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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die amerikanische Gesellschaft in einem Prozess stürmischer Modernisierung, der maßgeblich durch Tendenzen der Urbanisierung, Professionalisierung und Bürokratisierung geprägt war. Die Entstehung einer regulativen Sozialpolitik traf mit dem Aufstieg der Frauenbewegung, der New Immigration und den sich verschärfenden Auseinandersetzungen um die nationale Identität Amerikas zusammen. Diese Entwicklungen schufen die Voraussetzungen für ein Reformklima, in dem die USA den entscheidenden Schritt in die Moderne vollzogen.
Friedrich Jaeger untersucht die
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Produktbeschreibung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die amerikanische Gesellschaft in einem Prozess stürmischer Modernisierung, der maßgeblich durch Tendenzen der Urbanisierung, Professionalisierung und Bürokratisierung geprägt war. Die Entstehung einer regulativen Sozialpolitik traf mit dem Aufstieg der Frauenbewegung, der New Immigration und den sich verschärfenden Auseinandersetzungen um die nationale Identität Amerikas zusammen. Diese Entwicklungen schufen die Voraussetzungen für ein Reformklima, in dem die USA den entscheidenden Schritt in die Moderne vollzogen.
Friedrich Jaeger untersucht die Transformationskrisen und Umbrucherfahrungen in den USA aus der Perspektive der Intellektuellen, die zum Kern des Progressive Movement gehörten. Sein Zugang ist dabei nicht rein ideengeschichtlicher Natur; er rückt vielmehr intellektuelle Entwürfe in den Kontext sozial- und politikgeschichtlicher Entwicklungen und leistet damit methodisch einen Beitrag zur Vermittlung von Ideengeschichte, Sozialgeschichte und Politikgeschichte. Die spezifisch amerikanische Variante »bürgerlicher Gesellschaft« wird greifbar; sie kann der historischen Bürgertumsforschung als Vergleichsfolie dienen und darüber hinaus den aktuellen politischen Debatten um die Bürger- und Zivilgesellschaft eine historische Dimension verleihen.
Autorenporträt
Dr. Friedrich Jaeger ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.05.2002

Amerikanisches Radieschen
Friedrich Jaeger geht dem Wort „Zivilgesellschaft” an die Wurzel
Seit dem Fall der Mauer muss man ein neues internationales Wort lernen: „Zivilgesellschaft”, „civil society”, „société civile”. Wissenschaftler benutzen es ebenso wie Politiker. Es erzeugt mitunter Aggressionen, weil manche Leute glauben, es bürste soziale Ungleichheiten der westlichen Gesellschaften weg und richte die Geschichte auf ein einziges normatives zivilgesellschaftliches Ziel aus. Diktaturen bauen schließlich auch auf eine Art von Zivilgesellschaft, allerdings eine von oben gesteuerte.
Das Wort hatte aber auch deshalb so viel Erfolg, weil es eine Grunderfahrung des Umbruchs in Osteuropa 1989/91 und des Transformationsprozesses danach enthält: Demokratisierung ist nicht allein eine Frage der Verfassungen, der Parlamente, der Gerichte, sondern hängt auch an sozialen Bewegungen, Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, an intellektuellen Netzwerken, an engagierten, organisierten, aktiven Bürgern.
Ohne die Zivilgesellschaft wäre das sowjetische Imperium wahrscheinlich auch zusammengebrochen, aber es wären nach dem Zusammenbruch keine Demokratien entstanden. Ohne Zivilgesellschaften könnten sich die westlichen Demokratien schwerlich halten. Ohne Zivilgesellschaft wird es auch keine Demokratisierung der Europäischen Union geben. Was immer man von dem Wort halten mag, das in Europa bis zur Aufklärung verwandt wurde und heute aus Ostmitteleuropa und aus den USA wieder in den Sprachen Europas übernommen wird: Es enthält eine wichtige Botschaft.
Wäre es besser, stattdessen von der „bürgerlichen Gesellschaft” zu sprechen? Das ist ein eingeführtes Wort, seit der Aufklärung im deutschen Sprachraum verankert, das allerdings eher an Verfassung, Rechtsstaat, Öffentlichkeit denken lässt. Oder wiegen die Nachteile dieses Begriffs zu schwer? Mit Demokratie ist er weniger explizit verbunden, er ist altmodisch, klingt etwas nach bürgerlicher Exklusion und ist schwer in andere europäische Sprachen übersetzbar.
Zivil oder bürgerlich?
Friedrich Jaeger stellt sich solchen Fragen. In seinem Buch über den amerikanischen Liberalismus untersucht er die Wurzeln des Wortes „Zivilgesellschaft” in den amerikanischen Debatten über Politik und Gesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts. In einer überzeugenden Verbindung von Ideengeschichte und Sozialgeschichte behandelt er Denker der „progressive era”: John Dewey, Walter Lippmann, Torstein B. Veblen. Der Begriff „Zivilgesellschaft”, so Jaeger, stamme aus dieser Zeit. Er sei vor allem von John Dewey mit Sinn erfüllt worden.
Als Ersatz für die im Niedergang befindlichen, lokalen politischen Gemeinschaften der USA entwickelte Dewey die Vorstellung einer großräumigeren, auf Vereinen und Verbänden aufbauenden, debattierenden Öffentlichkeit, in der sich die Bürger über Regeln und Sinn des am Gemeinwohl orientierten politischen Handelns verständigen. Im Zentrum dieses Begriffs standen nicht der Staat, der Wirtschaftsmarkt, eine von oben manipulierte Öffentlichkeit oder das isolierte Individuum, sondern diese politische Erfahrungsgemeinschaft der verantwortlichen Bürger.
In Jaegers Augen gewinnen diese kommunitaristischen Vorstellungen die öffentliche Aufmerksamkeit immer wieder, und zwar vor allem in moralischen Krisensituationen des Liberalismus, in Zeiten der Verunsicherung über die Werte angesichts von bloßer Marktkonkurrenz und Konsum. Er sieht allerdings in der Zivilgesellschaft kein Gegenkonzept zum Liberalismus, sondern den Versuch der Stabilisierung und Selbstkorrektur der liberalen Gesellschaft.
Das Konzept der Zivilgesellschaft ist in Jaegers Augen politisch nicht eindeutig verortet. Es kann von Verfechtern wertkonservativer Kulturkritik und von Verfechtern liberaler Reformen verwandt werden. Es ist aber doch meist eng mit Vorstellungen von einer starken Bürgerpartizipation verbunden; es baut nicht, wie manchmal behauptet wird, auf einen jakobinischen Konsensdruck, sondern auf der Idee einer Debatte zwischen vielfältigen Meinungen auf. Jaeger sieht in der Zivilgesellschaft ein Gegenkonzept zur Max Webers Wertlehre, da in Webers Konzept der Öffentlichkeit ein solidarischer, verantwortlicher Bürger nicht existiert, sondern allein das autonomisierte, verinnerlichte Individuum zum Träger von Wertentscheidungen geworden ist.
Dieses gut geschriebene, kluge Buch, eine Habilitationsschrift an der Universität Bielefeld, erklärt nicht nur eine amerikanische Wurzel der heutigen politischen Sprache, sondern auch die Ursprünge des Kommunitarismus. Dieser entsprang den Debatten über den neuen politischen Intellektuellen, über die Anfänge des Sozialstaats, den sich abschwächenden evolutionistischen Fortschrittsgedanken, das Verständnis der Geschlechterrollen, die Rolle der Wissenschaft, über den Pragmatismus und über die Immigration.
Man hätte gern mehr über andere Wurzeln des heutigen Verständnisses von „Zivilgesellschaft” gewusst und auch gern genauer erfahren, ob in den ostmitteleuropäischen Debatten nicht doch neue Akzente gesetzt wurden. Man hätte überdies gern einen ausführlicheren Vergleich zwischen den Ausdrücken Zivilgesellschaft und bürgerliche Gesellschaft gelesen. Zudem ist nicht so recht zu erkennen, wie die These, wonach kommunitaristische Konzepte immer in Krisen des Liberalismus aufkommen, auf die europäische Situation der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zutrifft. Denn in diesem Fall verdankte sich das neuerliche Interesse am der Zivilgesellschaft eher der Krise des Kommunismus und dem damit einhergehenden „Sieg” des Liberalismus.
Aber das ändert nichts daran, dass Friedrich Jaeger ein sehr empfehlenswertes, verständlich geschriebenes Buch vorgelegt hat, das nicht nur Historikern, sondern auch Politikwissenschaftlern und Soziologen etwas zu sagen hat.
HARTMUT KAELBLE
FRIEDRICH JAEGER: Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 468 S., 64 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der nach den politischen Umstürzen des Jahres 1989 allgegenwärtige Begriff von der "Zivilgesellschaft" bringt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch Bewegungen, Vereinigungen und Initiativen der Bürger wichtiger Bestandteil einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft sind. Friedrich Jaeger untersucht in seiner Studie erst einmal die Herkunft des Wortes (in seiner heutigen Verwendung) aus amerikanischen Debatten der 20-er Jahre mit kommunitaristischer Tendenz. Jaeger selbst sieht darin jedoch kein Gegenmodell zum Liberalismus, sondern eine stabilisierende Ergänzung. Hartmut Kaelble lobt die Habilitationsschrift als "gut geschrieben" und, was die Ursprünge des heutigen Kommunitarismus betrifft, "erhellend". Zwar hätte er sich eine Einbeziehung auch ostmitteleuropäischer Diskussionen um den Begriff gewünscht, das ändert aber nichts daran, dass er das Buch "sehr empfehlenswert" findet.

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