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Noch in den 1980er Jahren galten religiös motivierte Rituale hierzulande als vom Aussterben bedrohte Spezies, als archaische Reste von bestenfalls folkloristischem oder unterhaltungsindustriellem Interesse, die in einer globalisierten, hochtechnisierten und zunehmend säkularisierten Welt keine Bedeutung mehr haben würden. Zwanzig Jahre später hat sich diese Situation gründlich geändert. Alte Rituale leben weiter, neue werden erfunden, importiert oder drängen aus anderen Weltgegenden nach Europa hinein. Gewaltexzesse, die scheinbar von außen in die westlichen Gesellschaften einbrechen, erweisen…mehr

Produktbeschreibung
Noch in den 1980er Jahren galten religiös motivierte Rituale hierzulande als vom Aussterben bedrohte Spezies, als archaische Reste von bestenfalls folkloristischem oder unterhaltungsindustriellem Interesse, die in einer globalisierten, hochtechnisierten und zunehmend säkularisierten Welt keine Bedeutung mehr haben würden. Zwanzig Jahre später hat sich diese Situation gründlich geändert. Alte Rituale leben weiter, neue werden erfunden, importiert oder drängen aus anderen Weltgegenden nach Europa hinein. Gewaltexzesse, die scheinbar von außen in die westlichen Gesellschaften einbrechen, erweisen sich häufig als rituell grundiert und haben ihre europäischen Resonanzen und Gegenstücke.Angesichts dessen entwickelt Thomas Hauschild eine neue Sicht auf Rituale und deren Zusammenhang mit Ressentiment und Gewalt. Jenseits von Idealisierung und Dämonisierung, von "aufgeklärtem Westen" und "rückständigem Orient", von postkolonialem Denken und Wissenschaftsgläubigkeit versteht er Rituale alsim Kern politisch neutrale Grenzphänomene an den Rändern textlich überlieferten Wissens, die weniger mit abstrakten politisch-religiösen Überzeugungen zu tun haben als mit den konkreten Lebensbedingungen der Menschen. Hauschild setzt daher auf die Mikroanalyse lokaler ritueller Praktiken und präsentiert höchst anschauliche ethnologische Studien europäischer Gesellschaften und des Mittelmeerraums. Die "Kultur" von Al Qaida wird ebenso untersucht wie die der sizilianischen Mafia, der "Ehrenmord", der "böse Blick" sowie andere magische und religiöse Riten und Fetischismen. Rituale erweisen sich dabei als wertvolle Kulturgüter, die nicht per se Nährboden für Fundamentalismen und Sektierertum sind, sondern aus denen sich wie aus anderen Kulturformen auch gleichermaßen gewalttätige wie friedfertige Konsequenzen ziehen lassen.
Autorenporträt
Hauschild, ThomasThomas Hauschild ist Professor für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenburg sowie Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturwissenschaft. Gegenwärtig ist er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Gastprofessuren führten ihn nach Rom, Neapel, New York und Aix-en-Provence.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2008

Wir Ethnologen sind auch noch da!
Italienische Frömmigkeit und fundamentalistischer Terror – Thomas Hauschilds Studien über Ritual und Gewalt
Dabei sein wollen alle. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 fühlen sich die Vertreter sämtlicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen berufen, Erklärungen und Deutungsversuche für den neuen Terrorismus und seine Ursachen zu geben. Völlig zu Recht. Orientalisten, Religionswissenschaftler, Politologen und andere mehr erfüllen mit ihren Arbeiten eine wichtige Aufgabe und ziehen daraus zugleich eine Legitimation für die öffentliche Reputation ihres Faches. Wer im Wettstreit um die Forschungsförderung nicht unterliegen will, der muss, wie es scheint, vom weltweiten Terrorismus sprechen. Diesen Eindruck jedenfalls hinterlässt das neue Buch des Ethnologen Thomas Hauschild. Was als eine Sammlung von Studien zum derzeit viel verhandelten Thema Gewalt und Ritual angekündigt wird, entpuppt sich vor allem als Versuch einer Standortbestimmung der gegenwärtigen Ethnologie. Gewiss geht es auch um Fragen von Ritual und Gewalt. Doch wiederholt werden, zum Nachteil aller Nicht-Ethnologen unter den Lesern, akademische Grundlagenkämpfe ausgefochten. Als wollte jemand laut rufen: Wir Ethnologen sind übrigens auch noch da.
Das geht nicht ohne bisweilen sehr polemische Kritik, etwa wenn der Autor, Professor für Ethnologie in Halle, bemerkt , in den Reaktionen vieler Intellektueller auf die Anschläge von Washington und New York komme eine Unfähigkeit zum Ausdruck, die Herausforderungen in ihrer Tiefe zu begreifen. Oder wenn er behauptet, eine „große Koalition des Vergessens” habe es vollbracht, das Wüten früherer Terrorgruppen wie der RAF und der Brigate rosse in das Unbewusste der westlichen Kultur zu verbannen. Sollten die „Geistesarbeiter” und „Kulturmenschen” mit ihren Analysen wirklich derart daneben gelegen haben, wie das auf wenigen Seiten suggeriert wird?
Eine Antwort auf diese Frage ist nur mit einer genauen Analyse der vielen Erklärungen für den neuartigen, islamistischen Terrorismus möglich. Thomas Hauschild gibt lediglich ein paar Stichworte. Lieber markiert er großzügig das Feld, auf dem er sich der Rückkehr von Ritual und Gewalt widmen will. Ein ethnographischer und alltagshistorischer Realismus ist das erklärte Ziel, eine kritische Erforschung von Ursachen, Varianten und Effekten von Ritualen, das alles mit genauen Studien an „scheinbar unwichtigen mikroskopischen Details”.
Paradoxerweise führen diese Untersuchungen zunächst nicht in die Krisenzonen des islamistischen Terrorismus. Vielmehr in eine Region, die bislang nicht als Rückzugsgebiet fundamentalistischer Gotteskrieger bekannt geworden ist: die Basilikata, das Bergland im italienischen Süden, zwischen Bari und Neapel. Dort hat Hauschild mehrere Jahre Feldforschungen zur Frömmigkeit der Landbevölkerung betrieben und dokumentiert, wie sich, neben dem Katholizismus, verschiedene althergebrachte regionale Kulte fortentwickelt haben. Die Verehrung des heiligen Donatus ist ein Beispiel für diese regional spezifische Religiosität. Nach der Überlieferung soll der frühchristliche Bischof von Arezzo die neugeborenen Kinder vor Epilepsie schützen. Jahr für Jahr wird zu seinen Ehren in dem kleinen Ort Ripacandida ein Fest ausgerichtet, zu dem mehrere zehntausend Pilger kommen.
Heiligenverehrung und Krieger
Dieser und andere lokale Kulte dienen als Beispiele für jene geforderten kleinen Forschungen, die vergleichende Rückschlüsse zu anderen Kulturen ermöglichen sollen, in diesem Fall zu denen rund um das Mittelmeer. Für Thomas Hauschild ist dieser große geographische und historisch gewachsene Raum ein ideales Modell für die Möglichkeiten ethnologischer Erkenntnis. Wer einzelne Rituale genau erforscht und beschreibt, ist in der Lage, globale Vergleiche zu ziehen. So jedenfalls der Wunsch.
Das Verhältnis von Ritual und Gewalt ist damit allerdings noch keineswegs geklärt. Auch der gedankliche Sprung von der religiösen Verehrung eines Heiligen in den süditalienischen Bergen zu den religiös verirrten heiligen Kriegern der Gegenwart, vom Aberglauben in der Basilikata zum Kult der fundamentalistischen Massenmörder, lässt sich nicht wirklich nachvollziehen. Nach dem Blick auf Rituale der italienischen Landbevölkerung und auf die Selbstinszenierungen einiger Mafiabosse widmet sich Thomas Hauschild dem Innenleben von al-Qaida und plädiert für eine Ethnographie des Terrornetzwerkes und seiner Kommunikationsstrukturen. Mikroanalysen mit eigenen Forschungen sind da allerdings unmöglich. Was bleibt, ist die Analyse von Videobotschaften wie auch von Texten der Terroristen, etwa der sogenannten „Geistlichen Anleitung”, mit der sich die Selbstmordattentäter für ihre Todesflüge am 11. September präpariert haben. Das Ergebnis dieser Recherchen ist jedoch kaum überraschend. Charismatische Drahtzieher nutzen den Zwiespalt moderner Muslime aus und stellen im politischen Bündnis mit Dunkelmännern und Schurkenstaaten eine Truppe begeisterter Attentäter auf die Beine. Eine neue Erkenntnis ist das jedenfalls nicht.
Dieses Buch ist eine Sammlung von zweifellos interessanten Fragen und Analysen. Aber es hat keine zentrale These und ermöglicht damit nicht die Orientierung, die ein so grundlegendes Thema wie das Spannungsfeld von Ritual und Gewalt dringend bräuchte. Zudem wird das wiederholt formulierte Ansinnen, die Bedeutung einer vorurteilsfreien, kritischen Ethnologie öffentlich hervorzuheben, mit den dort versammelten Analysen kaum eingelöst. Gelegentlich entsteht gar der Eindruck, manch eine Passage wäre besser aufgehoben in einem Antrag zur Erwerbung von Forschungsgeldern, als in einem Buch, das gewiss nicht nur für den kleinen Kreis der Ethnologen geschrieben wurde. Die unverzichtbare Wissenschaft vom Verstehen anderer Kulturen hätte ein engagierteres Bekenntnis verdient. NIELS BEINTKER
THOMAS HAUSCHILD: Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 258 Seiten, 24.80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Durchwachsen wirkt Thomas Hauschilds Band "Ritual und Gewalt" auf Rezensent Oliver Pfohlmann. Neben bedenkenswerten Überlegungen findet er darin einige Thesen, denen er nicht zustimmen kann. Während er die Beobachtungen des Ethnologen zum Thema "Ehrenmord" ausdrücklich lobt, haben ihn dessen Erklärungsversuche des Terrorismus islamischer Fanatiker nicht überzeugt. Für ihn wird nicht ersichtlich, was süditalienische Riten und Traditionen, die Hauschild untersucht hat, mit Osama bin Ladens Terrornetzwerk zu tun haben. Pfohlmann kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Buch aus verschiedenen Aufsätzen "notdürftig" zusammengeschustert ist. Er hält dem Autor vor, sich zu Lasten der Lesbarkeit immer wieder in "innerethnologische Grabenkriege" zu verstricken, die für das Publikum jenseits der Fachgrenzen uninteressant sind. Insgesamt verspricht das Buch zu seinem Bedauern mehr als es letztlich hält.

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