alexander Mitscherlich-Biografie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Qualitäten des von Timo Hoyer verfassten Porträts sind seine gute Lesbarkeit und die anschauliche Darstellung der vielfältigen und charismatischen Persönlichkeit, die puzzleartig und gleichberechtigt den Psychoanalytiker, Arzt, Hochschullehrer, Publizisten und Bestsellerautor nebeneinander stehen lässt. Da Hoyer, wie seine Vorgänger, die private Seite als Ehemann, Vater, Freund und Kunstliebhaber auslässt, unterscheidet er sich in seinen Ergebnissen kaum von den vorhergehenden Biografien. Verdrossen hat den Rezensenten die Verschleierungs seiner Quellen: "Hoyer hat sich der Biografien von Dehli und Freimüller als sekundärer Quellen bedient, ohne dies hinreichend kenntlich zu machen". Außerdem moniert Lohmann, dass der Autor die Nähe des jungen Mitscherlich zu Wortführern der Konservativen Revolution wie Ernst Jünger und Ernst Niekisch als gemäßigtes Epigonentum herunterspielt.

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