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Von Max Weber stammt der berühmte Satz, die Politik sei »ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. Von ihm ausgehend, untersucht Kluge in 133 Geschichten jene Werkzeuge, die politisch agierenden Menschen im harten Kampf um die Macht zur Verfügung stehen. Für intelligente Zähigkeit als Voraussetzung politischer Veränderung ist Max Webers Bohrer gewiß ein geeignetes Bild. Was ist aber ein Hammer im politischen Geschäft? Was heißt 'Feingriff'? Und zuletzt führen alle Fragen auf die eine: Was ist dieses 'Politische' überhaupt? Inmitten der…mehr

Produktbeschreibung
Von Max Weber stammt der berühmte Satz, die Politik sei »ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. Von ihm ausgehend, untersucht Kluge in 133 Geschichten jene Werkzeuge, die politisch agierenden Menschen im harten Kampf um die Macht zur Verfügung stehen. Für intelligente Zähigkeit als Voraussetzung politischer Veränderung ist Max Webers Bohrer gewiß ein geeignetes Bild. Was ist aber ein Hammer im politischen Geschäft? Was heißt 'Feingriff'? Und zuletzt führen alle Fragen auf die eine: Was ist dieses 'Politische' überhaupt? Inmitten der aufgeregten Debatten über Stuttgart 21 und Sarrazin behält Kluge kühlen Kopf. Ihn als Literaten interessiert die Frage: »Wie erzählt man davon?« Politik, sagt er, ist ein besonderer Aggregatzustand alltäglicher Gefühle. Sie ist überall. Sie bewegt private Lebensläufe ebenso wie die Öffentlichkeit. Und so behaupten sich in seiner Geschichte neben den Großen auch die Kleinen, Unbekannten, fast Namenlosen: Elfriede Eilers neben Perikles und Putin und die in 700 Meter Tiefe versunkenen chilenischen Bergleute neben Napoleon, Obama und Angela Merkel, der »Kanzlerin am falschen Ort«.
Autorenporträt
Kluge, AlexanderAlexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2011

Unter gewaltigen Zufallswolken
Bohren und Geschehenlassen: Alexander Kluge erzählt 133 politische Geschichten – ein Buch, das auf den Frühstückstisch gehört
Ludwig XVI. hatte seinen Zeremonienmeister geschickt, um die Nationalversammlung aufzulösen. Wenn in Frankreich möglichst viel beim Alten bleiben sollte, mussten die enthusiasmierten Generalstände sich mit der ihnen zugedachten Rolle eines beratenden Gremiums bescheiden. Am 23. Juni 1789 durchkreuzte der Abenteurer Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, das Kalkül. Er sprach die den Augenblick entscheidenden Sätze: Die Nation gebe Befehle, sie empfange keine. Dem König solle gesagt werden, dass die Abgeordneten nur der Gewalt der Bajonette weichen würden. Damit läutete er gleichsam die Sturmglocke zu der Revolution, in deren Schatten wir bis heute leben.
Woher nahm der Graf die Worte? Trieben ihn Interessen, Ideen, Klassenbewusstsein? Heinrich von Kleist hat berichtet, wie Mirabeaus „Donnerkeil“ beim allmählichen Reden verfertigt, aus dem Augenblick geboren wurde, auf Unmerkliches reagierend. „Vielleicht“, meint Kleist, „daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“
Diese Art der Betrachtung, die dem Zufall und dem Charakter mehr Raum gibt als überpersönlichen Gesetzmäßigkeiten, ist nie sehr populär geworden. Politische Analyse zielt in acht von zehn Fällen aufs Grundsätzliche. Umso rascher liest man sich in den politischen Geschichten Alexander Kluges fest, in denen, als habe sie ein Kleist unserer Gegenwart verfasst, die Frage nach dem Verhältnis von Zufall und Moral wiederkehrt. Durch schöne Anstrengung lässt sich hier der Blick für die Tatsachen des Politischen trainieren. Es ist freilich ein ernüchterter Kleist, der hier schreibt. Das Putschistische und die Euphorie im Untergang hat sich Kluge versagt. Er nimmt die Formeln, in denen der Betrieb beschrieben wird und sich selbst beschreibt, buchstäblich ernst. Er vermutet, dass aufgrund von Zeitmangel dem Politbetrieb eigene, treffende Bezeichnungen für seine Tugenden fehlen. Die passenden gewinnt man durch Geschichten.
Politik sei das „Bohren harter Bretter“? Das Schlagwort treffe nicht, sagt bei Kluge die „erfahrene Politikerin Gertrud Reinicke, derzeit Assistentin in einer Bundestagsfraktion“. Politik sei der „handwerklichen Stufe entwachsen“. „Das Bild, daß einer wie ein Tischler vor seinem Arbeitsgegenstand sitzt und bohrt, also sich als Einzelner aufführt, widerspricht auch der Rolle in dem Netzwerk, das die Politik darstellt.“
Damit sich der Leser in dieser Einsicht nicht zu behaglich einrichtet, erzählt Kluge unmittelbar anschließend von Brettern im Sommerbad Halberstadt, an denen die Astlöcher das Wichtigste waren, von Mussolinis Scheu, „ein hartes Brett zu bohren“ und von „Brettern auf der Stirn“: „Preußische Ulanen, die 1792 das Heer des Herzogs von Braunschweig begleiteten, der nach Frankreich vordrang, schweiften ins Elsaß. In einigen Städten treiben sie die Gemeindebeamten zusammen, an ihren Mützen als Jakobiner erkenntlich, und nagelten ihnen Bretter auf die Stirn. Nägel und Hammer liehen sie von den örtlichen Handwerkern unter Gewaltandrohung. In einigen Fällen klopften sie die Nägel so ungeschickt in die Schädel, daß der Beamte starb.“
In dieser Prosa ist kaum ein Wort zu viel. Die kurzen Geschichten sollen treffen, erhellen, aphoristisch zuspitzen. Da verbieten sich Ausmalung, Süffigkeit, propagandistischer Sirup. Nirgends will der Autor überreden. Er will Geschichten erzählen, mögen sie nun von Max Weber im revolutionär durchglühten Bayern, von Marx’ Desinteresse an der Börse, von sowjetischen Bergsteigern oder einem emotionalen Ausbruch des Ministers Wolfgang Clement handeln. „Er verhält sich nicht ,links‘ oder ,rechts‘“, heißt es in Kluges „Totenrede für Peter Glotz“. „Das wäre für ihn nur eine Sitzordnung im Konvent der Französischen Revolution von 1789.“
Das ließe sich auch über Alexander Kluge sagen. Auch er berichtet, erzählt, kommentiert „charakterfundiert“. Es leitet ihn sein Beobachtungstemperament, das ansteckend ist. Reinhard Jirgl hat sich infizieren lassen und einen Agentenbericht vom Wiener Treffen zwischen Chruschtschow und Kennedy erfunden, ein Kabinettstück und eine Demonstration, dass die Wahrheit sich im Oszillieren von Fiktion und Wirklichkeit enthüllt. Kluge meidet glücklich die programmatische Lauheit eines sich als postideologisch missverstehenden Zeitalters. Lässig wirkt er nie, er lässt sich von jeder Geschichte den Boden unter den Füßen wegziehen, um ihn erzählend wieder zu gewinnen. Revolutionen und Katastrophen gilt seine Leidenschaft ebenso wie den Jahren glücklicher Ereignislosigkeit.
Eine unsichtbare Hand soll bekanntlich dafür sorgen, dass konsequent verfolgter Eigennutz dem Gemeinwohl zugutekommt. Wie viel Irrationales steckt in dieser so vernünftig klingenden Erwartung? „Die ,unsichtbare Hand‘“ ist Kluges Bericht über das Gutachten eines angesehenen Explorationsgeologen überschrieben, das die Ereignisse auf der BP-Bohrinsel im Golf von Mexiko ergründete. Der erfahrene, mit allen Wissenschaftsstandards vertraute Geologe fand, sorgsam untersuchend, eine „solche Häufung von Zufällen“, wie er sie wohl aus „historischen Erzählungen über vergangene Schuld oder einen Fluch“ kannte, nicht aber „aus der technischen Realität der Bohrpraxis. Muss man, um zu verstehen, aus dem geläufigen Schema von Ursache und Wirkung ausbrechen, Zusammenhänge in Rechnung stellen, die „der Relation von Schuld und Sühne gehorchen“? Kluge endet in der untragischen, götterlosen Wirklichkeit: BP habe das Gutachten „als mangelhaft bezeichnet und nicht bezahlt“.
Einem so verengten Blick dürfte auch die Entstehung einer neuen Aggressivität entgehen. Kluge befragt einen New Yorker Anwalt aus dem Büro des Inspector General im Pentagon über Truppen in Afghanistan. Dort sei ein „neuer Menschentyp“ entstanden, der seine eigenen Ängste in die Wüste schickte und andere das Fürchten lehre. Das seien zufriedene junge Männer, Abenteurer ihrer selbst, „zeitlich und örtlich indifferent, in jedem Augenblick tüchtig. „Der destruktive Charakter ist jung und heiter.“
Diese „133 politischen Geschichten“ gehören auf den Frühstückstisch eines jeden passionierten Zeitungslesers. Kluge sieht mehr, weil er die richtige Mittellage zwischen Detail und großem Ganzen trifft und weil ihm Kant, Kleist, Hegel, Napoleon, Heidegger und Habermas stets gegenwärtig sind, als habe man deren Geschichten gerade in der Zeitung gelesen. Er ist auch ihnen Augenzeuge.
Der eigensinnige Schwung dieses Selber-Sehen-Wollens lässt auch resignativ ausklingende Geschichten heiter enden: „Anders als von Kleist berichtet, wurde Michael Kohlhaas, der als Todeskandidat bereits auf seine Hinrichtung vorbereitet wurde, von einer Rotte befreundeter Räuber aus Böhmen (wie in Schillers Drama dargestellt) aus dem Gefängnis in Wittenberg entführt.“ In einer fränkischen Reichsstadt soll er gewohnt, den Gedanken an Rache aufgegeben haben. „Nie mehr war er in der Lage, Bluttaten zu begehen. Er war als Kaufherr tätig und achtete sorgsam auf die Tauschäquivalenz.“ Das kann man historische Hoffnung nennen oder Desillusionierung. Gleichviel. Geschichten sind der Sinn der Geschichte.
JENS BISKY
ALEXANDER KLUGE: Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten. Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 336 Seiten, 24,90 Euro.
Kluge sieht mehr – weil er die
richtige Mittellage trifft zwischen
Detail und großem Ganzen
„Die gleiche organisatorische Kraft, die alle Sektionen der UdSSR in Gang hielt, war ebenso zuständig für die jährlichen Zurüstungen zum TAG DER ARBEITERKLASSE, dem 1. Mai, wie für die poröse Planung (wie in einem Schwamm sind Leichtsinn, technische Konzentrate und Zerrüttung der Zuständigkeiten aufgesogen), die zur HAVARIE VON BLOCK 4 in Tschernobyl am 26. April 1986 führte. Schon war die Stadt evakuiert. Aber noch standen (. . .) die Anlagen für das Vergnügungsgelände zum 1. Mai.“ Das Riesenrad blieb lange stehen – eine Geschichte wie geschaffen für den Erzähler Alexander Kluge.
Fotos: AP, Regina Schmeken
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2011

Die Reparatur der Welt
Es gibt immer einen dritten Weg: Alexander Kluges 133 Geschichten gegen die scheinbare Alternativlosigkeit der Politik

Man kann diese Geschichte zum Beispiel mit einem Tretauto beginnen. Der kleine Ich-Erzähler, nennen wir ihn für den Moment Alexander Kluge, hatte es zum Geburtstag geschenkt bekommen. Er fuhr damit durch seine Welt, bis er es eines Abends kaputtgefahren hatte. Unglück, Trauer, Bestürzung - womit jetzt auf rasende Fahrt? Die Kinderfrau bemerkte die Verzweiflung und riet dem kleinen Bruchpiloten, den Wagen über Nacht im Schuppen zu parken: "Vielleicht erholt es sich, wenn es schläft." Am nächsten Morgen war der Wagen wieder fahrbereit. Wahrscheinlich, so vermutet Kluge heute, hatte ihn der Mann der Hauswartsfrau über Nacht repariert. Ein Lebens-Erlebnis: "Noch heute hoffe ich, wenn ich die Lösung eines Problems vertage, auf ein solches Übernachtwunder", schreibt der 79-jährige Kluge in seinem neuen Buch "Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten".

Nun ist an dem reparierten Wagen des rasenden Alex noch nicht allzu viel Politisches zu entdecken, aber niemand springt so souverän wie Kluge von Persönlichem zum Weltereignis, von Wahrheit zum Gleichnis, von Fiktion zu sogenannter Wirklichkeit. In Kluges Welt trennt den Tretautofahrer von Napoleon und der amerikanischen Verfassung nur ein Punkt. "Das ist das ,Prinzip Überraschung', das Napoleon als seinen Verfassungsgrundsatz bezeichnet hat", fügt er also hinzu, kommt zum Menschenrecht des "pursuit of happiness" und fügt die Behauptung an, Napoleons Schlachten und seine Feste in den Tuilerien seien in der Zinnsoldatenproduktion noch heute eines der häufigsten Themen, "wegen dieses Versprechens auf Reparatur der Welt". Einmal vom Kinderzimmer in die Weltgeschichte und zurück. Dafür braucht Kluge nur sechzehn Zeilen. Dabei ist das verwunderlichste vielleicht, dass man sich als Leser gar nicht fragt, ob es jetzt also schon Forschungsergebnisse über die Motivation einzelner Zinnsoldatenkäufer gibt, sondern dass die Erzählkraft Kluges in diesem neuen Buch offenbar so überwältigend ist, dass man sich so naheliegende Fragen gar nicht stellt.

Das konnte man schon im letzten Oktober auf dem Kritiker-Empfang des Suhrkamp-Verlages während der Frankfurter Buchmesse erleben, als Alexander Kluge von seiner Verwunderung darüber sprach, dass die deutsche Literatur, ja die Literatur überhaupt, das Feld der Politik, der Katastrophen, der ganzen dramatischen Gegenwart so gänzlich aus dem Blick verliere. Und wie er dann zu reden begann, über die verschütteten Bergleute in Chile, Angela Merkels Handy, die brennende Ölplattform vor der Küste Amerikas, Sarkozys Beraterstab, da hörte man einen geborenen Erzähler, der sich so souverän in der Welt seiner Stoffe bewegt wie einst ein Friedrich Dürrenmatt. Mit diesem teilt Kluge die Faszination für Apokalypsen und Weltexplosionen aller Art, doch zieht er sich nicht wie dieser in seinen späten Jahren in Sphären erdentrückter Sternenbeobachtung zurück. Sondern Kluge richtet den Blick auf die Handelnden inmitten der Strudel - einen Berater in Entführungsfällen in Ostafrika, einen Arbeitszeitmesser im Kanzleramt, die politischen Beamten, die weltpolitische Gipfel vorbereiten, einen Gutachter, der die Ursachen für die explodierende Ölplattform erforscht, vor allem aber natürlich die Politiker selbst. Der Erzähler Kluge ist dabei, wenn der einstige Kronprinz Wolfgang Clement sich mit seinem Ziehvater Johannes Rau überwirft, wenn Angela Merkel mit Barack Obama über die Auswirkungen der Finanzkrise telefoniert, wenn Friedrich Sieburg dem Staatschef Pétain einen halbwegs würdevollen Abgang verschafft und wenn Helmut Schmidt Jimmy Carter, der sich zwischen zwei fatalen Entscheidungsmöglichkeiten wähnt, im Weißen Haus kühl belehrt: "Es gibt stets etwas drittes."

Das ist die Kluge-Überzeugung, die fast allen Geschichten zugrunde liegt. Es gibt immer eine Alternative. Die politischen Möglichkeiten sind immer größer, als man denkt. Den Glauben an die Macht der Politik hat der Erzähler Kluge auch während der letzten Finanzkrise, als das Wort "alternativlos" alles politische Denken bedrohte, nicht verloren. Im Gegenteil sind es gerade die Momente der scheinbaren Ohnmacht der Politik, die den Erzähler Kluge reizen. Das scheinbar nicht zu schließende Bohrloch im Golf von Mexiko etwa und der zaudernde amerikanische Präsident: "Den Ingenieuren von BP und der Firma selbst traute er sowenig wie seinen Stäben. Er traute angesichts der Katastrophe überhaupt niemandem. Er konstatierte ,Ohnmacht der Politik'. Wie sollte er davon in einer Pressekonferenz sprechen?"

Doch es wird eine Lösung geben. Eine Alternative zum Schweigen.

Immer wenn es richtig heikel wird in diesem Buch und in der Weltgeschichte, wendet sich der Erzähler an Jürgen Habermas. Er ist das Katastrophenpendel, Geigerzähler des Geistes für Kluge, und wenn es nach dem dramatischen Wochenende im letzten Mai, als die Finanzmarktwelt am Abgrund stand, über Habermas heißt: "Er ist voller Sorge", dann bebt die Erzählerstimme: "Der dünne Firnis an zivilisatorischer Überlieferung, einer durchsichtig werdenden Eisdecke vergleichbar, unter der sich der grausame Zug der Realitäten bewegt!" Selbst ein Habermas beginnt in diesen Tagen scheinbarer Alternativlosigkeit einen Nachruf auf das Politische zu schreiben. Doch gerade dann geht es weiter: "Wenn es den Anschein hat, daß eine Politik verschwindet oder sich verbirgt, entsteht an dieser Stelle etwas Neues. Das Politische selbst ist ein Phönix. Das Politische kann, wo Menschen leben, nicht verschwinden", lässt Kluge seinen Habermas schreiben und lässt dabei offen, was an diesem Mann und was an seinem Text Fiktion und was Wirklichkeit ist. Sein Habermas dort in Starnberg wirkt jedenfalls höchst lebendig, höchst plausibel.

Alexander Kluge hat in Zeiten, in denen mit überwältigender Macht deutlich wird, dass Politik niemals alternativlos ist, das Buch der Stunde geschrieben. Ein Buch, das die Politik als erzählerisches Ereignis wiederentdeckt. Als am letzten Sonntag das wenige Monate zuvor höchst unwahrscheinliche Wahlergebnis in Baden-Württemberg Wirklichkeit geworden war, zitierte der Wahlsieger Winfried Kretschmann aus Max Webers Vortrag "Politik als Beruf", es sei "ein gutes Gefühl, wenn man mit dem Bohrer endlich durchs harte, dicke Brett ist".

Von diesem guten Gefühl berichtet dieses Buch in 133 Varianten. Es wird von der Hoffnung getragen, dass der kleine Tretwagen am nächsten Morgen immer wieder zum Fahren bereit ist.

VOLKER WEIDERMANN

Alexander Kluge: "Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten". Suhrkamp, 330 Seiten, 24,90 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Sven Hanuschek schätzt Alexander Kluges neues Buch mit 133 Geschichten zur Politik als eine "Wundertüte über Politik und ihre Metaphern". Das Buch bietet in seinen Augen die "vertraute Kluge-Mischung": da finden sich Neugierde und Assoziationen, erfundene Dokumente und abseitiges Wissen, Überlegungen über Gefühle in der Politik, philosophische Gedanken und anschaulichen Geschichten von fiktiven und authentischen Figuren. Metaphern und Begriffe wie Vollblutpolitiker, Augenmaß und Instinkt werden nach Hanuschek vom Autor kritisch und spöttisch auseinander genommen. Er hebt hervor, dass es Kluge letztlich aber nicht um einige Politiker geht, sondern um das Große Ganze. Sein Fazit: eine "Trost-Fibel, voller Optimismus über die Widerstandskraft menschlichen Eigensinns".

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»Kleine Geschichten mit einer Aura von Bedeutsamkeit zu erzählen. So wurde er zu einem Denker des Sozialen und der Historie von ganz eigener Art.« Eberhard Falcke DIE ZEIT 20110630