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Die rebellische Dominika mit dem dunklen Teint und der »Zigeunermähne« ist eine Außenseiterin. In der Klasse fühlt sie sich zu den Mitschülern hingezogen, die anders sind: zu Dimitri, dem Sohn griechischer Exilanten, und zu Malgosia, ihrer lesbischen Freundin. Das Leben im »Sandberg«, der heruntergekommenen Plattenbausiedlung am Rande einer westpolnischen Kleinstadt, ödet sie an: der Dreck, der Suff; ihre Mutter, die von einem Schwiegersohn aus Castrop-Rauxel träumt; die von Kirche und Konsumwahn manipulierten Nachbarsfrauen. Was geht sie das an? Wie kommt sie überhaupt hierher? Geliebt fühlt…mehr

Produktbeschreibung
Die rebellische Dominika mit dem dunklen Teint und der »Zigeunermähne« ist eine Außenseiterin. In der Klasse fühlt sie sich zu den Mitschülern hingezogen, die anders sind: zu Dimitri, dem Sohn griechischer Exilanten, und zu Malgosia, ihrer lesbischen Freundin. Das Leben im »Sandberg«, der heruntergekommenen Plattenbausiedlung am Rande einer westpolnischen Kleinstadt, ödet sie an: der Dreck, der Suff; ihre Mutter, die von einem Schwiegersohn aus Castrop-Rauxel träumt; die von Kirche und Konsumwahn manipulierten Nachbarsfrauen. Was geht sie das an? Wie kommt sie überhaupt hierher? Geliebt fühlt sich Dominika nur von ihren Großmüttern - Halina, die im »Deutschenhaus« in der Altstadt wohnt, und Zofia, die sich 1943 das Leben nehmen wollte. Eines Tages, als sie bei Zofia im Garten unter dem Walnußbaum sitzt, taucht ein Historiker aus Kalifornien auf, der die Spur eines jüdischen Freundes verfolgt und wie beiläufig ins Gespinst der Lebenslügen hineinsticht, aus dem Dominika sich befreien will.Joanna Bator, die wohl stärkste neue Stimme der polnischen Literatur, erzählt in einer reichen, sinnlichen Sprache und mit giftiger Ironie von den Träumen, Ängsten und Hoffnungen einer von Krieg und Flucht traumatisierten Generation und von der Rebellion und Freiheitssehnsucht ihrer Kinder.
Autorenporträt
Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche Übersetzung ihres Romans Sandberg durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für Dunkel, fast Nacht (2012) wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und wuchs im Rheinland auf. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2011

Die Republik der Frauen misst vierzig Quadratmeter

Schreien und fliegen: Kein Roman verrät mehr über das skurrile und heimelige Leben einer sozialistischen Provinzstadt als Joanna Bators "Sandberg".

Die Wunden, von denen Joanna Bators Roman "Sandberg" erzählt, sind bis heute nicht verheilt und sorgen immer wieder für politischen Streit zwischen Polen und Deutschen. Als die Feuerwalze des Zweiten Weltkriegs über Europa rollte, jagte sie die Menschen von Ost nach West, als wären sie Spielfiguren: Flüchtlinge aus dem östlichen, an die Sowjetunion gefallenen Polen landeten in den Gebieten, aus denen die deutsche Bevölkerung gerade vertrieben worden war. Die niederschlesische Kohlestadt Walbrzych, das frühere Waldenburg, in dem Bators Roman spielt - sie selbst wurde dort 1968 geboren -, blieb jahrzehntelang von den Identitätszweifeln und Verlustängsten seiner neuen Zwangs-Bewohner geprägt.

Alles Deutsche, das sie vorfanden, erschien ihnen rätselhaft, unnütz und hässlich, es konnte den Verlust von Haus und Hof, von Familie und Freunden nicht wettmachen. Der späteren Sehnsucht nach dem Glanz und Duft des Westens gab das einen bitteren Beigeschmack, ebenso die wenigen Besuche geflohener jüdischer Nachbarn: Die saßen jetzt in Amerika und waren reich, hieß es. Sogar an ganz gewöhnlichen Wochentagen trugen sie Hüte!

Mit geschickter Hand lässt Joanna Bator alle Fäden der polnischen Geschichte und einer ehemals multiethnischen Gesellschaft in Walbrzych zusammenlaufen - in keinem aktuellen polnischen Roman erfährt man mehr und Genaueres über das skurrile und heimelige, trostlose und glückliche Leben in einer sozialistischen Provinzstadt: was die Menschen essen und was für Unterwäsche sie tragen, wonach sie sich sehnen und was aus ihren Träumen wird in einem auf Sand gebauten Alltag. Der in den sechziger Jahren auf den Abraumhalden der ortsansässigen Glashütten gebaute riesige Wohnblock "Piaskowa Góra" (so der Originaltitel), deutsch "Sandberg", verspricht alle Wünsche zu erfüllen, die ein Flüchtlingskind wie Stefan Chmura, der es Anfang der siebziger Jahre zum Bergmann gebracht hat, haben kann: zwei Zimmer, Küche, Bad, Zentralheizung - begeistert trägt er seine Frau Jadzia über die Schwelle, auch wenn das eigene Reich nur vierzig Quadratmeter groß ist. So gerührt ist er über dieses Geschenk, dass er dem Genossen Parteisekretär Gierek, zumal der ja auch Kumpel ist, ewige Treue schwört. Besinnungslos hält er dieses Versprechen und schuftet sich halb zu Tode, bis er merkt, dass sein Chef ihn auslacht, statt ihn zu befördern. Ab da ergibt er sich immer mehr dem Alkohol und verbringt seine Freizeit auf der durchgesessenen Couch vor dem Fernseher. Überhaupt kommen die Männer in diesem Roman nicht gut weg: Entweder sind sie geistig beschränkte Maulhelden, die ihre Gesundheit in albernen Macht- und Saufritualen ruinieren, oder abwesend. Das Motiv des falschen Vaters, hinter dem plötzlich ein anderer auftaucht, durchzieht den ganzen Roman und versinnbildlicht das Grunddilemma seiner Figuren: Wer hier lebt, hatte nie eine Heimat, oder sie existiert nicht mehr. Eine eigene Vergangenheit muss sich jeder erst erfinden.

Und hier kommen die Frauen ins Spiel. Sie sind die Unruhigen und Neugierigen, sie erzählen Familiengeschichten, auch die schmerzhaftesten: wie Jadzias Mutter von Soldaten vergewaltigt wird und deshalb ihre Tochter nicht lieben kann und warum die Urgroßeltern als Vergeltung für Partisanenanschläge ermordet wurden. Die Frauen müssen Schlange stehen, gegen den allgegenwärtigen Kohledreck anschrubben und soundso viele Abtreibungen aushalten. Trotzdem sind sie entschlossen und hartnäckig, im Krankenhaus schließen sie sich sogar zu einer übermütigen und innigen Clique zusammen. Als Karol Wojtyla Papst wird, legen sie "die Arme umeinander, aus denen die Kanülen staken, Brust an Brust und Bauch an Bauch schmiegten sie sich aneinander, ein Schlachtfeld der Wunden und Narben".

Dass nebenbei auch noch der Kommunismus zerbröselt, interessiert eher Jadzias Tochter Dominika, die schlaksige Lichtgestalt des Romans, mit ihrer dunklen Haut und dem widerspenstigen schwarzen Haar. "Zigeunerbalg" tuscheln die Nachbarn, und die blonde, pummelige Jadzia ist tief gekränkt, weil die Tochter weder Rüschen noch fettiges Essen mag und auch von keinem Ehemann aus Castrop-Rauxel träumt. Dafür träumt sie vom Davonfliegen, hoch über die Fördertürme und über einen Himmel, "den Chemikalienschmutz in Regenbogenfarben tauchte". In diesem immer schiefer werdenden Wohnblock mit seinen fünfzehn Aufgängen spiegelt sich nicht nur die polnische Gesellschaft mit ihren Intrigen und Zwangshandlungen, ihrer alltagstauglichen Religiosität und ihrer Liebe zu Kitsch und Kristall, sondern auch Abgründe an Einsamkeit, Verzweiflung und Hass. In den überbordenden Bildern dieses Romans werden die extremen Gefühle einer doppelt traumatisierten Gesellschaft bis an die Schmerzgrenze spürbar.

Nur manchmal wehren sich die Figuren gegen den äußeren Druck - dann platzen die Bild-Oberflächen auf und geben den Blick frei auf eine darunterliegende, magisch-anarchische Realität: Fenster bersten unter dem erotischen Sehnsuchtsgeschrei der Teenager, und die Dachterrasse, von der sich oft Selbstmörder stürzen, ist Basar, Liebesnest und fliegender Teppich in einem. Die darunter Wohnenden fühlen erstaunt den Sog, wenn er abhebt.

Deftig, wie in Olga Tocarczuks "Ur und andere Zeiten", und böse-sarkastisch, wie in Wojciech Kuczoks "Dreckskerl", ist dieser fulminante Roman erzählt, doch hat er eine verstörend genaue, politische und anthropologische Seite: Er zeigt die Welt als zerplatzten Luftballon, in dem Tod und Leben nur noch durch einen hauchdünnen Grat getrennt sind. Die allgegenwärtige Vergangenheit ist dabei eine genauso schwere Last ist wie die menschenverachtende Gegenwart. Deshalb flüchtet sich Dominika in die Mathematik, das einzig verlässliche Terrain, das sie kennt - doch genau in ihrer Begabung bricht die Familienlüge vom polnischen Großvater auf, der angeblich auf dem Feld der Ehre fiel. Wie in einem beklemmenden Vexierbild werden dahinter die Umrisse eines jungen jüdischen Mannes sichtbar, den die Großmutter im fünften Kriegsjahr vor dem Verhungern rettete.

Mit viel Sprachwitz hat Esther Kinsky die unterschiedlichen Tonlagen der Personen und die bissigen Seitenhiebe auf alle Selbstgerechten und Tumben übersetzt. Es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet die verachtete Grazynka, die Kinder von drei Männern hat, gern tanzt und auf das Gerede der Leute pfeift, die zweite Lichtgestalt des Romans ist: Sie ist die Einzige, die ohne Ressentiments und feste Erwartungen auskommt und dabei leidenschaftlich improvisiert. Unerschrocken und leicht bewegt sie sich durch diese menschliche Trümmerlandschaft und reagiert am menschlichsten von allen.

NICOLE HENNEBERG

Joanna Bator: "Sandberg". Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 492 S., geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2011

Madonnen, die wie Phosphor leuchten
Erzählen, das kann Joanna Bator: „Sandberg“, der packende Roman einer niederschlesischen Bergarbeitersiedlung und seiner Menschenkörper
Jedes Jahr fährt Hans Kalthöffer nach Niederschlesien, in den Kurort Szczawno Zdrój, das ehemalige Bad Salzbrunn. Er geht dann zum „Dancing“ im Weißen Saal der Kurhalle und besucht immer auch das Haus, das vor dem Krieg seiner Familie gehörte. Er will es nicht wiederhaben, er will die Hand reichen zur Versöhnung, aber fürs Leben gern würde er dort einmal richtig Ordnung machen. Denn es sieht da aus „wie bei Hempels unterm Sofa“.
Die Redewendung hat auf Deutsch in das polnische Original des Romans „Sandberg“ von Joanna Bator gefunden. Sie ist einer der vielen kleinen Fäden, die darin Deutschland und Polen verknüpfen, wie Hans Kalthöffer, der nur eine Nebenfigur ist, aber die lebenslustigste Polin des Buches, die mit Männern, Tanzvergnügungen und unehelichen Kindern reich gesegnete Grazynka, nach Bayern entführt.
Der erwähnte Kurort befindet sich in der Nähe des Bergbaugebietes von Walbrych, das einmal Waldenburg hieß und wo die Adolf-Hitler-Straße zur Wladimir-Lenin-Straße geworden ist. Viele Bergwerksfamilien sind aus Ostpolen hierher gekommen, das die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes annektiert hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr herausgab. So rückten polnische Zwangsumgesiedelte an die Stelle der vertriebenen Deutschen. In den sechziger Jahren wurde hier auf Abraumhalden die moderne Wohnblockanlage „Piaskowa Góra“ – zu deutsch „Sandberg“ – errichtet, als Muster sozialistischer Architektur für die Werktätigen. Diese Siedlung gibt dem Roman den Titel, sie wird am Ende mit der Stilllegung der niederschlesischen Kohleindustrie zerfallen und einsinken, wenn die unter der Stadt verlaufenden Bergwerksstollen geflutet werden.
Aber zuvor wird sie zum Schauplatz eines der schillerndsten, turbulentesten und sprachmächtigsten Provinzromane, die in den letzten Jahren aus Polen gekommen sind. Joanna Bator,1968 geboren, entstammt selbst der Welt, die sie beschreibt. Sie erzählt eine Familiengeschichte, die sich über drei Generationen erstreckt und zwischen dem verlorenen Ostpolen und Pasadena in Kalifornien ausgespannt ist. Doch nie taucht sie ihre Schauplätze und Figuren sanftes Dämmerlicht, nie wird ihr Familienroman gemütlich.      
Sie erzählt den sozialistischen Aufbruch und Niedergang des Bergbaureviers als Totentanz voller Rausch und Hysterie. In wenigen harten Sätzen knüpft sie einen Denunzianten auf, der im Krieg einen untergeschlüpften Juden wegen des Goldes, das er bei ihm vermutet, ans Messer liefern will. Ohne sie durch besorgte Kommentare abzumildern, zitiert sie die Graffiti, die der Antisemitismus noch nach dem Zweiten Weltkrieg hervorbringt. Sarkastisch setzt sie ins Bild, wie auf dem Frauenflur des Krankenhauses die Freude über die Wahl des polnischen Papstes Karol Wojtyla parallel zu den Schmerzen anschwillt, die von den Komplikationen nach einer der vielen Abtreibungen verursacht werden. Und elegant wie eine Slalomtänzerin bleibt sie den Tricks des windigen Geschäftsmannes Onkel Kazimierz auf den Fersen.
Die Hauptfiguren sind Frauen, Jadzia vor allem, die Frau des Bergmanns Stefan Chmura, der an sein Idol, den Parteichef Edward Gierek glaubt, Musterarbeiter sein will und dann in Desillusion und Alkohol versinkt, und ihre Tochter Dominika, die eigentümlich fremdartig aussieht, in Bruce Lee-Filme geht, Julio Cortázar liest, mit dem Sohn griechischer Auswanderer und der lesbischen Tochter des Gynäkologen verkehrt und in dem jungen Kaplan, in den sie sich unsterblich verliebt, einige Züge von Boy George wiedererkennt.
Seinen Stoff teilt dieser Roman mit der Zeitgeschichte, wenn er seine Genealogien sich in die Geschichte des zweiten Weltkriegs, des Holocaust, der Vertreibungen und des Zusammenbruchs des Nachkriegs-Sozialismus hinein verzweigen lässt. Aber er schafft es, sich ganz freizuhalten von der Diktion der Zeitgeschichte, von aller pädagogisch-historischen Rhetorik. Ein Grund dafür ist die Perspektive von unten, die hier nicht nur meint, dass die kleinen Leute der Provinz im Vordergrund stehen. Denn die Prosa von Joanna Bator ist mit allem Körperlichen im Bunde, mit den leibhaftigen Wunden und Verletzungen wie der Schminke und der Lust.
Wer auf welche Art und Weise in der Geschichte agiert, das ist hier vor allem an den Körperschicksalen ablesbar, ob der kranke jüdische Flüchtling Ignacy Goldstein von seiner Retterin versorgt und zum Liebhaber gemacht wird, ob der Bergmann Stefan Chmura im Suff zerfließt oder seine Frau, die als private Krankenpflegerin seine Schulden ausgleicht, die Madonna zur Schutzfigur ihres Putz- und Waschzwanges macht: „Wenn Jadzia nachts aufwachte, leuchtete die von einer Pilgerreise nach Tschenstochau mitgebrachte Muttergottesfigur grünlich wie Phosphor. Mich kann man nicht mehr so einfach an die Wand drücken, sagte sie. Jadzias Königreich beschränkte sich nicht mehr auf die Küche, es umfasste nun auch Esszimmer und Flur, das Zimmerchen der Tochter war ihr Lehen. Sie schritt ihr Gut mit Schrubber und Putzlappen ab, stellte die Väschen von Cephelia, die Wloclaweker Keramiken in Reih und Glied, das alles gehörte ihr. Ihr gehörten das im Wäscheschrank angehäufte Bettzeug und die darunter versteckten vier Goldringe. In aller Einsamkeit probierte sie diese an ihren vom Scheuern, Desinfizieren, Selbstaufopfern kaputten Fingern an, sie, Königin Jadwiga von Piaskowa Góra.“
Hier wird oft hart und in Nebensätzen gestorben, viele Tote bleiben unerlöst. Und wenn nach einem brutalen Überfall der Provinz-Machos auf ein Homosexuellen-Paar, das in der sozialistischen Mustersiedlung wohnt, anstelle der Gedemütigten und Vertriebenen neue Nachbarn einziehen, geht das Leben zwar weiter – aber erkennbar als Leben, in dem dergleichen geschieht. Sähe man nur auf den Plot, so müsste einem die Souveränität, mit der Joanna Bator am Ende die Familiengeheimnisse auflöst, ein wenig verdächtig vorkommen.
Allzu bereitwillig stattet die Genealogie die junge Dominika, die schon vor dem Ende des Romans nach den zerfallenden Sandberg verlässt und nach Warschau geht, mit Großvätern aus, die ihre physiognomische Fremdheit in der polnischen Provinz sehr ehrenwert beglaubigen. Der eine Großvater ist der nach Los Angeles ausgewanderte versteckte Jude Ignacy Goldstein, der andere ein russischer Zirkusmusiker. Aber die Sprache, in der diese Konstruktion aufgetischt, wird, rettet sie. Denn erzählen, das kann Joanna Bator. Und Esther Kinsky hat alle Tonarten zwischen Frechheit, Aufgeregtheit und Abgeklärtheit virtuos ins Deutsche geholt.
LOTHAR MÜLLER
JOANNA BATOR: Sandberg. Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 492 Seiten, 26,90 Euro.   
Den Stoff teilt dieses Buch
mit der Zeitgeschichte, aber
seine Sprache gehört ihm allein
Die Industrieanlagen in Waldburg (links, in einer Aufnahme von 1935) blieben nach 1945 Teil des niederschlesischen Bergbaugebiets um das nunmehr polnische Walbrzych. Joanna Bator (oben) erzählt in ihrem Roman „Sandberg“ von dieser polnischen Provinz.
Fotos: Scherl/SZ Photo, Ekko von Schwichow(oben)
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Dieser Roman von Joanna Bator, der in Polen für viele bedeutende Literaturpreise nominiert war, hat auch Marta Kijowska sehr beeindruckt. Die polnische Autorin erzählt darin die Geschichte von Mutter, Tochter und Enkelin, die am Rand der schlesischen Stadt Walbrzych in den 70er Jahren in einer Plattenbausiedlung leben. Die Rezensentin zeigt sich von der Beobachtungsgabe und Detailgenauigkeit Bators sehr fasziniert, und sieht hier eigene Erfahrungen der 43-jährigen Autorin verarbeitet. Gleichzeitig aber betont Kijowska die große Kunstfertigkeit, mit der dieser Roman komponiert ist, und bewundert Stilsicherheit und raffinierte Erzählweise. Dem Buch gelingt es, die Atmosphäre der 70er Jahre plastisch einzufangen und fragt daneben eindringlich, was die Identität des Menschen ausmacht, findet die Rezensentin, für die die Plattenbausiedlung, in der viele Vertriebene und Umgesiedelte leben, "Modellcharakter" besitzt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein großes Epos aus den abgelegenen Provinzen Europas und des Herzens, ein erstaunliches Lesevergnügen.« Iris Radisch DIE ZEIT 20110728
»Ein literarisches Wunder: Es geht um nichts als Tristesse und Trostlosigkeit, und doch möchte man immer weiterlesen. ... Die Charakterstudien der Bewohner, der schwarze Humor, der alles durchzieht, und vor allem Joanna Bators Sprache ergeben ein einziges großes Lesevergnügen.«