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Seit Jahrhunderten greift die Rechtsgeschichte für die Anfänge des institutionalisierten Rechtswesens auf selbstgeschaffene Mythen zurück. Der Entschlüsselung dieser Ursprungsmythen ist Marie Theres Fögens Buch gewidmet. Ihr geht es darum, aus den Erzählungen des Livius, Dionysios von Harlikarnass, Diodor, Cicero und anderer zu rekonstruieren, welches Bild die Römer sich von der Entstehung und Evolution ihres Rechts gemacht haben. Die einschlägigen Erzählungen, von der modernen Historiographie weitgehend verworfen, wirken literatur- und kunstgeschichtlich bis heute nach.Fögens reich…mehr

Produktbeschreibung
Seit Jahrhunderten greift die Rechtsgeschichte für die Anfänge des institutionalisierten Rechtswesens auf selbstgeschaffene Mythen zurück. Der Entschlüsselung dieser Ursprungsmythen ist Marie Theres Fögens Buch gewidmet. Ihr geht es darum, aus den Erzählungen des Livius, Dionysios von Harlikarnass, Diodor, Cicero und anderer zu rekonstruieren, welches Bild die Römer sich von der Entstehung und Evolution ihres Rechts gemacht haben. Die einschlägigen Erzählungen, von der modernen Historiographie weitgehend verworfen, wirken literatur- und kunstgeschichtlich bis heute nach.Fögens reich illustriertes Buch lädt den Leser zur »Befehlsverweigerung«, zur Aufhebung der Trennung von Fakten und Fiktionen ein und eröffnet ihm damit die »verlockende Chance, zu erfahren, wie die Römer sich erklärten, was wir so gerne wüssten«.
Autorenporträt
Marie Theres Fögen war Professorin für Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich und Direktorin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Im Zentrum ihrer Tätigkeit standen die Rechtsgeschichte der Antike sowie die europäische Rechtsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2002

Schicksal schöner Frauen
Fakten und Fiktionen: Marie Theres Fögen untersuchte den Ursprung des einzigartigen Römischen Rechts
Die Altertumskunde des neunzehnten Jahrhunderts gründete ihren Anspruch, Wissenschaft zu sein, auf Quellenkritik. Aus den Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Traditionen über die römische Frühzeit, wie sie von Livius und Dionysios von Halikarnass in augusteischer Zeit aufgezeichnet worden waren, hatte Niebuhr mit seiner Römischen Geschichte (1811–1812) die Konsequenz gezogen, nach Identifikation der „echten Kerne” der Überlieferung eine eigene Darstellung zu versuchen: „Die Trennung der Fabel, die Zerstörung des Betrugs, mag dem Kritiker genügen. Der Historiker aber bedarf Positives: er muss eine glaublichere Erzählung an der Stelle derjenigen entdecken, welche er seiner Überzeugung aufopfert.” Eine Generation später galt Niebuhr als noch viel zu quellengläubig. Theodor Mommsen hat in seiner Römischen Geschichte (1854–1856) die Frühzeit in Form systematischer Abrisse dargestellt, da es unmöglich sei, eine erzählende Geschichte zu schreiben. In seinem Römischen Staatsrecht (1871–1888) ging er von der Konstanz der Rechtskerne der Institutionen und einem geschlossenen Begriffsapparat aus, so dass ihm auch Berichte, die er für fiktiv hielt, als Belege für sein eigenes System dienen konnten. Die weitere Forschung ist diesem Vorbild in methodischer Hinsicht gefolgt, ohne zu einem Konsens über die Strukturen und Entwicklungen in der Königszeit und frühen Republik zu gelangen.
Marie Theres Fögen verweist genüsslich darauf, in welche Aporien man sich dabei verstrickte. So wurde Livius juristische Unkenntnis vorgeworfen und dabei ignoriert, dass sich der angeblich authentische Satz aus dem Zwölftafelgesetz (451/450 v. Chr.), den er missverstanden habe, eben bei ihm findet. Fögen will die Texte der Römer von der „Tyrannei der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen”, wie sie die Wissenschaft ausgeübt habe, befreien. Sie bietet eine systemtheoretisch inspirierte Lektüre, die zeige, „wie die Römer sich erklärten, was wir so gerne wüssten – wie es zu diesem singulären, merkwürdigen und meisterhaften Recht kommen konnte, das wir als römisches Recht kennen”.
Demonstriert wird dies an den Erzählungen über das Schicksal zweier schöner Frauen, die in der abendländischen Kulturgeschichte eine Vielzahl von Dichtungen und bildlichen Darstellungen inspiriert haben, von der Fachwissenschaft jedoch als historisch wertlos verworfen worden sind. Nach römischer Tradition war der Sturz des Königtums (509 v. Chr.) Folge eines Gewaltakts des Königssohns Sextus Tarquinius. Als Gast im Hause des abwesenden Collatinus droht Tarquinius dessen Frau Lucretia, sie nicht nur zu töten, wenn sie ihm nicht zu Willen sei, sondern auch einen ihrer Sklaven umzubringen, diesen nackt neben sie zu legen und dem Ehemann zu berichten, er habe die beiden in flagranti überrascht und auf der Stelle getötet. Lucretia nimmt die Vergewaltigung hin, um dieser Schande zu entgehen. Am nächsten Morgen ruft sie eine Menschenmenge herbei, berichtet von der Untat des Tarquinius und erdolcht sich gleich darauf in aller Öffentlichkeit. Dies führt zu einem Aufruhr, die Tarquinier werden vertrieben, Collatinus und sein Freund Brutus zu den ersten Konsuln der nun eingerichteten Republik gewählt.
Für Mommsen war der Übergang zur Republik eine historische Notwendigkeit, die keiner Erklärung bedurfte, für ihn „richtet die bekannte Fabel (von Lucretia) sich größtenteils selbst”. Nach Fögen repräsentiert die Geschichte die Reflexion über die Unwahrscheinlichkeit einer Systemveränderung, die sich nur ereignen kann, wenn sich durch einen Skandal plötzlich die Kommunikationsstrukturen verändern. Wenn Brutus Überlegungen über diverse Optionen für die Gestaltung einer neuen Verfassung anstellt, wird deutlich, dass Alternativen möglich sind; wenn die Einsetzung zweier Jahresbeamter als Modifikation der Monarchie legitimiert wird und die Etablierung dieses Systems unter Rückgriff auf bestehende Institutionen und Regeln zu Stande kommt, zeigt sich, wie man vermeidet, eine Ordnung entweder aus dem Nichts entstehen zu lassen oder allein auf Gewalt zu gründen. Die neue Rechtsordnung bedarf der Bestätigung durch die Ausübung rechtmäßiger Gewalt: der Konsul Brutus lässt seine eigenen Söhne hinrichten, weil sie die Restauration der Monarchie angestrebt hatten.
Für die Freiheit erstochen
Die tragische Geschichte der Jungfrau Verginia spielt zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung. Appius Claudius, der dominierende Mann im – mit der Komplettierung der Gesetzesaufzeichnung betrauten – Zehnmännerkollegium, begehrt sie. Er stachelt einen seiner Klienten zu der Behauptung an, Verginia sei seine Sklavin. Den anschließenden Prozess auf der Basis des gerade fixierten Gesetzes über die Feststellung des Status einer Person führt Appius Claudius nicht ordnungsgemäß durch; er spricht ohne weiteres Verginia seinem Klienten (und damit faktisch sich selbst) als Sklavin zu. Daraufhin wird Verginia von ihrem Vater vor den Augen der Prozesszuschauer mit dem Ausruf erstochen, nur so könne er ihre Freiheit retten. Nach heftigen Unruhen wird das Gesetzgebergremium, das seine Amtszeit eigenmächtig verlängert hatte, zur Abdankung gezwungen.
Für Mommsen lag der Kern der Tradition darin, dass dieses Kollegium eine „außerordentliche konstituierende Gewalt” (eine „souveräne Diktatur” nach der späteren Terminologie Carl Schmitts) darstelle, gegenüber der es keine legalen Kontrollmechanismen gebe: „Wenn damit alles in der Erzählung der Geschichte verloren geht, so ist der Einblick in die Weisheit der ernsten Staatsmänner, die sie in die Annalen hineingesetzt haben, ein jenen Verlust der schönen Verginia weit aufwiegender Gewinn.” Fögen liest diese Geschichte unter dem Gesichtspunkt, dass Appius Claudius in sich die Rollen des Gesetzgebers, Gesetzesanwenders und Gesetzesbrechers vereinigte. Dies spiegele das prekäre Verhältnis von Recht und Gewalt wider. Gesetze begründen erst ein Rechtssystem, wenn sie auch angewendet werden, Recht kann erst als Recht begriffen werden, wenn man Unrecht erkennen kann.
Später, so Fögen, „verschwinden Frauen von der Bühne”; sie „sind nur für Gründungsgeschichten zuständig.” Dies gilt zum Glück nicht für die moderne Rechtshistorikerin. Wie Fögen – bis zum Beginn der Kaiserzeit – die Entfaltung einer autonomen Rechtsordnung skizziert, die durch Juristen als gesellschaftlich anerkannte Sachverständige, aber nicht Amtsträger, gestaltet wird, kann nur noch summarisch erwähnt werden. Gerade die Abstraktion von der Lebenswirklichkeit und das Absehen von materialen Gerechtigkeitspostulaten ließ geschmeidige Anpassungen an veränderte Bedingungen in der Umwelt des Systems zu und ermöglichte Rezeptionen bis an die Schwelle der Gegenwart. Wer sich für die Entstehung dieses – oder überhaupt eines – Rechtssystems interessiert, sollte sich das hier gebotene intellektuelle Vergnügen nicht entgehen lassen.
WILFRIED NIPPEL
MARIE THERES FÖGEN: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 230 Seiten, 28 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Lucretia und die wilde 12
Marie Theres Fögens urbane Rechtshistorie / Von Patrick Bahners

Unsere Studenten singen nicht mehr! Cicero war empört. Als er jung war, hatte man das Zwölftafelgesetz noch auswendig gelernt "wie ein unentbehrliches Lied". Nun lernte es niemand mehr. Eine Rückkehr zu den Quellen konnte diese Bildungskatastrophe nicht beheben. Das Original der zwölf Tafeln war untergegangen vor Jahrhunderten, zerstört oder geraubt, als die Gallier Rom in Brand gesteckt hatten. Das meinte man zu wissen, aber man hatte aus der Asche nicht einmal die Daten über das Speichermedium geborgen: Hatten die Tafeln aus Bronze bestanden, wie zwei Historiker erzählen, aus Elfenbein, wie ein Jurist feststellt, oder aber, wie moderne Gelehrte vermuten, aus einem prosaischen Material wie Holz oder Stein? Bronze gab ich für Holz: Kein Quellenbeleg, der den antiken Autoren unbekannt gewesen wäre, steht für diese Transaktion ein, sondern die Erfahrung, daß Erkenntnisgewinn sich als Ernüchterung vollzieht.

Marie Theres Fögen kritisiert eine Quellenkritik, deren Nüchternheit in Schwärmerei umschlägt, wenn sie nach ihren Erfahrungsregeln die harten Tatsachen erst produzieren muß, die die Überlieferung nicht herausrücken will. Ist das Zwölftafelgesetz auf Holz übertragen, so wird es zum Brett vor dem Kopf der Rechtsgeschichte. Ihr gerät dann nicht in den Blick, daß das Gesetz seine historische Wirkung seiner Unsichtbarkeit verdankt: Was man nicht mehr auf Elfenbein hatte, mußte man im Kopf haben. Denn "kein Römer bezeugt", notiert Fögen, "die Tafeln je gesehen zu haben. Aber sehr viele gebildete Römer bezeugen, daß es sie gab, manche auch, was auf ihnen stand." Die Existenz der Tafeln wäre also mit der Erzählforschung als urban legend zu charakterisieren: Zwischen dem Erzähler und dem Augenzeugen liegt eine unüberschaubare Kette von Gewährsleuten. Vor dem Tribunal der Quellenkritik gilt eine Beweisregel aus dem angelsächsischen Gerichtsverfahren: Ausgeschlossen wird, was auf Hörensagen beruht.

Die Gründungsgeschichte der Geschichtswissenschaften handelt von der heroischen Verwerfung des kostbarsten Teils der klassischen Tradition, der Schilderung der römischen Frühgeschichte durch Livius. Über Jahrhunderte konnte die Kunde von den Königen nur mündlich weitergegeben worden sein. Ihre Geschichten waren bestenfalls Gerücht, schlimmstenfalls Erfindung. Fögen erneuert Hegels Einwand gegen Niebuhr, man solle doch meinen, daß Herodot und Thukydides es besser gewußt haben als alle neuesten Kritiker. Unter dem "es", das Gegenstand des historischen Wissens ist, versteht sie allerdings nicht die Tatsache. Insofern die tatsächliche Existenz oder Nichtexistenz des Königsaustreibers Brutus nicht ihre Frage ist, verfolgt sie ähnliche Spuren wie Jan Assmanns Gedächtnisgeschichte der Moses-Figur.

Faits divers bietet Livius aus der Gründerzeit: das erste Verbrechen, die erste Heldentat, den ersten Familienstreit, die erste Versöhnung. Die meisten dieser Begebenheiten erscheinen zu unerhört, um wahr zu sein, und werden deshalb als "Novellen" (Mommsen) aus der Geschichte verbannt. Aber wer Fiktionen aussondert, um Fakten zu isolieren, schneidet den Zusammenhang ab, in dem das Berichtete Bedeutung hatte. Livius bewahrt ein Wissen, dessen Alter auf der Skala des Ploetz dahinstehen darf. Entscheidend ist, daß es als uralt galt. Dieses Wissen ist sozialer Natur. Es entschlüsselt, wie Fögen verblüffend präzise demonstrieren kann, die Funktionsweise jener Ordnung, die, indem sie auf zwölf Tafeln vollständig festgehalten wurde, nach mündlicher Ergänzung verlangte. Die Legenden der Urbs, die Geschichten, die sich die Römer über ihr Recht erzählten, sind der Stoff dieses brillanten Buches.

So ging die Sage, die zwölf Tafeln seien am Anfang gar nicht zwölf gewesen. Zehn Männer hatte man als Gesetzgeber eingesetzt, zehn Tafeln hatten sie abgeliefert. Doch dann verbreitete sich die Meinung, es sei noch nicht alles Gesetz, was gelten sollte. Das römische Volk wollte schon immer etwas Größeres sein, entsprechend mußte sein Selbstporträt, das Recht, ausfallen. Doch dieser Wunsch nach Rechtsvermehrung wurde bitter bestraft. Die zweiten Zehnmänner fügten zwei Tafeln hinzu, entpuppten sich aber als Tyrannen. Einer von ihnen, Appius Claudius, mußte sich sogar vorwerfen lassen, er mißachte auf dem Richterstuhl ein Gesetz, das er selbst eingebracht hatte. Eine Jungfrau erklärte er zur Sklavin, die er wenigstens vorläufig in Freiheit hätte lassen müssen. Das war die berühmte Virginia, die unsterblich wurde, als ihr Vater ihr ein Schlachtermesser in den Leib stieß und sprach: "Nur so, Tochter, kann ich dir deine Freiheit wiedergeben."

In dieser Geschichte ist der Richter nicht der einzige, der mit zweierlei Maß mißt. Maliziös weist Fögen darauf hin, daß die Juristen den Skandal ihres Standesgenossen ins Reich der Fabel verweisen und dennoch die Vorschriften über den Freiheitsprozeß im Zwölftafelgesetz nach dem Verfahren über Virginia rekonstruieren. Denn alle Frechheit der gallischen Eroberer, alle Faulheit der unmusikalischen Studenten war am Ende zwecklos: Das Zwölftafelgesetz steht heute in jeder Bibliothek. Die Rechtsgeschichte hat die zertrümmerten Tafeln zusammengesetzt - aus verstreuten Angaben bei Juristen und Historikern. Man stelle sich vor, unser Grundgesetz ginge verloren, und die Rechtsgeschichte würde nach zweitausend Jahren den Artikel 1 aufgrund der Schriften von Reinhard Merkel rekonstruieren, die erhalten geblieben wären!

Warum wurden eigentlich alle zwölf Tafeln aufgehoben? Warum wurden, als sich die Rechtsvermehrer als Rechtsverdreher erwiesen, die Zusatztafeln der zweiten Zehnmänner nicht einfach zerbrochen? Der Rechtsmißbrauch muß etwas über die Natur des Rechts enthüllt haben, das durch Rechtsverminderung nicht zu heilen war. In Fögens Deutung wird die Rechtsbeugung, die Appius Claudius wie Judas durch Selbstmord sühnte, zur felix culpa. Der Rechtsbruch komplettiert das Recht: Er beweist die Unentbehrlichkeit des Systems, das ihn doch hervorgebracht hat. Als Einleitung in die Rechtssoziologie, als Exempel der Autopoiesis des Rechts, übersetzt Fögen die Geschichte vom Dorfrichter Appius, dem Gesetzgeber, der zum ersten Verbrecher wird. Das Rechtssystem unterscheidet Recht und Gewalt, die es in der Person des Richters doch vereinigt. Der Fluch, den der rächende Vater im Moment des Blutvergießens ausstößt, ist eine consecratio: Appius Claudius wird aus dem Recht ausgeschlossen und den Göttern übergeben - ein homo sacer. In der vindicatio, dem Rechtsakt des befreienden Wortes, den die Zunge des Richters verweigert und das Messer des Vaters parodiert, fallen Gewalt und Sprache, vis und dicere zusammen. Ohne Willkür kein Recht.

Fögen möchte glauben, daß das Zehntafelgesetz diesem Grundsatz noch keine Geltung verschafft hatte. Die denkbar knappen Angaben über die Zusammensetzung des ersten Zehnerkollegiums veranlassen sie zu der Spekulation, das Recht sei als vollkommene Ordnung im Sinne der pythagoräischen Zahlenlehre entworfen worden. An die Stelle der Theorie von der natürlichen Überlegenheit des Dezimalsystems trat im Zeichen der Zwölf eine kombinatorische Praxis, die komplexen Lagen gerecht werden konnte: von kosmologischer Perfektion gingen die Juristen über zu evolutionärem Risiko. Man hört's: Während die Wilden Dreizehn nur zwölf waren, weil ihr Anführer sich doppelt rechnete, sind die Zehnmänner des Zwölftafelausschusses in Fögens Zählung elf - als unsichtbarer Übervater mit am Tisch sitzt der Geist von Niklas Luhmann. Was ändert sich, ersetzt man die Formel "Entwicklung", das Zauberwort der großen Historiker des neunzehnten Jahrhunderts und der heutigen Lehrbücher, durch das lateinische Äquivalent, Luhmanns Vokabel der "Evolution"? Auf den ersten Blick alles. Denn Entwicklung heißt: Alles mußte so kommen. Evolution aber: Alles hätte auch anders kommen können.

Mommsen glaubte die Anekdoten aus der Königszeit entbehren zu dürfen, weil sich die Republik mit "Naturnotwendigkeit" aus der Monarchie habe entwickeln müssen. Daß Übergriffe von Tyrannen auf Jung- oder Hausfrauen Revolutionen ausgelöst haben sollen, erschien Historikern frivol, die Ursachen in der Tiefe des langfristigen Wandels suchten. Hier dachten Mommsen und Ranke nicht anders als Braudel. Fögen sieht dagegen mit Luhmann alles, was geschieht, als unwahrscheinlich an, weshalb nun die Plötzlichkeit des Lucretia-Vorfalls, des durch eine Vergewaltigung ausgelösten Volksaufstands, gerade die Glaubwürdigkeit der Legende begründet.

Die Engführung von historischer Methode und Rechtssoziologie macht die Virtuosität der Untersuchung aus. Im Wunderbaren, das für die Quellenkritik regelmäßig Grund ist, auf Unechtheit zu entscheiden, erkennt Fögen das Markenzeichen Luhmannscher Evolution wieder - und eine Redefigur, die in der populären Luhmannrezeption zu häufig bemüht worden ist, verwandelt sich in ein solides Werkzeug. Gleichwohl wird es sich eine künftige Wissenschaftsgeschichte nicht nehmen lassen, nach den zeitbedingten Motiven der Rhetorik der radikalen Kontingenz zu fragen. Es sollen wohl Erwartungen an das Recht abgewehrt werden, die auf Steuerung ausgehen oder auf Gerechtigkeit, Erwartungen, wie sie pikanterweise nicht nur von Nichtjuristen formuliert werden - Rechtsgeschichte à la Fögen dient niemandem, nur der Ausdifferenzierung der Systeme.

Gibbon kam zu dem Ergebnis, die Wissenschaft des Zivilrechts sei überall zu ähnlichen Lösungen ähnlicher Probleme gekommen. Hatte Gibbon zu lange den kirchlichen Wunderglauben bekämpft, um dem Wunderbaren im Recht seinen Platz zuzugestehen? Oder wird die juristische Evolutionstheorie die Universalität der Probleme und die Konvergenz der Lösungen einmal wiederentdecken? Freuen wir uns einstweilen, daß die Rechtshistorikerin, was der Richter nicht dürfte, nur die eine Seite stark macht. Wie Fögen auch die unscheinbarste Nachricht über das römische Archivwesen als Illustration von Luhmanns Kommunikationstheorie nutzt, das wirkt - wunderbarerweise - nicht gezwungen, sondern souverän. Ihre Streifzüge durch die Rezeption der Geschichten von Lucretia und Virginia bestätigen die Autonomie der Systeme durch den Nachweis, daß die Künstler das Recht nicht verstanden haben. Leider findet die wohl bekannteste Virginia des neunzehnten Jahrhunderts keine Beachtung - Macaulays von Niebuhr inspirierte Ballade. Diese englische Nachdichtung eines erfundenen lateinischen Liedes unterlief eben die Trennung von Fiktionen und Fakten, die Fögen überwinden möchte.

Niebuhrs Theorie, Lieder, wie sie Cicero mit dem Zwölftafelgesetz verglich, seien Träger der Überlieferung aus der Jugendzeit der Republik gewesen, wird in einer Fußnote zu knapp abgefertigt: Diese Hypothese nahm den Ansatz vorweg, die Wahrheit der Legenden im Ganzen der jeweiligen Geschichte zu suchen, im Bewußtsein des Publikums der Bürgergemeinde. Für ein Publikum jenseits von Standes-, Disziplin- und Systemgrenzen ist auch dieses Buch gemacht, obgleich es in einer fachwissenschaftlichen Reihe erscheint, als Monographie des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte, das unter Otto Gerhard Oexle zum Labor der Gedächtnisforschung geworden ist. Staunt, Buchhändler, schämt euch, Minister: Geisteswissenschaft als pures intellektuelles Vergnügen. "Die bekannte Fabel", urteilte Mommsen über Lucretia, "richtet größtenteils sich selbst." Dann hätte die Geschichte der Selbstmörderin also das Schicksal ihrer Heldin wiederholt? Alles gelogen: In Mommsens Hand zuckt noch der Mördergriffel. Die Quellenkritik hat Lucretia ermordet, Marie Theres Fögen hat sie gerächt. Nun steht ihr Bild wieder an seinem rechtmäßigen Platz unter den Bürgern der ewig denkwürdigen Stadt.

Marie Theres Fögen: "Römische Rechtsgeschichten". Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 230 S., zahlr. Abb., geb., 28,- .

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