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Die Steine zu erweichen, sie zum Sprechen zu bringen - das ist die wohl ältere Umschreibung für den Hang, durch und durchs Gebirg zu dringen, der Berge Grenzen und Erzgänge zu verschränken (Grund und Grat); und Stollen, Drusen, Grotten (die Schlieren und Dunstlinien darin) zu untertunneln. Oswald Eggers Instrument für dieses Genre der Geländesondierung in areale Areale ist seine Sprache, die Erdsprache, Tirade, anerkannt durch ein selbstsprechendes Erdrecht, und, im Tretrad der Rede, diese kopflos durchmusternd, ihr ununterredendes Gespräch. Sie zählt zu den Hochtiroler Organen und wird…mehr

Produktbeschreibung
Die Steine zu erweichen, sie zum Sprechen zu bringen - das ist die wohl ältere Umschreibung für den Hang, durch und durchs Gebirg zu dringen, der Berge Grenzen und Erzgänge zu verschränken (Grund und Grat); und Stollen, Drusen, Grotten (die Schlieren und Dunstlinien darin) zu untertunneln. Oswald Eggers Instrument für dieses Genre der Geländesondierung in areale Areale ist seine Sprache, die Erdsprache, Tirade, anerkannt durch ein selbstsprechendes Erdrecht, und, im Tretrad der Rede, diese kopflos durchmusternd, ihr ununterredendes Gespräch. Sie zählt zu den Hochtiroler Organen und wird insgeheim gesprochen, nicht gelehrt, auch ist sie in keinem Apparat aufgezeichnet; immerhin Wort für Wort in eine »Luftgeistersprache« diskret übersetzt und, unerhört, in ihren Ösen, Knoten und Knollen, beständig durch in Luft erstarrte Löcher zu erspähen und über »Herde der Verkehrung« aufzulesen, aufzuhorchen. Ein Ossian des Südens, geht Oswald Egger in »Euer Lenz« durchs Gebirg und an die Schelmgrenzen des Verstandes, unterläuft und überschreitet die stetigen, gedachten Linien einer Genealogie, welche beständig ineinander übergingen wie gedachte Schatten selbanderm Schlag: sie fliehen den, der sie sieht und sie folgen dem, der sie zieht.
Autorenporträt
Egger, OswaldOswald Egger wurde 1963 in Lana/Südtirol geboren. Seine Prosa und Gedichte sind in mehrere Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Ernst-Jandl-Preis für Lyrik 2019. Seit 2011 ist er Professor für Sprache und Gestalt an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. 2014 erhielt er das Villa-Massimo- Stipendium, 2020 das Robert-Musil-Stipendium. Oswald Egger lebt und arbeitet auf der Raketenstation Hombroich.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Vielwisser, Vielzüngiger, Sprachschabernacker ist dieser Autor und Zeichner für Ilma Rakusa. Die Rezensentin entdeckt in den assoziativen, anspielungsreichen Sprachschöpfungen Oswald Eggers den angekündigten Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz mit seinen von seiner genialischen Zerrissenheit kündenden Wortschöpfungen und Bildern, etwa dem "Wurmloch zu den Wolken", als auch Eggers poetischen Privatkosmos aus Möbiusbändern und Neologismen, wie "Fallwindtaschen", "Unmulden" oder "Fogwrasen". Rakusa erscheint das so verschwurbelt wie unverwechselbar und komisch dazu.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.10.2013

Das Picken des Mistelfinks
Zwischen Linz und Lunz: Der Sprachvermesser Oswald Egger heftet sich an die Fersen des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz
Oswald Egger ist Tondichter. Die Texte des Südtirolers unterlaufen die Vorschriften der Orthographie, Grammatik, Syntax und Lexik und verformen die Sprache bis an den Rand des Verständlichen. Singular und Plural werden vertauscht, Verben fehlerhaft konjugiert, transitive in intransitive verwandelt, ihre Lautgestalt wird deformiert. Die Satzglieder verlieren ihre angestammte Funktion im Satz; Substantive büßen ihre Präfixe, ihre Deklination ein und werden gegen ihr Attribut oder Adverbien vertauscht.
  Die Operationen des Umschreibens, Verbiegens, Umfärbens, Entwurzelns dienen der Lockerung und Verdunstung des Sinns zur Sinnwolke. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird vom Signifikat auf die Signifikanten umgelenkt, die assoziativen und kombinatorischen Vorgänge werden bei der Lektüre stärker herausgefordert als vom konventionellen Text: „Was wird ein Wort sein, wenn ich aufhörte, es zu verschwenden an die Verständigung?“
  Eggers Deregulierungen, seine zahllose Neologismen, Dadaismen, die Nutzung historischer Sprache, der Dialekte, Fremdsprachen, Wissenschaftssprache, vor allem die der Logik und Mathematik dienen der Bestreitung des Sinns, vor allem aber der lautpoetischen und tonsetzerischen Bearbeitung des Sprachmaterials. Aus der Schriftsprache tritt eine Tonsprache hervor, deren Klänge und Akkorde eine eigene Färbung, ein Harmoniesystem erkennen lassen. Kunstdialekte entstehen, die gegen vorhandene Sprachen abgegrenzt werden.
  Ein Neutöner ist Oswald Egger in der Mitteilungsform, nicht im Umgang mit Stoffen und Motiven. Den Brückenschlag mit den Traditionen des Gedichts, Erzählens und Philosophierens hat er in Materialassemblagen vollzogen, die in die Texte einbrechen und ihr organisierendes Zentrum, ihre Idee unterwandern. Das hellenistische Liber XXIV philosophorum, ein Kompilat neuplatonisch beeinflusster Schriften über die Beschaffenheit Gottes, das Hohelied, das Blaubartmärchen, die Böhmenutopie Shakespeares und Ingeborg Bachmanns, H. C. Artmanns persische Quatraine, die Carmina des Horaz hat er seinem Verfahren des Wiederholens, Rotierens, Zirkulierens und Überholens und Verschleifens ausgesetzt und in eigene unfertige, unabschließbare Sprachprovinzen umquartiert. „Homotopie“ taufte er die Inventarisierung und Kartographierung seiner Wanderungen durch seine rheinische Wahlheimat, um die Raketenstation Hombroich herum, wo der Dichter Thomas Kling sein Vorgänger war.
  Zuletzt, in „Die ganze Zeit“ (2010), heftete er sich an Dantes Fersen. Sein Wanderer setzte dem weltabgewandten Blick Dantes die Körperlichkeit und Zeitlichkeit des eigenen Sehens entgegen, der essentialistischen Beschreibung die offene enzyklopädische Aufzählung, blieb vor dem Aufstieg ins Jenseits in der Natur stecken.
  Jetzt heftet Egger sich an die Fersen von Jakob Michael Reinhold Lenz. „Euer Lenz“ versammelt Materialien zu Zeit, Werk, Leben und literarischem Nachleben des unglücklichen, elend zugrunde gegangenen Stürmers und Drängers aus Riga, darunter ein livland-deutsches „Abecedarium“, Diagramme, visuelle Darstellungen von Knoten, von Wegen und ihren Verzweigungen, Kupferstichreproduktionen, Reihen unverbundener Sätze und Satzbruchstücke, korrekte und gefälschte Zitate.
  Die bildnerischen und statistischen Teile des Buchs ergänzt ein an Georg Büchners Lenz-Fragment angelehnter Bericht über die Gebirgswanderung des Dichters. Eggers Lenz dringt bis in entlegene Winkel der eigenen Schriftstellerexistenz vor, wo er kundtut, gern mit Lenz und Lunz zu unterschreiben, damit der Leser bei seinem Namen an seine Person, nicht den Frühling denkt. Vor allem aber führt sein Weg nach innen, dorthin, wo auf den Kantschüler tief im Gebirge die platonische Erkenntnishöhle wartet und der Ausbruch des Wahnsinns mit Gulliver’schen Selbstvergrößerungs- und Verzwergungsphasen.
  Auf dem Höhepunkt der Krise bemerkt der Kranke, dass er kein Mensch, sondern ein Balg ist, später ein Sack, ein Barsch und im ärgsten Schrumpfzustand ein Krümel, der von einem Mistelfink aufgepickt wird. Die Beschreibungen der Bewusstseinszusammenbrüche, der körperlichen Fragmentierung, Selbstabschaffung und Neuschaffung sind humoristische Höhepunkte des Buchs.
  Die Abbrüche des Erzählens und Übergänge in Aufzählungen legen die Handlung, die Zeit still. Das Bewusstseinsdrama um Lenz verwandelt sich in einen Zustand, der in den Wiederholungsschüben des Erzählens farbiger koloriert, nicht aber weitererzählt wird. Die Erzählfrequenzen folgen derselben Rhetorik der Aufzählung und Logik der Mengenbildung wie die Listen, Verzeichnisse und Abbildungsserien, die dem Buch den Charakter eines schönen Bestandsverzeichnisses verleihen.
  An die Stelle einer Ganzheitskunst, die ihre stofflichen Einzelheiten systematisch bindet und Einheit stiftet oder sich im Fragment auf Ganzheit bezieht, tritt eine dem Barock entlehnte unvollständige, vorläufige, zufällige Darstellungsweise. Sie endet mit dem Satz: „Der Kuckuck will mich pflücken, ich muß eine Beere sein.“ Nie war Lenz seinem Freund Goethe ferner als bei Egger.
SIBYLLE CRAMER
  
  
  
Oswald Egger , geboren 1963 in Tscherms in Südtirol, bei einer Veranstaltung zu „Poesie und Mathematik“ in der Literaturwerkstatt Berlin im April 2009.
  
  
  
  
  
Oswald Egger: Euer Lenz. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 1000 Nummerierte und signierte Exemplare. 238 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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