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Peter Sloterdijk ist erwiesenermaßen ein Schriftsteller von hohem Rang. Was nicht jedermann vertraut ist: Er ist ein brillanter Rhetor. Seine in diesem Band gedruckten Vorträge entstanden zwischen 2005 und 2014 und thematisieren, aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Anlässen, welche Lasten, welche Lehren, welche Hoffnungen das 20. dem folgenden Jahrhundert vermacht hat.
Kein einzelner Begriff, kein einprägsamer Slogan, von "Atomzeitalter" bis "Globalisierung", beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage - Was geschah im 20. Jahrhundert?. Eine reine Ereignis- oder
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Produktbeschreibung
Peter Sloterdijk ist erwiesenermaßen ein Schriftsteller von hohem Rang. Was nicht jedermann vertraut ist: Er ist ein brillanter Rhetor. Seine in diesem Band gedruckten Vorträge entstanden zwischen 2005 und 2014 und thematisieren, aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Anlässen, welche Lasten, welche Lehren, welche Hoffnungen das 20. dem folgenden Jahrhundert vermacht hat.

Kein einzelner Begriff, kein einprägsamer Slogan, von "Atomzeitalter" bis "Globalisierung", beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage - Was geschah im 20. Jahrhundert?. Eine reine Ereignis- oder Ideengeschichte kann die Bedeutung dieses Jahrhunderts für die Nachwelt ebenfalls nicht erfassen. Deshalb, so die These von Peter Sloterdijk, sind völlig neue Vorgehensweisen auf allen Feldern notwendig, von der Ökonomie bis zur Philosophie. Und dabei kommt, nicht ohne Sloterdijks Ironie und Metaphernkunst, dem Schatz eine zentrale Stellung zu: Diesen Schatz, also die Natur, die Heimat, das Raumschiff Erde, gilt es zu bewahren gegen die extremistische Vernunft, die das vergangene Jahrhundert prägte. Als explizite Botschaft formuliert: "Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht."
Autorenporträt
Sloterdijk, Peter
Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag

publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman Der Zauberbaum vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2016

Kritik der prophetischen Vernunft

Das Erdenbürgertum muss die Sonne neu interpretieren: Peter Sloterdijk blickt zurück auf das zwanzigste Jahrhundert - und nach vorn auf die nächsten Weltalter.

Der Titel von Peter Sloterdijks neuem Buch weckt die Erwartung einer übergreifenden Deutung des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Essays und Vorträge, die der Band versammelt, sind jedoch eher eine kreisende Sammlung von idiosynkratisch-philosophischen Gedanken über Mensch und Umwelt mit Blick auf die Zukunft. Wie man es von Peter Sloterdijk gewohnt ist, sprudeln die Metaphern und Neologismen, und sie verbinden sich mit unkonventionellen Assoziationen, überraschenden Analogien und originellen Perspektiven.

Dabei geht es um nicht weniger als "Weltalter" und "Gigantenkämpfe" im einundzwanzigsten Jahrhundert, dem recht eindeutige Prognosen gestellt werden: ein aus aktueller Beobachtung vielleicht schlüssiger, in langer Perspektive freilich weniger eindeutiger Übergang vom Weltalter der "Gesellschaft der dichten Container" zu Gesellschaften der schwachen Grenzen und durchlässigen Außenhäute oder auch eine kurzfristig negative, längerfristig jedoch positive Entwicklung der Selbstdomestikation der Menschheit. Dem erfahrungsbedingt vorsichtigen Historiker ringt das ebenso viel Bewunderung wie Skepsis ab, zumal die empirischen Belege - etwa: "nach Auskünften von Institutionen für strategische Forschung" - gegenüber der mit großer Geste geschöpften Erkenntnis eher vage ausfallen.

Aber das sind womöglich Historikerkleinlichkeiten gegenüber dem großen Ganzen. Was geschah nun also im zwanzigsten Jahrhundert? Als Hauptereignis benennt Sloterdijk die "Wahrmachung des alchemistischen Traums". Anknüpfend an eine bis zum Beginn der europäischen Überseefahrten zurückreichende Tradition habe sich ein Umschwung vom Streben nach Erlösung zur Suche nach Erleichterung vollzogen. Mit der Dampfmaschine löste die moderne Technik Kraft von Körperanstrengung, Motoren wurden zu Agenten der Entlastung.

Das "Technozän" führte einen Paradigmenwechsel von der Knappheit zum Überschuss herbei. Die Konsumgesellschaft, die sich seit den zwanziger Jahren in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa etablierte, frönte dem Prinzip der Verschwendung. Das hatte zwei Folgen, die für Sloterdijk zu einer neuerlichen "Umwertung aller Werte" im einundzwanzigsten Jahrhundert führen.

Die erste Folge lag in der "Ausbeutungsverschiebung auf ein neues Unten": massenhaft erzeugte und verwertete Nutztiere. Dass sich in dieser Hinsicht eine Umwertung anbahnt, indem die Menschenrechtsbewegung auch auf Tiere ausgeweitet wird, deutet sich in der Tat an. Die zweite Konsequenz des "Technozäns" lag im Übergang zu fossilen Energien. Kohle und Öl waren "der wirkliche Agent des Prinzips Sofort". Die Umwertung werde hier dazu führen, dass die "Romantik der Explosion", an der sich das industrielle Maschinenzeitalter ergötzte, als "Ausdruckswelt eines massenkulturell globalisierten energetischen Faschismus" erscheinen wird. Demgegenüber könnten eine "postkapitalistische Weltform und eine entsprechende Ethik" nur "von einer neuen Interpretation der Sonne ausgehen".

Wenn Sloterdijk eine "hybride Synthese aus technischem Avantgardismus und ökokonservativer Mäßigung" prognostiziert, dann überwölbt dieser große Entwurf die aktuellen Auseinandersetzungen über Klimapolitik und die Zukunft des Kapitalismus, in denen die unterschiedlichen Komponenten einstweilen freilich nicht so einfach und harmonisch zusammenpassen. Zu Recht weist Sloterdijk darauf hin, dass der Begriff des "Anthropozäns", den der niederländische Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen 2000 aufbrachte, gerne im hohen Ton apokalyptischer Warnungen und des Rufs nach Umkehr verwendet wird.

Ein Beispiel dafür ist der "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation", den der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltfragen (WBGU) im Jahr 2011 unterbreitete und dem es um nicht weniger als tiefgreifende weltweite Änderungen von Infrastrukturen und Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen sowie um einen "zivilisatorischen Quantensprung" mit dem Ziel einer "gerechten neuen Weltordnung" geht.

Dem scheint Sloterdijk zu entsprechen, wenn er für die Idee eines "neu zu gründenden politischen Verhältnisses namens ,Erdenbürgertum'" plädiert. Andererseits spricht er von "meteorologischem Sozialismus" und einer bevorstehenden "Titanomachie", an deren Ende sich die Menschen nach "Rettung vor den Rettern" sehnen könnten. Zu Recht mahnt Sloterdijk die "Kritik der prophetischen Vernunft" an. Denn während vieles für die schwerwiegende Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel spricht, sind in diesem Diskurs zugleich langlebige Muster erkennbar.

Er schreibt das alte Narrativ fort, dass der Mensch durch sein Handeln die Welt ins Unheil stürze. Eine Aussage als Topos zu identifizieren bedeutet nicht, dass sie falsch ist. Aber es stellt sie in eine historische Perspektive, und in dieser zeigt sich, dass apokalyptische Mahnungen zur Umkehr sich immer wieder mit der autoritären Versuchung verbunden haben, die volonté generale zu bestimmen.

Solcher "Anmaßung von Wissen" hat Friedrich-August von Hayek den "Markt als Entdeckungsverfahren" gegenübergestellt. In diesem Sinne bringt auch Sloterdijk die noch unentdeckten Möglichkeiten der Technik, die "Fortführung natürlicher Produktionsprinzipien auf artifizieller Ebene" ins Spiel. Doch beide Positionen, piecemeal engineering und Große Transformation, qualitatives Wachstum und Umkehr des Kapitalismus, gehen einstweilen nicht zusammen.

Sloterdijks Entwurf einer zukünftigen Synthese ist groß dimensioniert, einstweilen aber entfernt von den Realitäten der aktuellen Debatte. Zugleich besagt die historische Erfahrung, nicht zuletzt des zwanzigsten Jahrhunderts, dass die Zukunft in doppelter Weise anders sein wird: anders als die Gegenwart und anders als erwartet.

ANDREAS RÖDDER

Peter Sloterdijk:

"Was geschah im

20. Jahrhundert?"

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 348 S., geb., 26,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Nach Lektüre dieser Sammlung verstreuter, teils "brillanter" Schriften lässt sich Peter Sloterdijk nicht mehr so ohne weiteres in neurechten Fraktionen verorten, wie dies vor kurzem nach seinem umstrittenen Cicero-Interview geschehen ist, schreibt Rezensent Ingo Arend, der den Befund "Verdacht auf philosophisch-publizistische Schizophrenie" äußert. Schließlich formuliere Sloterdijk hier mitunter (wenn auch nicht durchweg) deutlich sensibler, politisch weit weniger anrüchig und präziser seine Analysen der Gegenwart, die sich nach Ansicht des Kritikers auch mit weniger für Turbulenzen sorgenden Überzeugungen in Einklang bringen lassen. Dem Philosophen selbst rät der Kritiker unterdessen, vor dem nächsten, überschäumenden Lob auf Grenzen und Zäune doch einfach bei sich selber nachzulesen: Insbesondere in der Raumfahrt sehe Sloterdijk selbst schließlich das Potenzial zum "Weltgewissen", gibt Arend an die Adresse des Autors zu denken.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2016

Odyssee im Weltraum
Kühl und panisch: Peter Sloterdijk erklärt, was im 20. Jahrhundert
geschah und in welchem Zeitalter wir jetzt leben
VON GUSTAV SEIBT
Ja, was geschah denn nun im 20. Jahrhundert? Wenn ein Philosoph diese Frage stellt, dann erwartet man Auskünfte über Geschehnisse, die die Natur des Menschen berühren, über Ereignisse zwischen Ursprung und Ziel der Geschichte. Es gibt Kandidaten dafür, die Relativitätstheorie, die sexuelle Befreiung, die Russische Revolution, den Holocaust, die Atombombe, die Mondlandung, den Fall der Mauer. Sie und einige mehr haben ihre Deutungen gefunden unter Titeln wie „Verlust der Mitte“, „Antiquiertheit des Menschen“, „Zivilisationsbruch“, „Ende einer Illusion“ oder „Ende der Geschichte“. Alle diese Fakten und Diagnosen werden in Peter Sloterdijks Aufsatzsammlung direkt oder indirekt diskutiert, aber er legt den Hauptakzent auf eine ganz andere Stelle.
  Das „wirkliche Novum des 20. Jahrhunderts“, erklärt der Philosoph, sei „die Konstruktion des westlichen Systems der Lebensentlastung auf der Basis des extensiven Steuerstaats und der fossilenergetisch fundierten Zivilisation des Massenkomforts“. Der ungeheuer gesteigerte Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, der durch die Industrielle Revolution, das Maschinenwesen und vor allem das abrupte Verbrennen der in Kohle und Öl seit Jahrmillionen gespeicherten Sonnenenergie befeuert wurde, habe zu einer „Leidenschaft der Antigravitation“ geführt, zur Entlastung von aller Schwere des Daseins, zur Befreiung von den „Galeeren des Mangels, der Not, der Ressourcenknappheit, der Gewalt, des Verbrechens“, an die noch die klassischen Theorien der Moderne die Menschheit hatten schmieden wollen.
  Erleichterung, materielle Befreiung, Konsum und Genuss statt Arbeit; dazu staatliche Systeme der Sicherung und Daseinsvorsorge, die Freiräume für Expressionen und Selbstentäußerungen jeder Art schaffen: Sloterdijk gibt sich alle Mühe, den sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierenden Zustand des reichen Teils der Welt in eine nicht-triviale, geschichtsphilosophische Perspektive zu rücken. Seine Richtgröße ist dabei, in starkem Kontrast zu hegelianischen Formen der Geschichtsphilosophie, die „Einbeziehung der Naturgeschichte in die Humangeschichte“, für die er übrigens schon Boccaccios Erzählungen im Schatten der Pest in Anspruch nimmt.
  Geistesgeschichtlich erinnert das an Herder, man mag es auch als Überbietung des Marxismus lesen, ein wichtiger jüngerer Gewährsmann ist für Sloterdijk der ökologische Historiker und Kulturkritiker Rolf-Peter Sieferle. Sieferle machte vor der Jahrtausendwende mit ehrgeizigen universalhistorischen und zugleich kulturkritischen Entwürfen auf sich aufmerksam („Epochenwende“ von 1994 und vor allem „Rückblick auf die Natur“ von 1997), jüngst war er etwas in Vergessenheit geraten. Sieferle hat das Thema des „Naturhaushalts“ für die deutsche Geschichtswissenschaft eigentlich erst entdeckt. Zu diesem Griff in die Bibliothek kann man Sloterdijk nur gratulieren.
  An die Stelle der Ausbeutung des Menschen und seiner zwangsläufig begrenzten Arbeitskraft tritt als durchaus anthropologisch einschneidende Novität die systematische, listenreiche, maschinengestützte Ausbeutung der Natur, deren innerste Gesetze in menschliche Regie genommen werden, bis zur Übernahme evolutionsbiologischer Verantwortung durch die Gentechnik oder auch in der Steuerung des „Raumschiffs Erde“, für dessen Klima nun der Mensch hauptverantwortlich zeichnet. Die eigentlich unterdrückte Klasse dieser neuen Welt ist die in industrielle Verwertung genommene, milliardenfach gemordete Tierheit.
  Die Begriffsbögen, die Sloterdijk hier spannen kann, sind gewohnt atemberaubend: Im „Anthropozän“, der vom Menschen dominierten Phase der Erdgeschichte, die in die Tradition archaischer Weltalterlehren eingeordnet wird, ist „Globalisierung“ nicht einfach nur eine Steigerung des Weltverkehrs, sondern auch ein theoretischer Zustand, der vom Innewerden der Kugelgestalt des Planeten in Globen und Weltumsegelungen um 1500 ausgeht und im Blick der Astronauten auf die Erde einen realphilosophischen Gipfelpunkt findet. Ein Klang von „Odyssee im Weltraum“ samt wiegender Walzerrhythmen strömt durch Sloterdijks oral unersättliche Metaphernmusik. Wir werden sogar mit einer „Philosophie der Raumstation“ beschenkt.
  Die alte Schwere der vormodernen Überlieferungen kommt in den schönsten Texten des Sammelbands wie mit Abschiedsblicken zur Ansicht. Dazu zählt die sich auf die Odyssee berufende Vorgeschichte der List und der Täuschung – Vorlauf der Antigravitation –, und eine nachdenkliche, ruhig und besonders schön geschriebene Betrachtung zu Heideggers fataler Politik, die Sloterdijk als Ausbrechen aus der idiosynkratischen Erfahrung des Endes der Geschichte als Langeweile und existenzielle Leere begreift. Vor allem aber kehrt die doch nur halb überwundene vormoderne Schwere zurück in der Frage, ob nach der Domestikation des Menschen in Zivilisationen die Zähmung der Zivilisationen möglich sei.
  Die alten Völker und Nationen mit ihren harten, gewaltsam und heroisch verteidigten Außengrenzen mussten, etwa mit den Mitteln von Abschreckung, Diplomatie und Völkerrecht, mühsam zu interdependenten Systemen koordiniert werden; das „wilde Tier Kultur“, die kämpfenden Weltkulturen Samuel Huntingtons, haben diese Zähmung noch vor sich. In auffälligem Kontrast zu seinen jüngsten gereizten Beiträgen zur Flüchtlingskrise sieht Sloterdijk die heraufziehende Epoche der Migrationen mit einem gewissen Fatalismus, als Rückschwung zur europäischen Welteroberung. Allerdings verkneift er sich nicht das Vokabular einer demografischen Panik, wenn er von den „verwilderten Kampffortpflanzungen, wie man sie seit längerem in arabischen Ländern beobachtet“, spricht.
  So weltallkühl vieles in dieser zuweilen arg überschmückten Prosa daherkommt, der Ausblick bleibt brennend: „Aller Voraussicht nach wird die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts an die Exzesse des 20. erinnern.“ Die Wette aufs Abheben von der Natur ist ja noch nicht gewonnen: Weder ist ein Energie- und Atmosphäre-Kollaps ausgeschlossen noch die finale Selbstzerstörung des Menschen mit Hilfe entfesselter Waffentechnik. Die Übertragung des westlichen Entlastungsmodells, das derzeit Migranten aus aller Welt ansteuern, auf deren Heimatländer bleibt ein technisch, sozial und politisch völlig offener Prozess. Vielleicht war die große Erleichterung unserer westlichen Weltstunde nie ein Ziel, sondern nur ein vorübergehender Moment der Geschichte.
  Zuletzt eine stilistische Anmerkung: Einem genial verspielten Riesenkind wie Sloterdijk soll man selbstverständlich keine Vorschriften machen. Und wer sich über tanzende Metaphern beschwert, sollte nicht so tun, als verstünde er nicht, was gemeint ist. Nur, ein paar Pointen gebraucht Sloterdijk einfach zu oft. Dazu zählen Griffe ins Klavier mit den folgenden Titeltransformationen: „Prinzip xy“, „Kritik der yz-Vernunft“ und „Geburt von xx aus dem Geiste von zz“.
Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert? Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 348 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Die unterdrückte Klasse dieser
neuen Welt ist die Tierheit
Ein paar Pointen und Metaphern
bringt Sloterdijk einfach zu oft
„Der Denker im Spukschloss“ heißt ein Aufsatz in seinem neuen Buch: Peter Sloterdijk beim Suhrkamp-Empfang während der Frankfurter Buchmesse 2015.
Foto: Regina Schmeken
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"Es fühlt sich an, als würde man auf Netflix die Gladiatorenserie Spartacus gucken ... oder Breaking Bad, die ausufernde Saga eines genialen Gedankengiftmischers. Denn Sloterdijk ist ein meisterhafter Alchimist des Geistes ... Er destilliert die Geistesgeschichte neu, in einer Art philosophischen Zentrifuge."
Jan Küveler, Welt am Sonntag 06.03.2016