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In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele Staaten Westeuropas von einem beispiellosen Strukturwandel erfasst: Die Fabriken der alten Industrien verschwanden, Millionen von Arbeitsplätzen gingen verloren, vormals boomende Städte gerieten in die Krise und neue soziale Fragen bestimmten die politische Agenda. Was aber ist aus dem stolzen Industriebürger geworden - aus seinen Arbeitsplätzen, Karrierewegen und Wohnquartieren? Wie haben sich soziale Rechte und politische Teilhabe von Arbeiterinnen verändert, als der Wettbewerb global, das Management schlank und der Finanzkapitalismus…mehr

Produktbeschreibung
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele Staaten Westeuropas von einem beispiellosen Strukturwandel erfasst: Die Fabriken der alten Industrien verschwanden, Millionen von Arbeitsplätzen gingen verloren, vormals boomende Städte gerieten in die Krise und neue soziale Fragen bestimmten die politische Agenda. Was aber ist aus dem stolzen Industriebürger geworden - aus seinen Arbeitsplätzen, Karrierewegen und Wohnquartieren? Wie haben sich soziale Rechte und politische Teilhabe von Arbeiterinnen verändert, als der Wettbewerb global, das Management schlank und der Finanzkapitalismus dominant wurde? Welche Ideen und Ideologien begleiteten den Wandel?

Am Beispiel der Industriearbeit in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik erzählt Lutz Raphael die außerordentlich vielschichtige und spannende Geschichte der westeuropäischen Deindustrialisierung. Sie dauerte drei Jahrzehnte, ging mit einer Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards einher, brachte aber auch Niedriglöhne, wachsende Ungleichheiten und eine Krise der demokratischen Repräsentation. Und vielleicht das Entscheidende: Sie wirkt bis heute fort - als Vorgeschichte unserer postindustriellen Gegenwart. Dieses Buch hilft, sie zu verstehen.
Autorenporträt
Lutz Raphael, geboren 1955, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, Gastprofessuren führten ihn u. a. nach Oxford und Paris. Er ist Mitglied sowohl der Mainzer Akademie der Wissenschaft und Literatur als auch der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2013 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2019

Abschied
vom Malocher
Dieses Buch der SPD! Lutz Raphael schreibt die Geschichte
der Arbeit und der Deindustrialisierung in Westeuropa
VON GUSTAV SEIBT
Seit Trump, dem Brexit, der populistischen Welle ist eine vergessene soziale Figur zu neuer Aufmerksamkeit gekommen, wenn auch meist als Gestalt der Vergangenheit: der Industriearbeiter. Der weiße, fast immer männliche, überwiegend un- und angelernte „Malocher“, der seine Körperkraft und wenige Basisqualifikationen auf den Markt bringt, blieb zuletzt, so heißt es, ohne politische Vertretung und gesellschaftliche Anerkennung, sprachlos im Kampf der gesellschaftlichen Minderheiten und „Identitäten“, am Rand einer globalisierten, kosmopolitischen Bühne. Daher sei er zu den Rechten abgewandert, die ihm das Nationale als Soziales versprachen, überkommene Rollenmuster, Rückkehr zu souveräner Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Die nicht zuletzt literarische Rückkehr in den viel gelesenen autobiografischen Memoires von J. D. Vance, Didier Eribon und Édouard Louis zeigt, welche Lücke der Wahrnehmung zuvor bestanden hatte. Der „Arbeiter“ schien nicht nur sozialgeschichtlich eine überholte Figur zu sein, vor allem war er in der kulturellen Repräsentation unsichtbar geworden. Überall in Europa und Amerika wurden seit den späten Siebzigerjahren große Industriebetriebe stillgelegt, der Verlust an Arbeitsplätzen in den alten Kernbranchen von Kohle und Stahl belief sich auf viele Millionen, ganze Regionen verödeten im „Strukturwandel“. Neue Technologien, vor allem eine neue globale Arbeitsteilung machten der klassischen Fabrik mit ihren durchgetakteten, gestückelten Arbeitsabläufen, die auch Ungelernten ihren auskömmlichen Platz im Kollektiv sicherten, weithin den Garaus. Dauerarbeitslosigkeit wurde ein Massenschicksal, aber da sie aus Rückständigkeit zu kommen schien, hielt sich die Anteilnahme an diesem sozialhistorischen Großprozess in Grenzen. Zum Schaden neuer Prekarität kam die Geringschätzung.
Es ist eine wichtige Pointe der großen, gewaltig materialreichen Darstellung von Lutz Raphael, dass sie den beiden Seiten dieses Prozesses, dem materiellen Ablauf und seiner gesellschaftlichen Repräsentation, gleiche Aufmerksamkeit schenkt. Raphael schreibt insofern wirklich eine „Gesellschaftsgeschichte“, wenn auch keine umfassende. Sein Thema ist die vergleichende Geschichte der Industriearbeit in den letzten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die übrige gesellschaftliche Umgebung – Bildungswesen, neue Berufe, Individualisierung, Globalisierung – kommt nur so weit in den Blick, als sie für das Kernthema von Bedeutung ist.
Raphael setzt in dem Moment ein, in dem die fast drei Jahrzehnte des Nachkriegsbooms seit 1948 ihr abruptes Ende fanden, in den Krisen der Siebzigerjahre. Bis dahin hatten hohe Wachstumsraten und eine vom Konsum am Laufen gehaltene Wirtschaft eine historisch einzigartige Formation ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe hervorgebracht. Raphael nennt sie mit den Worten eines späten EU-Berichts „Sozialbürgerschaft“.
Dazu zählen Streikrechte und Tarifverträge, Arbeitsgerichtsbarkeit, Lohnuntergrenzen, individuelle Schutzrechte (zu denen später Diskriminierungsverbote kamen), betriebliche Mitbestimmung und natürlich die Versicherungsleistungen des Sozialstaats. Für diese Sozialbürgerschaft standen Gewerkschaften und politische Parteien ein, sie war jedenfalls auf dem Kontinent in Gesetzesform gegossen; soziale und politische Teilhabe gingen in stabilen, auch regional verankerten Milieus Hand in Hand. Hier wurde bürgerliches Gleichheitsversprechen als soziale Teilhabe materiell in historisch einzigartiger Weise Wirklichkeit.
All das geriet seit dem Ölschock von 1974 immer tiefer in die Krise, weil die Grundlage des Systems, nämlich Vollbeschäftigung, langfristig verloren ging. Raphael zeigt die darauffolgenden Anpassungen in den drei Ländern mit allen ihren Unterschieden detailreich auf – Schocktherapie in England, langsames Reformieren auf dem Kontinent. Und hier kommt der Überbau ins Spiel: Was immer noch als Klassenkonflikt hätte begriffen werden können, wurde zumal in Deutschland hinter allgemeinen Zeitdiagnosen immer unsichtbarer. Die angeblich „postindustrielle Gesellschaft“ wurde unter allen möglichen Begriffen gefasst (Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Wissensgesellschaft, Individualisierung, lebenslanges Lernen), nur der Arbeiter kam nicht mehr vor – er magerte semantisch ab wie Volker Brauns „Vier Werkzeugmacher“, die Raphael leider nicht zitiert. Da seine Darstellung allerdings die Gebiete der DDR seit 1990 um der Vergleichbarkeit willen ausspart, musste er auf diese großartige Allegorie auch nicht unbedingt zurückgreifen.
Im deutschen Sonderfall kommt noch eine soziale Sprache hinzu, die Klassenlagen systematisch camoufliert, indem sie nur von „Arbeitnehmern, Angestellten und Beamten“ spricht, also weder einer „working class“ noch „classes populaires“ kennt. Schon Gesetzgebung und Statistik legten also einen Wahrnehmungsvorhang vor eine Wirklichkeit, die bald nur noch mehr oder weniger Qualifizierte kannte.
Parallel füllten sich die sozialdemokratischen Parteien mit Lehrern, Beamten und anderen Akademikern, die klassische Arbeiterbewegung verlor zunehmend ihre Gesichter. Auch hier gibt es eine subtile Pointe: Zu Beginn der von Raphael behandelten Zeit versah der nostalgische Marxismus der Studentenbewegung die Beschreibung der Wirklichkeit noch mit historischer Klassenkampfpatina, umso schneller wurde sie dann auch wieder abgewischt, zugunsten schickerer Deutungsmuster. Hätte Raphael Italien einbezogen, dann hätte er noch schönere Beispiele für solchen linken Retro finden können, mit Ausstrahlung in ganz Europa.
Unterdessen schritten Globalisierung (das Wort verwendet Raphael sparsam) und Finanzialisierung (also die Verwandlung von Unternehmen in Aktiengesellschaften) voran, die sich mit der Digitalisierung verbündeten. Dabei veränderte sich der Charakter der Arbeit in allen Bezügen. Sie wurde anspruchsvoller, kostbarer, dichter getaktet, flexibler, permanenten Produktivitätssteigerungen ausgesetzt. Ausbildung – in Frankreich vorwiegend staatlich, in Deutschland „dual“, also betrieblich gestützt, in England vorwiegend betrieblich – wurde zu einem großen Thema, auch dieses nicht geeignet, den Klassenkonflikt in den Fokus zu rücken; schließlich kam es auf Ertüchtigung aller Einzelnen an.
Dabei ging das arbeitsbasierte Sozialmodell zunehmend in die Brüche. Auch alte Rollenmuster, etwa der männliche Hauptverdiener, gerieten in die Krise. Gelegentlich ist davon die Rede, dass der Umbruch im Ostblock seit 1990 Erfahrungswissen und Rollenmodelle radikal entwertete. Auf kaum weniger dramatische Weise galt dies seit den Achtzigerjahren auch für den Westen. Kränkungen blieben umso tiefer sitzen, als sie kaum zur Sprache kommen konnten. Wenn Arbeitsämter zu Jobcentern werden und Arbeitslose zu Kunden, dann legt sich der meritokratische Schleier – „jeder ist seines Glückes Schmied“ – über die Szenerien des Strukturwandels. Ein probates, aber teures Mittel, solche Dissonanzen auszugleichen und dabei auch stumm zu schalten, wurden Sozialpläne und Frühverrentungen.
Doch zeigt Raphael auch hier, dass das Bild gemischter ist, wie man überhaupt sagen muss: Selten nur kann man ein Buch finden, das so viel Wirklichkeit, die vor der Nase liegt, bewusst macht. Denn allen ideologischen Aufrufen zur Selbstermächtigung zum Trotz funktionieren zumal in Deutschland kooperative Arbeitsmodelle, „Bündnisse für Arbeit“, betriebsbezogene Regelungen erstaunlich gut. Wenn vom Riesensprung in der Produktivität durch die Digitalisierung die Rede ist, dann sollte vielleicht der Vorteil der Mitbestimmung bei den Prozessen des Umbruchs an gleicher Stelle genannt werden. Flexibilität gelingt in Kollektiven weit besser als bei Individuen.
Bis in die Veränderung von Wohnquartieren, Großsiedlungen und Banlieues, und bis zu betrieblichen Sozialordnungen verfolgt Raphael sein Thema. Eine Reihe exemplarischer Arbeitsbiografien, in der auch Frauen und Migranten ihre Auftritte bekommen, Schilderungen von großen Arbeitskämpfen – etwa des Konflikts um Rheinhausen – erlauben jedenfalls dem Leser in etwas höheren Jahren an eigene Erinnerungen anzuknüpfen. Trotzdem kann man das äußerst verdienstvolle Buch nicht bedingungslos loben. Es ist überfrachtet mit Zahlen im fortlaufenden Text (gewiss mehrere Hundert), seine Vergleiche und Differenzierungen sind für den nicht fachlichen Leser zu kleinteilig, die dagegen aufgebotenen Zusammenfassungen sind zu abstrakt. Auch bleibt der Blick in die anderen sozialen Welten zu summarisch. An sozialhistorische Prosakünstler wie Adam Tooze oder Philipp Ther darf man nicht denken.
Für den zeitdiagnostisch interessierten Leser bleibt als wichtigstes Resultat, dass die Vorgeschichte der Gegenwart nicht erst 1989 beginnt, das ist eine deutsche und osteuropäische Perspektive, die Lutz Raphaels Vergleich mit den westlichen Nachbarn überzeugend relativiert. Auch hier erweist sich das Jahr 1979, als Margaret Thatcher antrat und den wirtschaftspolitischen Startschuss für die Party der Achtziger gab, als überzeugendere Epochenschwelle.
Deutschland steht mit seiner Kultur des Ausgleichs, der findigen Anpassung im Kleinen bei strukturkonservativer Entschleunigung im Großen übrigens gar nicht so schlecht da – in seinem westlichen Teil. Am Ende bleibt die Frage, ob eine neue Thematisierung von Klassenkonflikten die alten Verführungen durch linksromantischen Radikalismus diesmal vermeiden kann.
Raphael selbst gibt eine Übung in Nüchternheit vor, die zeitdiagnostische Klingeltöne („Neoliberalismus“) erfreulich leise hält, die auch verbale Pendants zur Musealisierung von Zechen und Schächten vermeidet. Denn natürlich: Allem Gerede zum Trotz leben wir immer noch im Industriezeitalter, im technisch befeuerten Stoffwechsel mit der Natur. Es sieht nur heute ganz anders aus. Gäbe es noch eine intellektuell wache Sozialdemokratie, dies müsste ihr Buch sein. Es handelt von den Jahren, die wir kennen, und darum auch von einer Zukunft, die noch unbekannt ist.
Man redete von Risiko-, Wissens-,
Erlebnisgesellschaft, aber
der Arbeiter kam nicht mehr vor
Mit seiner Kultur des Ausgleichs
steht Deutschland gar nicht
so schlecht da
Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 526 Seiten,
32 Euro.
Nach dem Boom: Ein Bergmann auf der Zeche Prosper Haniel, die 2018 geschlossen wurde.
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2019

Erzählungen vom Niedergang
Geschichte des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft in Europa

Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft prägte alle westeuropäischen Gesellschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert tiefgreifend. Der schnelle Aufstieg des Neoliberalismus und seine Ideologie des "Sachzwangs" änderten nicht nur die Wirtschaftsweise, sondern auch soziale Beziehungsformen, wie Lutz Raphael in seinem neuen Buch analysiert. Im Fokus seiner Untersuchung stehen Deutschland, Frankreich, Großbritannien als die "drei größten Volkswirtschaften" Westeuropas. Dabei sucht er, Struktur- und Sozialgeschichte zu verbinden. Während der erste Teil des Buches in der "Vogelperspektive" die großen Linien analysiert, kommen im zweiten Teil, der "Nahaufnahme", die Arbeiterinnen und Arbeiter und deren Lebensgeschichten Pars pro Toto zu Wort.

Der Autor versteht seine Analyse zum einen als Beitrag zum Verständnis der allgemeinen Krise der Demokratie. Denn die Vorgeschichte der heutigen Krise führe direkt in die Jahrzehnte des Umbruchs der westlichen Industriegesellschaften zurück, so die These. Dieser ökonomische Strukturwandel war es schließlich, der die Demokratien in der Folge grundlegend veränderte und, wie sich in jüngster Zeit zeigt, auch gefährdet. Zum anderen ist sein Ziel - und dies ist kein geringer Anspruch -, den Begriff der Gesellschaftsgeschichte zu erneuern. Dafür müsse vor allem die Idee national abgeschlossener Räume überwunden werden. Denn Briten, Franzosen und Deutsche hätten ganz unterschiedliche Kommunikationsmuster, die zu einer unterschiedlichen Gestaltung der Arbeitswelt und damit zu anderen gesellschaftlichen Aushandlungen und Antworten auf Krisen führten. In seiner Analyse geht er somit der Bedeutung von sprachlichen Regelungen und Bildern und deren strukturierender Kraft nach.

Geprägt waren die drei Jahrzehnte zwischen 1970 und 2000 durch Dynamisierung, Umstrukturierung und Automatisierung quasi aller Industriebereiche. Die wirkmächtigste Krise der 1970er Jahre, der Zusammenbruch des festen Wechselkurssystems, änderte die Spielregeln des Kapitalismus von Grund auf: von nun an bestimmten die Finanzmärkte die Richtung. In allen drei untersuchten Ländern mussten daher pragmatische Lösungen zur Abmilderung der sozialen Folgen gefunden werden. Denn es entstanden neue Armutsregionen, in denen sich Niedriglöhne und mit ihnen soziale Exklusion häuften. Während der Wandel der Produktions- und Arbeitswelt in jedem Land trotz Variationen im zeitlichen Ablauf ähnlich verlief, wurde er jeweils mit einer anderen Sprache bedacht. So blieb nur in Großbritannien die "Klasse" - "class" - ein wichtiger Bezugspunkt. In Frankreich und der Bundesrepublik ging die Identität der Arbeiterklasse mit einem hochgradig emotionalisierten Diskurs um den "Abschied vom Malocher" verloren.

Dieses Bild bezog sich auf die "Auflösung kompakter soziokultureller Milieus, die um die Figur des männlichen Produktionsarbeiters kreisten", und begleitete als ein Bewusstsein von Verlust den Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft. Alte Formen sozialer Beziehungen "erodierten" auch durch den Auf- und Ausbau der Europäischen Gemeinschaft: Obwohl diese über Jahrzehnte hinweg offiziell nur ein Wirtschaftsraum war, wandelte sie die sozialen Realitäten allein schon dadurch, dass durch den neuen Binnenmarkt ganz andere Wirtschaftszweige gestärkt und dynamisiert wurden.

Den klassischen sozialgeschichtlichen Untersuchungen kreidet der Autor an, dass sie eine "Obsession für Fortschritts- und Wachstumserzählungen" aufweisen und daher "Prozesse des Schrumpfens und Verschwindens" verschweigen würden. Statt Fortschritt zu beschwören, erzählt er vom Niedergang - dem Untergang der Arbeiterschaft. Den gesellschaftlichen Wandel vollzogen nicht nur maßgeblich der revolutionäre Umbruch in der Kommunikationstechnologie und die dadurch ganz neuen Arbeits- und Wirtschaftsweisen, sondern auch Journalisten, Politikberater und Wissenschaftler, die Bilder von "oben und unten" produzierten und damit essentialisierten, so seine These. Die "Musealisierung der industriellen Lebenswelten" verfestigte sich erst im Diskurs der Experten, Industriestätten wurden zu recht physischen Denkmälern als Ergebnis nicht nur der neuen Produktionsbedingungen, sondern auch des geänderten Bewusstseins.

Originell ist daher in dieser Studie, dass neben einer bekannten Ereignis- und Wirtschaftsgeschichte Raphael den Fokus auf sprachliche Repräsentationen und Deutungsmuster legt. Diese prägten den Prozess der Deindustrialisierung und, wie er meint, steuerten ihn gar. Einen zentralen Anteil an der gesamtgesellschaftlichen Transformation hatten daher soziale Auseinandersetzungen, die "Deutungskämpfe".

Das Bild des Kampfes trifft dabei am ehesten auf Frankreich zu, wo die 1970er und 1980er Jahre von Besetzungen, Streiks und gewerkschaftlichen Aushandlungen geprägt waren. Die kollektive Interessenvertretung hatte hier weit mehr Erfolg als in Großbritannien, wo die Thatcher-Regierung von 1979 an alles tat, um deren traditionelle Macht zu brechen. Der Begriff der Deutungskämpfe sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, wie real der Kampf um ihre Existenzgrundlage für die Arbeiterinnen und Arbeiter tatsächlich war: Zwischen 1975 bis 2002 schrumpfte in Großbritannien und Frankreich die Zahl der industriellen Arbeitsplätze um die Hälfte, in der Bundesrepublik immerhin um ein Viertel. In dieser Umbruchphase vertieften sich die Unterschiede zwischen den Ländern: Während in Deutschland Arbeitsrechte verankert wurden und die Möglichkeiten zur Mitbestimmung wuchsen, gingen sie in Großbritannien immer weiter verloren.

Diese Prozesse belegt Raphael mit der nachvollziehbaren These, soziale Probleme seien erst dann als solche erkannt und wahrgenommen worden, als sie drohten, die Demokratie zu gefährden. Im Lichte der zahlreichen, umfassend recherchierten Statistiken und dem Verweis auf die unbestreitbare Bedeutung der wirtschaftlichen Produktionsweise kann der konstruktivistische Anspruch, die Veränderung der Arbeitswelten vor allem auf den diskursiven Kampf um Deutungsmuster zurückzuführen, allerdings nicht durchweg eingelöst werden. Die genderspezifische Dimension des sozialen Wandels hätte, auch wenn die Akteure der Industriearbeiterschaft weitgehend männlich waren, mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Spuren der Arbeiterkämpfe in den 1970er und 1980er Jahren führten schließlich direkt zu den politischen Protestbewegungen und rechtspopulistischen Mobilisierungen im Westeuropa von heute, bekundet Raphael die Relevanz seines Themas. Nicht zuletzt diese Tatsache macht seine historische Studie auch für den Spätkapitalismus so relevant.

JENNY HESTERMANN

Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 525 S., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Die Spuren der Arbeiterkämpfe in den 1970er und 1980er Jahren führten schließlich direkt zu den politischen Protestbewegungen und rechtspopulistischen Mobilisierungen im Westeuropa von heute, bekundet Raphael die Relevanz seines Themas. Nicht zuletzt diese Tatsache macht seine historische Studie auch für den Spätkapitalismus so relevant.« Jenny Hestermann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191210