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Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1980 und 1981 markieren einen Wendepunkt in seinem Werk und leiten über zu seinen beiden letzten großen Werken Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich. Die antike Lebenskunst und Ethik tritt nun ganz in den Fokus der Analyse, mit dem Ziel einer Genealogie der Sexualmoral der Gegenwart.»Was geschah während des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung am Übergang von einer paganen zu einer christlichen Moral?«, so Foucaults Ausgangsfrage. Durch eine minutiöse Untersuchung antiker medizinischer Schriften und Abhandlungen über die…mehr

Produktbeschreibung
Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1980 und 1981 markieren einen Wendepunkt in seinem Werk und leiten über zu seinen beiden letzten großen Werken Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich. Die antike Lebenskunst und Ethik tritt nun ganz in den Fokus der Analyse, mit dem Ziel einer Genealogie der Sexualmoral der Gegenwart.»Was geschah während des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung am Übergang von einer paganen zu einer christlichen Moral?«, so Foucaults Ausgangsfrage. Durch eine minutiöse Untersuchung antiker medizinischer Schriften und Abhandlungen über die Ehe, die Liebe sowie die Deutung erotischer Träume legt er ein Verhältnis des Selbst zu seinen Lüsten frei, das der christlichen Angst vor der Fleischeslust und der Konstruktion einer modernen Sexualwissenschaft vorausging. Schon im griechischen Denken beginnt sich eine Einteilung der Geschlechter nach Aktivität und Passivität zu etablieren, und bereits im Stoizismus des römischen Kaiserreichs entwickelt sich ein Modell der Ehe, das auf lebenslanger Treue basiert, sowie eine Disqualifikation der Homosexualität, jedoch integriert in eine umfassende Lebenskunst. Erst das Christentum transformiert diese Formen der Subjektivität und Sexualität zu Objekten des Wissens und einer Moral, die uns bis heute prägt. Ein bahnbrechendes Werk über die Quellen unseres modernen Selbst.
Autorenporträt
Foucault, MichelPaul-Michel Foucault wurde am 15. Oktober 1926 in Poitiers als Sohn einer angesehenen Arztfamilie geboren und starb am 25. Juni 1984 an den Folgen einer HIV-Infektion. Nach seiner Schulzeit in Poitiers studierte er Philosophie und Psychologie in Paris. 1952 begann seine berufliche Laufbahn als Assistent für Psychologie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät in Lille. 1955 war er als Lektor an der Universität Uppsala (Schweden) tätig. Nach Direktorenstellen an Instituten in Warschau und Hamburg (1958/1959) kehrte er 1960 nach Frankreich zurück, wo er bis 1966 als Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Clermont-Ferrand arbeitete. In diesem Zeitraum erschien 1961 seine Dissertationsschrift Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft). Er thematisierte darin die Geschichte des Wahnsinns und das Zustandekommen einer Abgrenzung von geistiger Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden sozial

en Mechanismen. 1965 und 1966 war er Mitglied der Fouchet-Kommission, die von der Regierung für die Reform des (Hoch-)Schulwesens eingesetzt wurde. 1966 wurde Les mots et les choses - Une archéologie des sciences humaines (dt.: Die Ordnung der Dinge) veröffentlicht, worin er mit seiner diskursanalytischen Methode die Wissenschaftsgeschichte von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert untersuchte. Nach einem Auslandsaufenthalt als Gastprofessor in Tunis (1965-1968) war er an der Reform-Universität von Vincennes tätig (1968-1970). 1970 wurde er als Professor für Geschichte der Denksysteme an das renommierte Collège de France berufen. Gleichzeitig machte er durch sein vielfältiges politisches Engagement auf sich aufmerksam. In diesem Kontext entstand die Studie Surveiller et punir (dt.: Überwachen und Strafen). 1975-1982 unternahm er Reisen nach Berkeley und Japan sowie in den Iran und nach Polen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2016

Im Paar sollst du dich finden

Auf den Spuren des modernen Sex zurück in die vorchristliche Antike: Die Vorlesungen Michel Foucaults vom Anfang der achtziger Jahre zeigen den Autor beim Erproben neuer Begriffe.

Der Blick ist frei in eine Werkstatt, in der viel erprobt wurde, in späteren Büchern dann aber auch nachgefeilt, präzisiert und verworfen: Michel Foucaults von 1970 bis 1984 am Collège de France gehaltene Vorlesungen sind jetzt auch im Deutschen nahezu vollständig erschienen, mit "Subjektivität und Wahrheit" liegt nun der Band zu den Cours des akademischen Jahres 1980/81 vor. Das durch Hörer mitgeschnittene gesprochene Wort sei als Veröffentlichung zu werten, so der Standpunkt der Herausgeber.

Foucault selbst hatte die nachträgliche Publikation von Manuskripten untersagt, ob er sich mit der Lesefassung seiner für den mündlichen Vortrag aufbereiteten Vorarbeiten angefreundet hätte, darf also bezweifelt werden, zumal in diesem Fall. Denn "Subjektivität und Wahrheit" ist die früheste der vier letzten Vorlesungen, in welchen Foucault am Leitfaden antiker Quellen zu einem sich am Material beschleunigenden thematischen Schwenk ansetzt. Schlussendlich radikalisiert sich die Fragestellung - und endet mit den Vorlesungen über "Die Regierung des Selbst und der anderen" (F.A.Z. vom 30. November 2009) ein gutes Stück auch abseits des Vorhabens, das um 1980 wohl anvisiert war.

Aber der Reihe nach. "Subjektivität und Wahrheit" korrespondiert mit "Die Sorge um sich", dem dritten Band von Foucaults "Geschichte der Sexualität", die im Deutschen "Sexualität und Wahrheit" heißt, weil es in diesen Büchern um Sexualverhalten als solches gar nicht geht. Thema ist vielmehr, wie in verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte körperliche Beziehungen durch Sittengrenzen geformt werden. Es geht also um Regeln, die sich einerseits aufs Geschlechtsleben richten, andererseits aber - und zwar zugleich - auch Möglichkeiten der lustvoll-heiklen Selbstbestätigung, der Selbststeigerung und, ja, auch der "Wahrheit" schaffen (etwa Wahrhaftigkeit in Sachen Begierde, Echtheit des Liebesgeständnisses, wahre Treue).

Sex ist so besehen für den Machthistoriker interessant als Ort einer tiefsitzenden Verankerung von Selbstkontrolltechniken, von öffentlichen Schauseiten (Wie hält er's mit den Lüsten? Wie souverän ist er?), aber eben auch von wahrhaft gelingendem "gutem" Leben - und überhaupt eines der moralisch-ethischen Selbstvergewisserung fähigen Ich. Gestoßen war Foucault auf das sexualisierte Selbst zunächst in der Moderne: Psychoanalyse, die Frauenkrankheit Hysterie, die Panik der Pädagogik vor der Masturbation - und überhaupt die vielen Ängste der Kleinfamilie vor den vielen, seit dem neunzehnten Jahrhundert auch aus wissenschaftlicher Sicht bedrohlichen Abweichungen: Eugenik, Homosexualität, Geschlechtskrankheit, Perversion.

Die spätantike Anekdote vom monogamen Elefanten

Foucault behandelt all dies 1976 in "Der Wille zum Wissen", eine Art Eröffnungsbuch zum Thema. Danach erfolgt ein Neuzuschnitt des komplexen Projekts. Nun lässt Foucault seine Herkunftsgeschichte des europäischen "Selbst", die mit der Frage nach den Gelingensregeln für Sexualbeziehungen zu verknüpfen wäre, bereits in vorchristlicher Zeit einsetzen - in der griechischen Antike nämlich: "Der Gebrauch der Lüste", erschienen 1984, befasst sich mit Beziehungs- und Tugendidealen im klassischen Athen.

"Die Sorge um sich", publiziert ebenfalls 1984, behandelt bereits die Übergangszeit danach: die römische Spätantike an der Schwelle zur christlichen Moral, und eben hierzu sichtet die Vorlesung "Subjektivität und Wahrheit" reichhaltiges Material. Erkennbar haben wir einen ersten Anlauf vor uns, und dieser hat auch vorläufige Züge, teils werden die Thesen später vorsichtiger sein, teils arbeitet das Buch sie klarer und knapper aus. Hier wie dort die Leitfrage: Welche Elemente einer bereits vorhandenen "heidnischen" Moral können frühe christliche Verhaltensregeln bruchlos in sich aufnehmen, und was ist an der entstehenden Subjektform wirklich neu?

Foucault sichtet profane Ratgeberliteratur, Texte also, die zu beherzigen heißt, das eigene Verhalten zu prüfen und zu reglementieren. Da ist die Moralfabel vom Elefanten - das Tier ist monogam, vollzieht den Geschlechtsakt selten und nur mit dem Ziel der Fortpflanzung, schämt sich dafür und reinigt sich danach stets: eine spätantike Anekdote, die zum christlichen Vorbild avanciert. Da ist das Traumbuch des Artemidor, dem sich Wertungen sexueller Konstellationen entnehmen lassen, die im christlichen Kontext verschwinden. Und da sind literarische und ethische Quellen, die insbesondere, was die Rolle der Ehe angeht, Umbrüche bereits in der vorchristlichen Sexualmoral belegen.

Die Vorlesung zeichnet das Bild einer doppelten Abwendung von der griechischen, recht schlichten Dominanzkultur, in welcher, wer stark ist, penetriert, wen er will - freilich großen Wert darauf legen muss, in der Befriedigung seiner Lust nicht Sklave des eigenen Körpers zu sein. Insofern wird gerade der starke Mann für "ethische" Selbstzügelung bewundert. Aufgrund desselben Schemas erscheint, wer penetriert wird oder aber vom Genuss nicht lassen kann, als auch moralisch und politisch schwach. Foucault nennt dieses Spiegelungsverhältnis von Beziehungsleben und öffentlicher Rolle eine "sozio-sexuelle Isomorphie". In der Spätantike nun bricht eine neue Verbindlichkeit der Ehe diese Isomorphie auf. Das Ideal einer intensiven Zweierbeziehung sorgt gleichsam für eine zweite moralische Front. Der öffentlichen Bürgerrolle steht nun eine Selbstfindungsaufgabe im Paar gegenüber. Potente Männlichkeit wird damit zur Doppelanstrengung: In der Ehe treten Verbot des Ehebruchs und die Selbstzurücknahme zugunsten der Fortpflanzung nach vorn, im politischen Raum hingegen zählen vorbehaltlose Aktivität und eine Liebe zum großen Ganzen, die von anderer Art ist, aber ebenfalls authentisch sein soll.

Das Christentum und die innere Arbeit am Begehren

Worauf Foucault abhebt: Bereits die heidnische stoische Literatur zeigt uns diese Konstellation. Hier schon werden eheliche Strenge und "das Paar" erfunden, hier schon wird der bloße Lustgewinn entwertet und zeichnet die Instanz eines einheitlichen "Begehrens" sich ab, mit welchem das Individuum sich im Zweifel allein auseinanderzusetzen hat - einsam für sich, im inneren Monolog. Christliche Vorstellungen werden sich hier angliedern, jedoch erst in einem zweiten Schritt. Das Christentum führt freilich über lange Zeit kaum neue Verhaltensregeln ein. Es verschärft vielmehr die Rigidität jener innerlichen Arbeit am Begehren. Es befrachtet diese mit Furcht und Gefahr. Und radikal entwertet es dann jegliche sexualisierte körperliche Lust.

So dramatisch der skizzierte Wandel ist: In den Details sind Foucaults gelehrte Analysen etwas für Spezialisten. Reizvoll ist zudem, wie locker Foucault dennoch eigene neue Werkstattbegriffe erprobt. Deutlicher als in "Die Sorge um sich", wo medizinische Literatur die Problemstellung enger an den Körper bindet, verwendet die Vorlesung den modernen Ausdruck "Subjektivität" für Formen einer Arbeit am eigenen Selbst im spätantiken Alltag.

Foucault experimentiert diesbezüglich mit der Wortwahl, spricht von "Lebensführung", "Lebenskunst", "Verhaltenskunst", von "bíos" und "Technologie des Selbst" bzw. "Selbsttechnik" - Letzteres wird der Ausdruck sein, der dann bleibt. Auch der Terminus "Veridiktion" fällt, um dessen Ausarbeitung zu einer ganzen Geschichte der philosophischen Kritik dann die letzten beiden Vorlesungen zur "Regierung des Selbst und der anderen" kreisen werden. Allerdings hat "Veridiktion" in "Subjektivität und Wahrheit" noch einen vergleichsweise schlichten, auf das Tätigen wahrer Aussagen und auf Diskurse der Selbsterkenntnis begrenzten Sinn.

Die letzten Sitzungen und damit Kapitel ziehen sich eigenartig in die Länge. Anstelle eines mehrfach angekündigten Überganges zu mittelalterlichen Texten schiebt Foucault plötzlich verwickelte methodologische Zwischenüberlegungen ein. Wer an diesen tüfteln will, wird allerdings mit der deutschen Übersetzung hadern, die "réel" (aber auch "realité") pauschal mit "Wirklichkeit" überträgt, mögliche philosophische Anspielungen kaum kommentiert und auch an diffizilen Stellen keinen Hinweis auf die jeweiligen französischen Wendungen enthält.

Überhaupt ist die Übersetzung mäßig, gibt sich oft mit unbeholfen wirkender Syntax zufrieden - und weicht ausgerechnet von "Die Sorge um sich", obzwar beim selben Verlag erschienen, aus unerfindlichen Gründen ab. So wird "Krasis" eingedeutscht zu "Krase", und die phonetischen Umschriften griechischer Termini folgen der französischen Vorlage. So steht da etwa kharis statt cháris (Gunst) oder enupnion statt enhýpnion (Traum). Am besten rücke man also eine französische und eine deutsche Version dieser Subjektivitäts-Vorlesung neben den korrespondierenden dritten Band der "Geschichte der Sexualität".

PETRA GEHRING

Michel Foucault: "Subjektivität und Wahrheit". Vorlesungen am Collège de France 1980-1981.

Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 415 S., geb., 44,- [Euro].

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