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Im Zentrum von Reinhart Kosellecks Werk steht die Begriffsgeschichte, deren Paradigma er der "denkende Historiker", wie Hans-Georg Gadamer ihn einmal genannt hat maßgeblich entwickelt und zur Grundlage des von ihm mitherausgegebenen Großlexikons der Geschichtlichen Grundbegriffe gemacht hat. Die Begriffsgeschichte Koselleckscher Prägung wendet sich ganz spezifisch gegen eine abstrakte Ideengeschichte. Sie richtet sich auf den tatsächlichen Sprachgebrauch im sozialen, politischen und rechtlichen Leben. Dabei werden konkrete Erfahrungen und Erwartungen an der Gelenkstelle zwischen…mehr

Produktbeschreibung
Im Zentrum von Reinhart Kosellecks Werk steht die Begriffsgeschichte, deren Paradigma er der "denkende Historiker", wie Hans-Georg Gadamer ihn einmal genannt hat maßgeblich entwickelt und zur Grundlage des von ihm mitherausgegebenen Großlexikons der Geschichtlichen Grundbegriffe gemacht hat. Die Begriffsgeschichte Koselleckscher Prägung wendet sich ganz spezifisch gegen eine abstrakte Ideengeschichte. Sie richtet sich auf den tatsächlichen Sprachgebrauch im sozialen, politischen und rechtlichen Leben. Dabei werden konkrete Erfahrungen und Erwartungen an der Gelenkstelle zwischen sprachgebundenen Quellen und politisch- sozialer Wirklichkeit ausgemessen.
Mit dieser Sammlung von 25 Untersuchungen hinterläßt ihr Autor ein Vermächtnis. Er erzählt die Geschichte unserer, der modernen Welt anhand der Begriffsgeschichten von "Staat", "Revolution ", "Aufklärung", "Emanzipation", "Bildung " und "Utopie". Stets wird dabei der Doppelstatus dieser Begriffe, ihre Indikatoren- und Faktorenrolle im historischen Prozeß, deutlich. Die semantisch- pragmatische Analyse der Begriffe macht Kontinuitäten ebenso wie Umschlagpunkte der Sozial- und Kulturgeschichte sichtbar und gibt so eine eigene Form geschichtlicher Erfahrung frei: Die Historie der Begriffe wird zum Medium der historischen Selbstaufklärung der Gegenwart.
Autorenporträt
Willibald Steinmetz ist Professor für Geschichte an der Universität Bielefeld.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2006

Lichtbahnen im Dunkel
Die Menschheit hat viele Ideen, aber nur wenig Worte: Reinhart Kosellecks „Begriffsgeschichten” sind eine Schule des Lesens
Der Historiker Reinhart Koselleck gehört zu den großen Toten des Jahres 2006. Obwohl er über achtzig Jahre alt war, ist der Satz, dass sein Tod zu früh kam, bei ihm mehr als eine Redensart. Koselleck war dabei, die Ernte seines wissenschaftlichen Lebens einzubringen. Dieser Denker von Geschichte hatte die ihm gemäße Form in der ihre Argumente zuspitzenden Abhandlung gefunden. Über hundert solcher die Mitte zwischen Gelehrsamkeit und Essayismus haltenden Stücke hat Koselleck verfasst, auffällig viele im Format zwischen zwanzig und dreißig Seiten. Wer will, kann darin die anderthalbstündige Vorlesung wiedererkennen, in der Koselleck als Lehrer brillierte.
Der kleine bewegliche Mann mit der preußischen, leicht schnarrenden Stimme pflegte ein Buch aufzuschlagen und mit einem Zitat zu beginnen. Meist war es ein berühmtes Buch und ein bekanntes Zitat: Thukydides, Machiavelli, Marx. Und dann kam Koselleck in Gang und begann lange Argumentenreihen daran zu knüpfen, vor allem universalhistorisch zu vergleichen. Diese Vergleiche liefen in der Regel darauf hinaus, das situativ Besondere des Zitats vom Allgemeinen, Anthropologischen, man könnte auch sagen: Strukturellen und Theoriefähigen, abzuheben.
Was unterscheidet den Kreislauf der Verfassungen, den antike Denker wie Polybios entwickelt haben, von der modernen „Revolution”, in deren Wortstamm ja die „Umwälzung”, also auch noch Kreisartiges enthalten ist? Die Revolution geht immer weiter, sie kehrt nicht zu ihrem Anfang zurück, wie der Verfassungskreislauf. Trotzdem konnten Beobachter der Französischen Revolution mit Hilfe ihrer antiken Gewährsleute das Zurückschwingen der radikalen Demokratie in die Tyrannis eines Einzelnen prognostizieren.
Den politischen Bürgerbegriff der antiken Polis hob Koselleck ähnlich ab vom mittelalterlich-neuzeitlichen Stadtbürgerbegriff mit seinen ständischen Konnotationen. Doch waren die antike und die nachantike Stadt einander in ihrer politischen und ökonomischen Bürgerlichkeit ähnlicher als heutiger Staatsbürgerlichkeit; wobei sich im nationalen Vergleich die Bürgerbegriffe wieder stark unterscheiden, als Bourgeois, Citoyens, als Mittelstand oder als jene deutschen Bürger, die immer vielerlei zugleich waren: Städter, Staatsangehörige, Bildungsbürger, und die so des egalitären Potentials westeuropäischer Bürgerbegriffe entrieten.
Dass die französische Aufklärung schon vor 1789 den Besitzbürger vom Staatsbürger begrifflich rigoros getrennt hatte, wurde zu einer Vorgabe, die die politische Gleichbehandlung ungleich stärker förderte als der ständischere deutsche Bürgerbegriff. Der Citoyen kann immer auch der mittellose Literat sein, der im Café auf den Stuhl steigt und zu agitieren beginnt. Deutsche Bürger sind Hausbesitzer und Familienväter.
Und „Bildung” hat mit ihrem Akzent auf der Selbstkultivierung des Individuums, ihrer Innerlichkeit, eine viel staatsfernere Bedeutung als die westeuropäische „Erziehung”, die als „Culture/Cultura” einen objektiven Zug hat, den die lateinische Sprachgrundlage nachdrücklich unterstreicht. Zu den langfristigen Bedingungen der deutschen Geschichte gehört eben auch die Ferne vom Latein.
Kosellecks universalhistorisches Instrument war die „Begriffsgeschichte”. Sein letzter Abhandlungsband, der bei seinem Tod komponiert vorlag, allerdings seinen Abschluss in Gestalt eines Nachworts nicht mehr fand, versammelt die darauf bezüglichen Arbeiten aus dreißig Jahren, nachdem 2004 der Band „Zeitschichten” Kosellecks Essays zur Theorie historischer (also über die Naturkreisläufe hinausreichender) Zeit zusammengetragen hatte. Die „Begriffsgeschichten” enthalten viele Klassiker, die Generationen von Wissenschaftlern geprägt haben und die kein historisch Gebildeter sich entgehen lassen sollte. Doch ihr innerer Zusammenhang führt Kosellecks Denken in neuer Gewichtung vor.
Koselleck gilt vor allem als Theoretiker der Sprache der Revolution um 1800, die sich aus den konkreten Zusammenhängen altständischer Lebensformen löste und durch Abstraktion und Verzeitlichung den modernen Geschichtsprozess abbildete und zugleich antrieb. Aus den vielen Geschichten wird die eine Geschichte; aus den einzelnen Fortschritten der Fortschritt als Prinzip; aus den vielen Umwälzungen wird die unumkehrbare Revolution. Koselleck sprach von „Kollektivsingularen” von „Erwartungsbegriffen”, die nicht mehr Erfahrungen bündelten, sondern das Kommende als unvermeidlich unterstellten.
Begriffliche Lagen zeigen veränderte Kräfteverhältnisse an: Wer vom „Patriotismus” spricht, der zerbricht erst einmal das hierarchische Verhältnis zwischen dem Vater des Vaterlands, dem Monarchen, und seinen treuen Untertanen. Der Patriot tritt dem König im Namen des allgemeinen Interesses seines Vaterlands entgegen. So wird der Patriotismus zum Vorgängerbegriff aller revolutionären Radikalisierungen der modernen Welt, von Republikanismus und Demokratie.
Solche politische Analysen verraten einiges von der Herkunft von Kosellecks Methode. Zwar war der Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer sein wichtigster akademischer Lehrer, doch ebenso angeregt hat ihn Carl Schmitt mit seinen Definitionen. Schmitt schärfte Kosellecks Blick für die politischen Implikationen begrifflicher Vorentscheidungen, beispielsweise bei „Feindbegriffen”. Sie vermehren bei steigendem Moralismus auch ihre Gewaltsamkeit: Vom „Barbaren” über den „Ungläubigen” zum „Unmenschen” führt eine Skala, die immer näher an die Legitimation führt, einen Gegner im Kampf nicht zu besiegen, sondern auch auszulöschen. Den Essay zum „Kampf der Kulturen” hat Koselleck nicht mehr schreiben können.
Der jetzt vorliegende Band zeigt, dass Kosellecks Aufmerksamkeit nicht nur den revolutionären Neuerungen der modernen Welt und ihrer Sprache galt, sondern ebenso den anthropologischen Konstanten. Das hat eine methodische Seite, denn historische Veränderung ist nur vor dem Hintergrund des Wiederkehrenden wahrnehmbar. Etwas Besonderes lässt sich nur formulieren in einem Sprachsystem, das auf Regelmäßigkeit beruht. Noch die revolutionärste Geschichte vollzieht sich unter den Bedingungen, ohne die keine Geschichte zustande kommen kann.
Drei solcher Bedingungen entwickelt Koselleck in drei Oppositionen: Es geht immer um früher und später, denn Geschichten verlaufen in der Zeit; es geht immer um innen und außen, denn Geschichten sind in konkreten Handlungseinheiten angesiedelt; und es geht immer auch um oben und unten, denn diese Handlungseinheiten sind in sich differenziert. Das sind „vorsprachliche” Bedingungen, die in jeder artikulierten Geschichte ihre Sprache, ihre Schlagworte und Begriffe finden. „Die Menschheit hat viele Ideen, aber nur wenig Worte”, zitiert Koselleck John Stuart Mill. Darum verändern Worte unentwegt ihre Bedeutungen und darum auch verlaufen Sprachwandel und gesellschaftlicher Wandel immer ungleichmäßig. Dieser Differenz nachzuspüren war Kosellecks Virtuosität. Denn die stumme Seite der Geschichte ist ja weithin verloren, wir müssen von den beredten Überresten und Überlieferungen auf die schwarze Masse des Stummen rückschließen. Der Begriffshistoriker geht in tiefer Nacht mit einer kleinen Lampe über ein unabsehbares Feld. Kosellecks Abhandlungen sind die notwendig partikularen Lichtbahnen, die in immer neue Richtungen strahlen. Ihre Genauigkeit und Schärfe gewinnen sie auch aus dem Bewusstsein des umgebenden Dunkels; sie sind nie schöngeistig.
Kosellecks Abhandlungen schließen die Bibliotheken seiner enormen Belesenheit auf, gut gesetzte Zitate schimmern lockend. So sind seine Schriften eine Schule des Lesens, die allen hilft, nicht nur den Spezialisten. Wer Koselleck studiert hat, wird alle Bücher aus früheren Epochen, auch Romane und Gedichte, mit anderen Augen lesen. Deshalb gehören seine „Begriffsgeschichten” in jede Bibliothek. GUSTAV SEIBT
REINHART KOSELLECK: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 569 Seiten, 38 Euro.
Deutsche Bürger sind Hausbesitzer und Familienväter.
Der Patriot tritt dem König im Namen des allgemeinen Interesses seines Vaterlands entgegen.
Der Patriot ist der Vorläufer des Radikalen: Theodor Körner mit seinen Kameraden (Farbdruck nach einer Zeichnung von Woldemar Friedrich). Foto: AKG Berlin
Der Historiker Reinhart Koselleck (1923 bis 2006) Foto: Juergen Bauer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2006

Grüne Gegenwart
Die Grenze der Ökologie: Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichten

Als die Bundesregierung im Herbst des Jahres 1984 beschloß, daß ab 1989 in der Bundesrepublik nur noch Autos mit Abgaskatalysator zugelassen werden sollten, befürworteten zwei Drittel der Deutschen diese Gesetzesinitiative. Die deutsche Automobilindustrie dagegen betonte Jahre zuvor schon die wirtschaftlichen Folgelasten und beschwor mit Nachdruck die Gefahr, daß die Einführung des Katalysators die Konkurrenzfähigkeit, überhaupt die Wirtschaftlichkeit des deutschen Automobilbaus erheblich beeinträchtigen werde. Der Katalysator, den man für den amerikanischen Markt längst hatte einführen müssen, sei überflüssig, wenn nicht schädlich. Wer hatte recht? Welche Auffassung lag eher im Interesse der Allgemeinheit?

Heute, mehr als zwanzig Jahre später, ist die Frage leicht beantwortet. Längst aber sind neue Zukunftsdrohungen aufgetaucht. Aber auch Techniken, die noch vor Jahren und nicht ohne Grund als fundamentale Bedrohung angesehen wurden, konnten an allgemeiner Akzeptanz deutlich gewinnen, weil die Vorzüge in den Augen vieler Politiker und Bürger die Nachteile überwiegen. So oder so, alte und neue Gefahren fordern sofortiges Handeln - bei ungewissem Ausgang. Sie verlangen nach einer immer neuen und potenzierten technischen Erfindungskraft, um die jeweils neuen, durch Technik verursachten Schäden zu minimieren oder ganz zu beheben, sofern das möglich ist.

Auf globaler wie auf lokaler Ebene zeitigt der Zwang zu ökologischen Hochrechnungen dieser Art auch neuartige politische Hochrechnungen im Spannungsfeld von allgemeinen und besonderen Interessen. Die prognostizierte Zukünftigkeit hat sich in den letzten Jahren als ein eminenter politischer Faktor erwiesen - bei der Gen-, der Klima- oder der Demographieforschung. Zugleich war diese Zukunftsdimension auch immer ein Argument dafür, die Sache für gar nicht verhandelbar zu erklären, da sie unabsehbar zukünftig sei - oder ohnehin eine Frage kosmischer Entwicklungstendenzen.

Der Anfang dieses Jahres gestorbene Historiker Reinhart Koselleck nahm gern die Gelegenheit wahr, die eigenen Forschungen zur historisch-politischen Begrifflichkeit als Ausdruck begriffener Welt in gegenwärtigen Auseinandersetzungen fruchtbar zu machen. Wie intensiv er das betrieben hat, läßt sich auch an dem postum erschienenen, von Willibald Steinmetz, Ulrike Spree und Carsten Dutt bearbeiteten Band "Begriffsgeschichten" ablesen, in dem grundsätzliche Aufsätze zur Begriffsgeschichte und Semantik der bürgerlichen Welt bis zu Gegenwartsproblemen fortgeführt werden. So sprach Koselleck 1979 auf einem von der CDU veranstalteten Umweltkongreß über "Allgemeine und Sonderinteressen der Bürger in der umweltpolitischen Auseinandersetzung". Koselleck verweist in seinem Vortrag darauf, daß mit den ökologischen Bürgerinitiativen ein allgemeines Interesse formuliert worden sei, das sich nicht in die Zyklen der Wahlperioden und der unternehmerischen Planungsphasen einpassen lasse. Zwar gibt es heute in Deutschland keine Partei mehr, die nicht an irgendeiner Stelle ihres Programms eine ökologische Komponente aufzuweisen hätte. Wichtiger wäre es allerdings, so Koselleck, daß die Politiker verstünden, daß die ökologischen Fragen eine permanente Herausforderung darstellen. "Die moderne Ökologie", so Koselleck, "signalisiert eine Grenze, die eingehalten, vielleicht hinausgeschoben, aber grundsätzlich nicht überschritten" werden darf. Sie diagnostiziert eine "Krise des bisherigen naturwissenschaftlich und technisch ermöglichten Fortschritts". Seit rund zweihundert Jahren steht, so Koselleck, "die Zivilisation unserer Menschheit unter einer Zwangsalternative, die es zuvor nie gegeben hat, nämlich technisch fortschreiten zu müssen oder zurückzufallen in anarchische Zustände". Fortschritt oder Rückschritt heißt die Alternative seit Beginn der industriellen Revolution. Seit dieser Zeit auch scheint es nicht mehr möglich zu sein, einen Status quo des allgemeinen Gleichgewichts zu stabilisieren. Mit anderen Worten: "Wir sind vom technischen Fortschritt abhängig, der dauernd in die Natur eingreift und weitere technische Lösungen für die von ihm verursachten Störungen oder Schäden erfordert." Koselleck sieht in der ökologischen Frage zwei Systeme aufeinanderprallen.

Das eine sei das System der Ökologen, die "von der Systemerhaltung einer sich selbst speisenden Natur" ausgingen. Das andere ist das System des Fortschritts, dem die Menschheit gesellschaftlich-ökonomisch angehöre - und das immer weitere Fortschritte brauche. Die grundsätzliche Frage bestehe darin, wie zwischen den beiden Systemen vermittelt werden könne. Dabei komme es darauf an, ökonomisch sinnvoll erscheinende Entscheidungen einem Beweiszwang im Hinblick darauf auszusetzen, "daß sie für die ferne Zukunft ökologisch schadlos bleiben".

Aus der Erfahrungsgeschichte des Fortschritts aber ergebe sich, daß weder einzelne Erfindungen absehbar seien noch ihre Anwendungen. Das hat im Verlauf der vergangenen zweihundert Jahre dazu geführt, daß eine Art Urvertrauen in die innovativen Möglichkeiten der Technik entstanden sei. Und genau an diesem Punkt setze die ökologische Kritik an: Das "angespeicherte Vertrauen in eine zwar unbekannte, aber doch technisch zunehmend beherrschbare Zukunft" ist verbraucht.

Diese Diagnose trifft auch heute zu und wird sogar verschärft durch eine rapide sich globalisierende Industrialisierung mit weitreichenden Folgen. Nun sind die Interessen der Allgemeinheit die Interessen der Menschheit schlechthin. Sie werden nicht mehr im nationalen Staatsverband, sondern in internationalen Absprachen verhandelt, die neue politische Mechanismen in Gang setzen, die ihrerseits quer zu den Interessenlagen der klassischen Außenpolitik liegen können. Zugleich ist festzustellen: "Allgemeine Interessen finden, je allgemeiner sie sind, desto schwerer Interessenten, die sich für sie einsetzen." Mit anderen Worten: Die allgemeine Betroffenheit und das allgemeine Interesse sind so allgemein, daß nur wenige sich so unmittelbar betroffen fühlen, daß sie, unbeschadet der Allgemeinheit des Problems, individuell handeln.

Hierdurch ist ein Trägheitsmoment entstanden, das der Nationalstaat ebenso wie die internationale Staatengemeinschaft durch Anreize einerseits, durch erhöhte Kosten andererseits zu überwinden trachten. Das grundsätzliche Problem des Verbrauchs an nicht erneuerbaren Energien ist damit zwar erkennbar geworden, es ist aber nicht gelöst. Es scheint indessen so, daß die politischen und sozialen Implikationen des Umweltschutzes immer offensichtlicher würden.

Mit anderen Worten: Wir sind bereits mitten in der Zukunft, von der Reinhart Koselleck 1979 sprach. Das allgemeine Interesse ebenso wie das genuin politische Interesse an Umweltschutz und erneuerbaren Energien sind heute leichter und allgemeiner einsehbar als vor knapp dreißig Jahren. Die ökologische Frage ist mit allen Implikationen zu einer Frage geworden, die sich in vielen Aspekten heute grundsätzlich beantworten läßt. Es kommt nur noch darauf an, in jedem Einzelfall eine aussichtsreiche Lösung zu finden - worüber Lobbyisten und Parteien sich auseinandersetzen können.

So ist Kosellecks Aufsatz über die temporalen Strukturen allgemeiner Interessen selbst zum Beleg dafür geworden, daß auf den historischen Verschiebebahnhöfen zeitlich nichts dauerhaft fixiert ist und bestimmte Fragen ihre zeitliche Zugehörigkeit ändern können, ohne je ganz zu verschwinden. Mit dieser Erkenntnis ist die historische Semantik selbst Teil der nicht hintergehbaren Ökologie.

MICHAEL JEISMANN

Reinhart Koselleck: "Begriffsgeschichten". Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 569 S., geb., 38,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als Historiker hat der zu Beginn dieses Jahres gestorbene Reinhart Koselleck seine Arbeit gern in den Zusammenhang aktueller politischer Debatten gestellt, meint Michael Jeismann. So habe sich der Autor, dessen gesammelte Aufsätze zur "Begriffsgeschichte und Semantik" nun postum erschienen sind, beispielsweise 1979 eingehend mit der "modernen Ökologie" und ihre Implikationen für die Politik auseinander gesetzt und seine Befunde hätten noch heute Bestand, stellt der Rezensent fest. Bei diesem Thema sieht Koselleck zwei "Systeme" aufeinander stoßen, nämlich das des technisch-ökonomischen Fortschritts und das der sich selbst erhaltenden Natur, wobei er ein früheres Grundvertrauen in die Segnungen der Technik schwinden sieht, referiert der Rezensent, der das Buch offenbar mit großem Interesse gelesen hat.

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