Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 9,00 €
  • Broschiertes Buch

Im November 2002 hat Judith Butler mit überwältigendem Erfolg die Adorno-Vorlesungen an der Universität Frankfurt gehalten, die hier erstmals abgedruckt werden. In ihrer Kritik der ethischen Gewalt geht sie der Frage nach, wie man angesichts einer Theorie des Subjekts, dessen Entstehungsbedingungen sich nie restlos klären lassen, dennoch die Möglichkeit von Verantwortung und Rechenschaft bewahren kann. In Auseinandersetzung mit Adorno, Cavarrero, Foucault, Lévinas und der Psychoanalyse zeigt Butler, daß jede dieser Theorien etwas ethisch Bedeutsames enthält, das sich aus den Grenzen ergibt,…mehr

Produktbeschreibung
Im November 2002 hat Judith Butler mit überwältigendem Erfolg die Adorno-Vorlesungen an der Universität Frankfurt gehalten, die hier erstmals abgedruckt werden. In ihrer Kritik der ethischen Gewalt geht sie der Frage nach, wie man angesichts einer Theorie des Subjekts, dessen Entstehungsbedingungen sich nie restlos klären lassen, dennoch die Möglichkeit von Verantwortung und Rechenschaft bewahren kann. In Auseinandersetzung mit Adorno, Cavarrero, Foucault, Lévinas und der Psychoanalyse zeigt Butler, daß jede dieser Theorien etwas ethisch Bedeutsames enthält, das sich aus den Grenzen ergibt, die jedem Versuch gezogen sind, Rechenschaft von sich selbst abzulegen: Noch in demjenigen, das wir "ethisches Scheitern" nennen, steckt eine ethische Wertigkeit und Bedeutsamkeit. Die Frage der Ethik erscheint genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit, dort, wo wir uns fragen, was es heißen könnte, einen Dialog fortzuführen, für den wir keine gemeinsame Grundlage annehmen können, und wo wir uns an den Grenzen unseres Wissens befinden und dennoch Anerkennung zu geben und zu empfangen haben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2003

Wir sind undurchsichtig für uns selbst
Judith Butler plädiert für eine Moral aus der Anerkenntnis der eigenen Widersprüchlichkeit
Moral wird gern auf Vorschriften reduziert. Als gut gilt die Orientierung des Handelnden an vorgegebenen Normen. Böse handelt, wer sich dem Anspruch des moralischen Gesetzes entzieht. Dieses verbreitete Bild von Moralität ist voraussetzungsreicher als es prima facie erscheint. Dem handelnden Subjekt muss die Kraft freier Selbstbestimmung zuerkannt werden. Auch muss es sich selbst transparent sein. Der Handelnde muss Normen erkennen und zwischen gut und böse unterscheiden können.
Nietzsche hatte autonomiezentrierte Moral als widersprüchlich entlarvt. Der radikale Aufklärer, der die Schwächen der ersten, bürgerlichen Aufklärung freilegt, analysierte die Widersprüche in Kants „kategorischem Imperativ”. In den Denkrevolutionen des 20. Jahrhunderts sind ihm so unterschiedliche Intellektuelle wie Adorno und Foucault gefolgt. Adorno attestierte Kant „moralischen Narzissmus”. Das autonome Selbst von Kants deontologischer Ethik bleibe von den sozialen Vermittlungszusammenhängen und Sozialisationsagenturen abstrakt getrennt, in denen es sich gebildet habe. Auch könne Kant mit rigider Sollensethik keinen zureichenden Begriff der Folgen des Handelns bilden.
Mit Distinktionen von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, die um 1900 von Paul Hensel und Ernst Troeltsch entwickelt und später von Max Weber aufgegriffen wurden, entfaltete Adorno eine Kant-Kritik, die im Vorwurf narzisstischer Selbstbezüglichkeit gipfelte: Das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können”, laufe in der Praktischen Philosophie auf abstrakten Individualismus hinaus. Mit Ibsen imaginierte Adornos Kant nur eine „Reinheit der Seele”, der die humane Gestalt der gemeinsam bewohnten Welt gleichgültig geworden sei. Kants Moralkonzept galt hier als Inbegriff eines „verborgenen Egoismus”.
Judith Butler will in ihren Frankfurter Adorno-Vorlesungen die pauschale Kant-Kritik in Adornos „Problemen der Moralphilosophie” radikalisieren, indem sie die Vorstellung autonomer Subjektivität dekonstruiert. Ihre Kritik der „ethischen Gewalt” soll das Individuum vom Absolutismus eines unbedingten „Du sollst!” befreien. Mit Lacan und der italienischen Feministin Adriana Cavarero problematisiert sie die Vorstellung kohärenter Narrative, in denen ein Ich sich seine Lebensgeschichte als in sich folgerichtigen Entwicklungsgang vorgaukelt. Sie kritisiert dies als „Pose der narrativen Beherrschung”. Die Geschichten, die ein Mensch von sich erzähle, sollten nur das elementare Rätsel vertuschen, das Dunkel der Ich-Genese nicht aufhellen zu können.
So muss Butler auch den in manchen Psychoanalytiker-Sekten kultivierten Allmachtsglauben zerstören, das Ich könne sich durch reflexive Introspektion durchsichtig werden: Niemand könne sagen, wer er wirklich sei. Unausweichlich bleibe jedem Entscheidendes von sich selbst verborgen. Jeder sei für sich ein Rätselwesen.
Das Ich kennt sich nicht
Die Absage an homogenitätszentrierte Ich-Konzepte soll den konstruktiven Umgang mit Grenzen und Widersprüchen unserer selbst befördern. In wunderschönen Reflexionsfiguren legt Butler befreiende Wirkungen ihres Verzichts auf den Glauben an starke „Selbsttransparenz” dar. Wenn das Ich sich gar nicht kennt, ist die Forderung nach unbedingter Selbstübereinstimmung Dogmatismus.
Wer uneinlösbare Forderungen stellt, übt „ethische Gewalt” aus. Gegen Programme moralischer Perfektibilität des Menschen, in denen gelingendes Leben als Kampf um moralische Selbststeigerung vorgestellt wird, empfiehlt Butler skeptische Bescheidenheit. Wir hätten keinerlei Chance, inneren Einklang mit uns selbst zu erreichen. Geboten sei die Anerkennung der eigenen Widersprüchlichkeit. Für ihre Ethik der „Bescheidenheit und Großzügigkeit” nimmt Butler auch religiöse Symbole in Anspruch.
Ihre religiösen Assoziationen bleiben vage und epistemologisch naiv. Sie bezeichnet die Menschen als „fehlbare Geschöpfe”. Dann muss sie einen Schöpfer denken können. Auch wäre die „Fehlbarkeit” des Menschen präziser zu bestimmen. Ist „Fehlbarkeit” nur ein Synonym für die konstitutive Endlichkeit des Menschen? Oder geht es Butler um moralisch falsche Entscheidungen? Setzt die Rede vom Menschen, der sich verfehlt, nicht jene Subjektivität voraus, die sie dekonstruieren will? Wer religiöse Metaphern so locker gebraucht wie die Literaturwissenschaftlerin aus Berkeley, droht intellektuelle Glaubwürdigkeit zu verspielen.
Adorno-Vorlesungen im „Institut für Sozialforschung” erzeugen den rhetorischen Zwang zum Heldengedenken. Die Bekundungen intellektuellen Respekts für den Autor der „Minima Moralia” können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Butler lieber nach Paris geeilt wäre. Zentrale Argumente und Begriffe verdankt sie dem späten Foucault. Dass unser Erkennen fragmentarisch und unsere Seele zerrissen sei, dient als Ausgangspunkt sensibler Beschreibungen der hohen Verletzlichkeit des Ich, die um die zerstörte Integrität des geschundenen Körpers kreisen. Schon Nietzsche hatte in der „Genealogie der Moral” bemerkt, dass unserem Selbstbewusstsein bestimmte Verletzungen vorausgegangen seien. Foucault radikalisierte dies zur Behauptung, dass jede Anerkennung des anderen die Bereitschaft impliziere, sich verletzen zu lassen. Hegels Figur der Anerkennung fordert eine Begegnung mit Alterität, die diese nicht auf Sichselbstgleichheit oder Selbigkeit reduziert.
Dann bedeutet Anerkennung, sich dem anderen so auszusetzen, dass das eigene Ich bis in die Sphären der Taktilität hinein prekär wird. In „nach- hegelianischen Auslegungen der Anerkennungsszene” will Butler aus der „eigenen Undurchsichtigkeit für mich selbst” die „Fähigkeit” ableiten, „anderen eine gewisse Art von Anerkennung zu verleihen”. Mit Levinas will sie Foucault als letzten Solipsisten überwinden und kommunitäre Verantwortung denken. Sei jeder sich selbst gegenüber partiell blind, könne er daraus eine „gewisse Geduld gegenüber Anderen gewinnen”. Dezentrierung für sich zu akzeptieren und zugleich anderen zuzugestehen, bleibt jedoch nur rhetorischer Appell. Wie lässt sich aus einer Theorie des schwachen Ich der Gedanke starker Anerkennung gewinnen? Butlers Antwort, dass unsere Inkohärenz „unauslöschlich, aber nicht totalisierend” ist, setzt ein Wissen um Totalität voraus, das sie als Quelle „ethischer Gewalt” verwirft. Mit Foucault das Subjekt als Grundlage der Ethik zu entfernen, um es mit Levinas sogleich wieder als Problem für die Ethik in Szene zu setzen, droht sich in jene Zirkularität zu verstricken, die Adorno als Narzissmus verwarf.
Man muss Butlers bisweilen sehr dunkle Frankfurter Vorlesungen mehrfach lesen, um zu erkennen, wie sie sich verstrickt: Ein verletztes fragiles Ich soll sich dem radikal anderen schutzlos aussetzen und darin moralische Kraft gewinnen. Solche Anerkennung gelingt jedoch nur, wenn der andere Schwäche nicht ausnutzt. Wer könnte dies garantieren? Selbst in der Flucht vor „ethischer Gewalt” kann verletzte Individualität der Gefahr nicht entrinnen, zum Opfer wohlmeinender Moralität zu werden.
FRIEDRICH WILHELM
GRAF
JUDITH BUTLER: Kritik der ethischen Gewalt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 144 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

"Mit einer Eloquenz und einem intellektuellen Zauber, der seinesgleichen sucht", so Rezensent Thomas Assheuer, reagiert Judith Butler in ihrer Frankfurter-Vorlesung "Kritik der ethischen Gewalt" auf den Vorwurf des moralischen Nihilismus. Assheuer hebt hervor, dass es Butler nicht um eine Zertrümmerung der Moral geht, sondern um eine Ethik, "die ihre eigene Gewaltsamkeit reflektiert, die verletzbar ist und dem Einzelnen gerecht wird". Mit Adorno verstehe sie den Konflikt zwischen dem Besonderen des Einzelnen und dem Allgemeinen der moralischen Forderung als Zentralproblem jeder Moraltheorie - Moral könne eine andere Form von Gewalt sein, sofern sie nicht "lebendig" angeeignet werde, erklärt Assheuer. Auf die Frage, warum wir letztlich moralisch sein sollten, antworte Butler: "Weil wir alle verletzlich sind, sind wir allen verpflichtet." Radikal ethisch zu sein, führt Assheuer diesen Gedanken aus, heißt, moralisch zu sein, ohne einer Norm zu folgen.

© Perlentaucher Medien GmbH