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Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert gehörte zu den ersten Büchern, die Peter Suhrkamp 1950 veröffentlichte. Benjamins Kindheitsbuch ist eine der schönsten autobiographischen Schriften des 20. Jahrhunderts und zugleich ein Schlüsseltext der Moderne.
In Prosaminiaturen oder Momentaufnahmen beschreibt Benjamin seine Kindheit im Berlin der Jahrhundertwende, auf das im Rückblick bereits der Schatten des Exils fällt. Benjamin hat von 1932 bis 1938 an der Berliner Kindheit gearbeitet, aber keine der drei Fassungen lag für diese erste Buchfassung vor, die Theodor W. Adorno aus…mehr

Produktbeschreibung
Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert gehörte zu den ersten Büchern, die Peter Suhrkamp 1950 veröffentlichte. Benjamins Kindheitsbuch ist eine der schönsten autobiographischen Schriften des 20. Jahrhunderts und zugleich ein Schlüsseltext der Moderne.

In Prosaminiaturen oder Momentaufnahmen beschreibt Benjamin seine Kindheit im Berlin der Jahrhundertwende, auf das im Rückblick bereits der Schatten des Exils fällt. Benjamin hat von 1932 bis 1938 an der Berliner Kindheit gearbeitet, aber keine der drei Fassungen lag für diese erste Buchfassung vor, die Theodor W. Adorno aus verschiedenen Manuskripten, Typoskripten und Teilabdrucken zusammenstellte. Erst 1981 wurde in der Bibliothèque Nationale in Paris ein Typoskript der 1938 entstandenen Fassung letzter Hand wiedergefunden. Eine weitere, noch später zugänglich gewordene Fassung ist bis heute unveröffentlicht geblieben. Sie erscheint zum Jubiläum des Verlages. Ihr beigegeben sind historische Photographien aus dem Berlin der Jahrhundertwende und Dokumente aus dem Nachlaß Walter Benjamins.
Autorenporträt
Walter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 als erstes von drei Kindern in Berlin geboren und nahm sich 26. September 1940 in Portbou/Spanien das Leben. Benjamins Familie gehörte dem assimilierten Judentum an. Nach dem Abitur 1912 studierte er Philosophie, deutsche Literatur und Psychologie in Freiburg im Breisgau, München und Berlin. 1915 lernte er den fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten Gershom Scholem kennen, mit dem er Zeit seines Lebens befreundet blieb. 1917 heiratete Benjamin Dora Kellner und wurde Vater eines Sohnes, Stefan Rafael (1918 -1972). Die Ehe hielt 13 Jahre. Noch im Jahr der Eheschließung wechselte Benjamin nach Bern, wo er zwei Jahre später mit der Arbeit Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik bei Richard Herbertz promovierte. 1923/24 lernte er in Frankfurt am Main Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer kennen. Der Versuch, sich mit der Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels an der Frankfurter Universität zu habilitieren, scheiterte. Benjamin

wurde nahegelegt, sein Gesuch zurückzuziehen, was er 1925 auch tat. Sein Interesse für den Kommunismus führte Benjamin für mehrere Monate nach Moskau. Zu Beginn der 1930er Jahre verfolgte Benjamin gemeinsam mit Bertolt Brecht publizistische Pläne und arbeitete für den Rundfunk. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang Benjamin, im September 1933 ins Exil zu gehen. Im französischen Nevers wurde Benjamin 1939 für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager interniert. Im September 1940 unternahm er den vergeblichen Versuch, über die Grenze nach Spanien zu gelangen. Um seiner bevorstehenden Auslieferung an Deutschland zu entgehen, nahm er sich das Leben.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Auch wer schon soundsoviele Ausgaben dieses privatesten Benjamin-Textes hat, schreibt Jörg Drews, sollte sich die "Gießener Fassung" zulegen. Im Vergleich mit späteren, "endgültigeren" Versionen sind die von 1932/33 "weicher, labyrinthischer, fast liebevoller", meint der Rezensent. Allerdings bezweifelt er, dass die Beigabe alter Berlinfotos einem Text angemessen ist, der seine Qualität dem "beschwörenden" Wort verdankt. Am Ende seiner Kurzbesprechung geht Drews noch einmal auf den Tod Benjamins im spanischen Grenzort Port Bou ein, den ein anonymer Bericht in den American Jewish Archives in Cincinatti "jetzt erst" aufgeklärt hat: Polizei und Wirt hatten erpresserisch mit der Angst der Flüchtlinge gespielt, und Walter Benjamin sich daraufhin das Leben genommen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2019

Das bucklichte Männlein steht immer am Schluss
Ungedruckt lässt grüßen: In Berlin wurde die textkritische Ausgabe von Walter Benjamins "Berliner Kindheit" vorgestellt

Als Walter Benjamin 1940 auf der Flucht die letzte Fassung seiner "Berliner Kindheit" Georges Bataille zur Verwahrung in der Bibliothèque Nationale anvertraute, war der jahrelange Versuch einer Buchpublikation des literarischen Herzstücks seines Werks endgültig gescheitert. Erst 1981 wurde das Manuskript dort von Giorgio Agamben wieder entdeckt. Seitdem erneuerte sich mit jeder Ausgabe die Frage, was nun "eigentlich" die "Berliner Kindheit" sei. Der Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste ist voll besetzt, als diese Frage wieder einmal im Raum schwebt. Der Ort am Pariser Platz scheint passend, um an den Schriftsteller und Philosophen zu erinnern, der hier geboren und von hier vertrieben wurde, der früh hier seine Gedankenfäden wob und spät, schon als Erwachsener, die Kunst, sich zu verirren, übte.

Auch in den Labyrinthen der Erinnerung. Zu Beginn des Stückes "Tiergarten" heißt es: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. (...) Diese Kunst habe ich spät erlernt."

Zusammen mit der "Berliner Chronik", die der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" vorausging, ist diese nun als Band 11 der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv getragenen textkritischen Edition bei Suhrkamp erschienen. In zwei Halbbänden umfasst die neue Ausgabe alle zwischen 1932 und 1938 entstandenen Fassungen, Entwürfe, Notizen, Einzeldrucke und Dokumente bis zu jener als "Pariser Typoskript" bezeichneten Fassung letzter Hand vom Mai 1938, die eine einschneidende Überarbeitung, vor allem Kürzung der früheren Texte darstellt.

Souverän und anschaulich führte Nadine Werner - mit dem 2015 verstorbenen Burkhardt Lindner Herausgeberin dieses Bandes - durch das Gestrüpp der Editionsgeschichte und ihrer Darstellung, der sich als Novum die digitale Edition der betreffenden Manuskripte anschließt. Alle handschriftlichen Dokumente, welche das Berliner und das Marbacher Archiv aufbewahren, lassen sich nun am Bildschirm einsehen - ein nahezu intimer Blick in die Schreibwerkstatt Benjamins, in die Entstehung von Gedanken und Motiven, ihre Verknüpfung in unterschiedlichen Kontexten, in Akzentverschiebungen, Verweise und Verwerfungen und in immer wieder neu sich erhellende Bedeutungszusammenhänge. Paradox genug, wie erst im technisch fortgeschrittensten Medium die mit Feder und Tinte gewobene winzige, minutiöse Schrift ihres Verfassers zur Lesbarkeit gelangt. Dennoch bleibt bedauerlich, dass man in der Buchausgabe auf die Beigabe von Faksimiles völlig verzichtete.

Alles in allem schwere "Gewichte", schwer an Geschichte und Erfahrung, die doch wie mit leichter Hand an diesem Abend von den Vortragenden - dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, dem Typographen Friedrich Forssman, der Lyrikerin Monika Rinck, dem vorlesenden Schauspieler Christoph Gavenda - geschoben wurden. Mit der Präsentation dieser Ausgabe wurde auch der Schriftsteller Benjamin sichtbar und hörbar, all sein poetisches Potential, das sich mit dem philosophisch-theoretischen durchdringt.

Nur Jan Philipp Reemtsma, intellektueller Mäzen der Edition, setzte mit leiser Ironie Fragezeichen an suggestiv-apodiktische Wendungen des Autors und einzelne Textstellen wie jene zur "Kunst" des Verirrens. Worum aber ging es Benjamin bei dieser gewissermaßen mnemotechnischen Übung, die er schon in der "Berliner Chronik" erwähnt, samt dem Vermerk: "Diese Irrkunst hat mich Paris gelehrt"? Ein Hinweis sei hier nachgereicht. Noch früher, in der "Einbahnstraße", ist zu lesen: "Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen." Um dieses früheste Bild, das die Zukunft berge, so Peter Szondi in einer schönen Erläuterung von 1960, geht es ihm.

Liest man Benjamin, wie längst fällig, auch als Schriftsteller, mit jenem Mehr, das jeder Kunst und Dichtung innewohnt, eröffnen sich neue Räume des Verstehens, auch für seine Geschichtstheorie und die Verbindung dieser Kindheitssuche mit dem "Passagenwerk". Einer Suche im Exil, das Vertreibung aus Land und Kindheit zugleich für ihn war. Bei der auch das "Bucklichte Männlein" aus den alten Wunderhorn-Liedern begegnet, das dem Verfasser immer wieder schicksalhaft den Weg verstellte. Als wollte er das Männlein auch für die Bruchlandschaft seines Werks und Lebens verantwortlich machen, hat Benjamin diesen Text stets ans Ende des geplanten Buches gesetzt. "Jetzt hat es seine Arbeit hinter sich", heißt es in der 1933 noch in der "Frankfurter Zeitung" publizierten Fassung. "Es hat längst abgedankt" wird es 1938 heißen. Aufgestaut in diesem "längst" ist alle bittere Ironie.

Wie das "Passagenwerk", dieser funkelnde Gedanken-Steinbruch, stellt auch die "Berliner Kindheit" sich als Torso dar. Aber ist diese Edition wirklich, wie die Mitherausgeberin meint, die Antwort auf die Frage, was nun die "Berliner Kindheit" sei? Ist Erinnerung je abschließbar? Man kann über all das weiter nachsinnen, dem scheinbar verschollenen Ton dieser Jahrhundert-Recherche nachlauschen, sich in dem Dickicht des Überlieferten vielleicht so glücklich verirren, um auf Funde zu stoßen gleich jenem "Bratapfel" (ein hier erstmals publizierter Text), den die Ofenröhre dem kleinen Walter als Trost fürs frühe Aufstehen im Winter bereithielt.

MARLEEN STOESSEL

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