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Was treibt die Menschheit voran? Entwickelt sie sich von Niederem zu Höherem? Orientiert sich Fortschritt an Lehren aus der Geschichte? Ist Geschichte als Progression der und in der Freiheit zu begreifen? Solche überkommenen Fragen und die korrespondierenden unpassenden Antworten blenden den Übergang von einer Generation zur nächsten aus, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr gefährdet ist. Mit dem Gelingen oder Scheitern dieses Übergangsstadiums, in welchem teilweise kriegerische und mörderische, teilweise die Population ganzer Kontinente auslöschende Szenarien dominieren, steht der…mehr

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Produktbeschreibung
Was treibt die Menschheit voran? Entwickelt sie sich von Niederem zu Höherem? Orientiert sich Fortschritt an Lehren aus der Geschichte? Ist Geschichte als Progression der und in der Freiheit zu begreifen?
Solche überkommenen Fragen und die korrespondierenden unpassenden Antworten blenden den Übergang von einer Generation zur nächsten aus, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr gefährdet ist.
Mit dem Gelingen oder Scheitern dieses Übergangsstadiums, in welchem teilweise kriegerische und mörderische, teilweise die Population ganzer Kontinente auslöschende Szenarien dominieren, steht der Fortbestand der uns bekannten Zivilisation auf dem Spiel. Deshalb ist dieses Buch von Peter Sloterdijk eines von der äußerst pessimistischen Sorte: ein Schwarzbuch über kommende Generationen.
Denn da in der Moderne die Traditionsfäden chronisch reißen und immerfort neue Vektoren den Zug in Kommende bestimmen, wandeln sich die Individuen zu "Kindern ihrer Zeit", Nachkommen "schlagen aus der Art". Da moderne Elterngenerationen selbst meist schon zivilisatorisch labil antreten, gerät die Formung ihres Nachwuchses zu einem unbeendbaren Match zwischen potentiell schrecklichen Eltern und potentiell schrecklichen Kindern.
Autorenporträt
Sloterdijk, Peter
Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman Der Zauberbaum vor. Seit 2001 ist Sloterdijk in Nachfolge von Heinrich Klotz Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe sowie dort Professor für Philosophie und Ästhetik.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Peter Sloterdijks Buch hat es in sich, meint Rezensent Martin Meyer. Das ist durchaus als Lob gemeint, erhält der Rezensent vom Autor doch eine Fülle von "Großgedanken", Fußnoten und Ironien im Rahmen von Sloterdijks historischer Anthropologie und zur Frage, was die Moderne befeuerte und was uns das kostet. Dass der Autor nicht nur Negatives auffährt, sondern in seinem Traktat auch das Kreative und Innovative unserer Geschichte herausstreicht, beruhigt den Rezensenten. Im Ganzen jedoch muss er mit Sloterdijk erkennen, dass die dynamische Weltzeit, der "Sturz nach vorn", den der Autor an Bewegungen und Figuren (wie Napoleon) festmacht, neben Triumphen vor allem Untergänge gezeitigt hat.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2014

Macht mal langsam, Kinder!

Wie verknüpft man eine gute Henkergeschichte mit Dada und dem Ende der Golddeckung? Gar kein Problem für den virtuosen philosophischen Erzähler Peter Sloterdijk. In seinem neuen Buch geht es um die Bodenlosigkeit der Moderne.

Er kam aus dem Nichts. Als Peter Sloterdijk in den frühen achtziger Jahren mit seiner "Kritik der zynischen Vernunft" die öffentliche Bühne betrat, war er ein homo novus. Eine neue Stimme am bundesrepublikanischen Philosophenhimmel, die aus allen theoretischen Filiationen ausgebrochen schien. Kein theoretischer Übervater beschirmte seine Schriften. Müßig schien es, Sloterdijk auf eine akademische Abstammung festzulegen. Er war eine originäre philosophische Potenz - herausgewachsen aus der psycho-marxistischen Konkursmasse der Studentenrevolte, die der Bhagwan-Jünger in den späten siebziger Jahren mit "meditativen Energien" erweitert hatte. Mit seinem unbefangenen Zugriff auf Giftschrank-Autoren wie Nietzsche und Heidegger emanzipierte er sich gleich vom linken politischen Lektürekanon. Die Lust am Fabulieren, der überschäumende Stil, der von aller postmodernen Blässe ungetrübte Mut zu großen Erzählungen - all das brach mit der Askese und Nüchternheit, mit der in jenen Jahren auf den großen Theoriebaustellen in Bielefeld und Frankfurt gewerkelt wurde.

Sloterdijk vertraute dabei von Anfang dem Ingenium seiner Ausdruckskraft. So gelten seine Bücher bis heute in der akademischen Zunft als intellektuelle Bastarde. Dagegen strahlt der Stern dieses philosophischen Selfmademan in der publizistischen Sphäre heller denn je. Jedes Buch eine zeitdiagnostische Kristallkugel, aus der das Karlsruher Orakel zu uns spricht. Und auch die eigentümliche Gedankenmusik seines neuen Buches über "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" zieht in den Bann, auch wenn es im Nachhinein schwerfällt, zu rekonstruieren, welcher intellektuellen Partitur man da eigentlich gerade gelauscht hat.

Mit seinen "schrecklichen Kindern" erzählt uns dieses Mal Sloterdijk nicht weniger als das alte Märchen von der Geburt der modernen Welt neu. Der Plot ist vertraut - die Moderne als dynamisches Zeitalter der Entwertung alles Bestehenden, der Zukunft ohne Herkunft, der ständigen Bewegung, Usurpation und Mobilmachung. Nur die Agenten in diesem Spiel hat der Philosoph ausgetauscht. Es sind nicht soziale Kräftegruppen, auch nicht ideenhistorische Leuchtfeuer wie Aufklärung oder Romantik, die die überlieferte, hierarchische Welt zum Einsturz bringen - sondern die menschlichen "Erbverlegenheiten" samt ihren "Korruptionseffekten". Die schrecklichen Kinder - das sind im patriarchalischen Gestus dieses Buches vor allem die nach vorne preschenden Söhne, die aus der Art schlagen, auf die Erfahrungen der Väter pfeifen. Oder sich wie Jesus, das "schrecklichste Kind der Weltgeschichte", eigene heilige Väter imaginieren. Sie sind die "Agenten der Losreißung", die eigentlichen Unruhestifter und Bastarde der modernen Welt. "In der Ära ,nach Christus' ist keinem Menschen das Recht abzusprechen, sein Leben als Bastard Gottes zu führen."

Sloterdijks Anspruch ist gewaltig. Es ist für ihn der "Basisfehler der westlichen Moderne", die genealogische Fragestellung zugunsten der sozialen Frage in den Hintergrund gedrängt zu haben. Nicht weniger als die Umcodierung der Kulturtheorie schwebt ihm vor. "Zögernd machen sich die aktuellen Kulturwissenschaften bewusst, dass scheinbar zu Ende gedachte Grundbegriffe wie Generation, Filiation und Erbe von ihr noch nie mit dem Ernst durchdrungen wurden, den die Abgründigkeit der Sache verlangt."

Sloterdijk ist einem dunklen zivilisationsdynamischen Geheimnis auf der Spur - dem Verlust des Erbes und der Sukzession nach altväterlicher Sitte - und durchpflügt dazu die abendländische Kulturgeschichte. Es ist ein imposantes Panorama, das er sich abgesteckt hat - von den "Monstren-Zeugungen" in mythischen Geschichten über die Erbsünde bis zur kreditfinanzierten Volkswirtschaft, von Augustin bis Gabor Steingart. Überall findet er seine Belegstellen für den "Drift ins Bodenlose", für eine Zeitstimmung, die Nietzsche zuerst zum Ausdruck gebracht hat: "Stürzen wir nicht fortwährend?" Es sind solche düsteren Worte, die wie der besorgte Ausspruch der Mutter Napoleons ("Wenn das nur gutgeht auf Dauer") oder das Bonmot der Madame de Pompadour aus dem Endspiel der Aristokratie für Sloterdijk eine überhistorische zeitdiagnostische Evidenz beanspruchen: "Nach uns die Sintflut!"

In historischen Miniaturen lässt Sloterdijk in einem Kapitel seines Buches zwanglos aufeinanderfolgen: eine von Balzac übernommene Pariser Henkergeschichte aus der Zeit des terreur, Napoleons Selbstermächtigung als "Sohn seiner Taten", die von Sinn befreiten dadaistischen Lautgedichte des Café Voltaire aus dem Ersten Weltkrieg, Berichte über die leninistische Mobilmachung und stalinistische Schauprozesse, Himmlers Züchtungs-"Ethik" in seiner Posener Rede und die Aufhebung der Golddeckung der Währungen im "Techno-Kreditismus" nach Bretton Woods.

Sosehr Sloterdijk auch mit der patriarchalischen Welt flirtet, in der das Erben noch geholfen hat - mit dem konservativen Denkstil, historische Singularitäten in ihrem Eigenrecht zu belassen und nicht zum assoziativen Spielball spekulativer Entwürfe verkommen zu lassen, scheint er wenig anfangen zu können. Von Sokrates über Jesus bis zu Lehman Brothers sieht Sloterdijk das antigenealogische Verhängnis der Moderne wirken. Alles fügt sich unter der Hand dieses begnadeten Geschichtenerzählers zur "Bastardenlogik". Dabei stürzt er fortwährend in seinen Geschichten zu einem Bonmot oder einer überraschenden Volte, so dass man sich stets bestens unterhalten fühlt, auch wenn man gerade an seiner Hand durch die Höllenkreise des 20. Jahrhunderts flaniert. Was den Originalitätsvirtuosen Sloterdijk mit den "schrecklichen Kindern" verbindet, sind der Wunsch und der Wahn, mit der Erbschaft des alten Denkens aufzuräumen.

STEPHAN SCHLAK

Peter Sloterdijk: "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit". Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 489 S., geb., 26,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.07.2014

Die beredte Mulmigkeit dieser Jahre
Wenn das mal gut geht: Peter Sloterdijks Menschheitsdiagnose „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“
Die erste handgreifliche Freiheitsbeweis im Leben des Einzelnen ist die Möglichkeit, etwas anderes zu tun als Eltern oder Erzieher vorschreiben. Die Möglichkeit dazu unterscheidet den Menschen vom Tier. Tiere pflanzen sich fort in rollierenden Populationen, die im Wesentlichen auf immer gleiche Weise existieren, gelegentliche Anpassungen und spontane Mutationen eingerechnet. Die Menschen sind Lebewesen, die sich von Generation zu Generation zu neuen Formen von Vergemeinschaftung, Glauben, Kultur, Wirtschaft weiterbewegen können, bei denen die Söhne mit den Bräuchen der Väter brechen können. Früher war das „Sünde“, heute nennt man es „Innovation“.
  Wenn man es so ins Biologisch-Familiäre wendet, kann man die „Generation“ zum anthropologischen Existenzial, zur Grundeinheit von Geschichtlichkeit und historischer Zeit erklären. So hält es Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch, das noch mehr bringt als der Titel verspricht: nicht nur eine Bestandsaufnahme der Neuzeit, sondern eine Übersicht zur intergenerationellen, bio-psychologischen Geschichte des Abendlands von der Vertreibung aus dem Paradies bis zur Vorstellung von seitwärts wuchernden „Rhizomen“ in elternlosen, familienfernen Gesellschaftskonzepten der Postmoderne.
  Es ist gewissermaßen selbstverständlich, dass die altlinke Orthodoxie-Verwaltung mit ihrer fruchtlos wortklaubenden Gereiztheit darauf reagiert, während süchtige Sloterdijk-Leser sich dem Metaphernrausch einfach überlassen. Und so schwanken die ersten Reaktionen zwischen summarischem Nachbeten und dem blanken Hass, den der Rezensent der taz ausagierte. Dabei sollte die philosophische Fruchtbarkeit von bildhaft-präziser Sprache in einer Literatur, die Herder und Nietzsche kennt, keiner Verteidigung bedürfen. Das Schöne ist auch hier: Sloterdijks Ironien sind allseitig, sie richten sich gegen die Denkzumutungen der Theologie ebenso wie gegen die Monstrositäten geschichtsphilosophischer Beglückung. Dank dieser Freiheit im Schreiben kommt Peter Sloterdijk der augenblicklichen Verunsicherung so nah wie sonst kein anderer Philosoph.
  Wortcluster, die von der Anthropologie zur Geschichte, von der Biologie zu Religion und Psychologie reichen, sind im Sloterdijk-Land geläufig: Fragestellungen bleiben übergreifend-schwebend, die Lektüre von Grunddokumenten der Geistesgeschichte zwischen dem Alten Testament und den „Milles Plateaus“ der Franzosen Deleuze und Guattari wechselt absichtsvoll zwischen Anamnese, Ursachenforschung, Symptomdiagnose und Ideengeschichte.
  Kulturen sind für Sloterdijk Muster, die von Generation zu Generation weiterkopiert und übertragen werden können, was mehr oder weniger häufig, mehr oder weniger erfolgreich gelingt. Prä-neolithische Opferriten konnten über zehntausend Jahre, etwa 400 Generationen lang, konstant gehalten werden, entnimmt der Philosoph der Archäologie; das konstitutive Ritual der abendländisch-europäisch-amerikanischen Zivilisation, das Herrenmahl in der Eucharistie, habe dagegen bisher erst knapp achtzig „Wiederholungen“ erreicht, immerhin etwas mehr als die Hälfte der 150 Generationen, die uns von den altorientalischen Hochkulturen trennen, deren Schriften und Texte wir heute noch entziffern können.
  Damit ist der Bogen gespannt, an dessen Ende die „schrecklichen Kinder der Neuzeit“ welthistorisch spät und weltkulturell einzigartig aus der Kette der meist patriarchalisch bestimmten, von strenger Sitte bestimmten Kette der Wiederholungen ausbrechen, hin zu allem, was man „Moderne“ nennt: Verzeitlichung, Individualisierung, Emanzipation, nicht-traditionale Legitimität, kulturelle Bastardisierung und wie die Begriffe sonst lauten. Sloterdijks Stil ist gewohnt abundant; unter einer Kuppel von schimmernden Aphorismenmosaiken erklingt das trockene Sperrfeuer der Pointen, die erzählerische Ausgestaltung ist von einem fernöstlich anmutenden Figurenreichtum, mit großen Hauptgestalten wie Adam und Eva, Aeneas, Jesus Christus, dem Heiligen Franz, unehelichen Condottieri und Universalkünstlern der Renaissance, Madame Pompadour, Napoleon, Stalin, Himmler.
  Das darf über die gute Überschaubarkeit des Grundrisses nicht hinwegtäuschen. Wer einen raschen Überblick sucht, springe vom Einleitungskapitel gleich in die Mitte zum Abschnitt über Jesus. Den Beginn markiert die aus dem biblischen Sündenfall entwickelte Theologie der Erbsünde, die alle Generationen auf eine sich immer wiederholende Verfehlung, zugleich auf archaische Gottesfurcht festnageln will. Jesus aber, der Muttersohn, der sich seinen göttlichen Vater selbst sucht und in Sloterdijks durchweg überzeugender Röntgenlektüre der Evangelien als Verächter des familiären Sippenverbands enttarnt wird, erweist sich als eigentlicher Startgeber eines Individualismus, der allein auf persönliche Nachfolge setzt. Nur mühsam konnte diese abrupte Selbstsetzung in der „klerikokratischen Gegenrevolution“ der spätantiken Bischofskirche zu einer übergreifenden Organisation meist eheloser Männer kanalisiert werden. Franziskus und Luther erneuerten auf ihre Weise ein gemeinschaftssprengendes Verhältnis des Einzelnen „unmittelbar zu Gott“, das zum religiösen Treibstoff moderner Traditionsaufhebungen werden konnte.
  Im „Hiatus“ (Sloterdijks Lieblingsvokabel in diesem Buch) zwischen den sich entkoppelnden Generationen entstehen sich jeweils steigernde Problemüberschüsse und Erwartungen, die zu einem permanenten Vorwärtsstürzen – einst „Fortschritt“ genannt – führen, bis am Ende nicht einmal die einst so legitimen Formen von staatlicher Herrschaft mehr sicher bleiben können, von Geldwert und Kredit in der innovations- und kreditbasierten kapitalistischen Wirtschaftsweise ganz zu schweigen. Sloterdijk spart nicht mit dramatischen Bildern, er überholt den längst gewohnten „Umbau des Schiffes auf hoher See“ durch einen Flug ohne Aussicht auf Landung. Die Mulmigkeit der Jahre seit der Finanzkrise ist hier philosophisch beredt geworden. Das aktuelle „Fahren auf Sicht“, wie das Rezept der Bundeskanzlerin lautet, wird zu verbalen Stunts nahe am Abgrund gesteigert.
  Der schriftstellerische Höhepunkt liegt in der ersten Hälfte des Buches, bei ausgewählten „Lecons d’histoire“ der letzten 200 Jahre, grausigen Zeitbildern aus der Epoche der Revolutionen und totalitären Regime. Sie zeigen die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahr 1793, Napoleons Kaiserkrönung 1804, den Dadaismus von 1916, der Liquidierung der Zarenfamilie 1918, Stalins Säuberungen, Himmlers Posener Rede und die Verselbstständigung der Finanzindustrie – alles „Iterationen“ von Machtergreifungen, die keine Nachfolge, gar dauernde Legitimität mehr gründen können. Nichts ist hier im Einzelnen neu, aber Sloterdijks Empfindlichkeit für sachliche und moralische Enthemmungen feiert flackernde Triumphe der Darstellungskunst.
  Sie wird am Ende eingeholt durch eine gebührend spöttische Bestandsaufnahme der von kinderarmen Verbraucher-Egos bevölkerten, von der Hegemonie der Gleichzeitigkeit bestimmten, zentrumslosen Weltnetzgesellschaft der Gegenwart. Dass nebenbei auch eine Motivgeschichte von Vaterlosigkeit, von pädagogischen Ersatzfamilien, Bastarden und Genies aus Geschichte und Kunst, Cola di Rienzo, Elisabeth I., Hamlet, Lear oder Leonardo da Vinci, entsteht, sei dankbar verbucht, auch wenn dadurch die Überlegungen nur noch variiert, nicht aber vermehrt werden können.
  Ein Buch, das so weit ausgreift und so vieles aufgreift, muss wohl eine gewisse Dehnbarkeit seiner Hauptkategorien in Kauf nehmen. Dass „Generationen“ als relative Einheiten nur Konstrukte sein können – Werden und Vergehen der menschlichen Populationen erfolgen genauso kontinuierlich wie die aller Säugetiere und nicht saisonal gestaffelt wie beispielsweise bei Insektenvölkern oder Fischen – weiß Sloterdijk natürlich. Die Soziologie hat Generationen als Ereignisgemeinschaften beschrieben, was die Sache im großen Maßstab doch entweder widersprüchlich oder zirkelschlüssig macht: Bloße Wiederholungen des Althergebrachten können eigentlich keine Generationen konstituieren, und Generationen, die sich in historischen Brüchen bilden, verlieren ihren biologisch-stammesgeschichtlichen Zuschnitt.
  Die Mittelstellung zwischen Geschichte und Biologie, die Sloterdijk dem Generationenbegriff zumutet, ist, vorsichtig gesagt, prekär. Darum wollte Reinhart Koselleck, der präziseste historische Methodiker der Gegenwart (den der sonst grenzenlos belesene Autor links liegen lässt), die Generation auch nur als eine von mehreren Grundbestimmungen seiner historischen Anthropologie gelten lassen. Die Fixierung aufs bio-psychologische Unterfutter der Geschichte führt bei Sloterdijk zwangsläufig zur Abwertung ihrer anderen großen Faktoren – technische Fortschritte, gar Klassenkonflikte verkleinern sich zu „Anspruchslawinen“ entlaufener Kinder.
  Ganz am Ende mildert Sloterdijk den apokalyptischen Ton mit einer gut gesetzten Coda: Madame Pompadours Ausruf „Nach uns die Sintflut!“ und der kopfschüttelnde Satz von Laetitia Bonaparte über ihren Sohn Napoleon – „Wenn das mal gut geht!“ – markieren zwei Pole weiblicher Skepsis im anti-patriarchalischen Fortschrittsstress. Hier liegt ein Angebot zu überzeitlicher Gelassenheit. Sie hatte Sloterdijk in einer seiner vielen witzigen Beobachtungen schon in der „Anschlussfähigkeit“ des Niklas Luhmann entdeckt, die er als Haltung des Weitermachens nach der letzten Katastrophe dechiffriert. Etwas anderes wird der Menschheit nach der nächsten Sintflut oder dem Absturz der Flugzeuge nicht übrig bleiben.
GUSTAV SEIBT
Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 489 Seiten, 26,95 Euro.
Früher war es „Sünde“,
heute nennt
man es „Innovation“
Seine Ironien sind allseitig, seine Metaphern provozieren Gereiztheit oder Rausch: Peter Sloterdijk.
Foto: dpa
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"Der Skandal, den diese Sloterdijk-Lektüre aufdeckt, ist der, dass wir uns falsch verstanden haben - zu sehr als Ausgeburten der Herkunft anstatt als Zeugen des eigenen Tuns. Es gelingt dem Karlsruher Philosophen, diesen Irrtum zu korrigieren und uns in der Gegenwart des Hyper-Individualismus zu begrüßen."
Philip Kovce, Deutschlandradio Kultur