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Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Juni 2000 sechs Seiten mit den Buchstaben A, C, G und T füllte, war klar: Bei der Entschlüsselung des Humangenoms handelt es sich um eine wissenschaftliche Sensation. Daß sich das öffentliche Humangenomprojekt und Craig Venters Firma Celera Genomics zuvor ein Wettrennen geliefert hatten, zeigt ihr ökonomische Potential: Informationen über den Bauplan des menschlichen Lebens verwandeln sich in Waren - in Biokapital. Damit beginnt, so die These Sunder Rajans, eine neue Phase des Kapitalismus. Über mehrere Jahre hinweg begleitete der Ethnologe die…mehr

Produktbeschreibung
Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Juni 2000 sechs Seiten mit den Buchstaben A, C, G und T füllte, war klar: Bei der Entschlüsselung des Humangenoms handelt es sich um eine wissenschaftliche Sensation. Daß sich das öffentliche Humangenomprojekt und Craig Venters Firma Celera Genomics zuvor ein Wettrennen geliefert hatten, zeigt ihr ökonomische Potential: Informationen über den Bauplan des menschlichen Lebens verwandeln sich in Waren - in Biokapital. Damit beginnt, so die These Sunder Rajans, eine neue Phase des Kapitalismus. Über mehrere Jahre hinweg begleitete der Ethnologe die Protagonisten dieser Revolution in ihre Labore und zu Kongressen in Indien und den USA. Ausgehend von diesen Reportagen, formuliert er ethische Fragen, die er anhand der Ansätze von Ulrich Beck, Michel Foucault, Karl Marx und Slavoj Zizek erörtert: Mit welchen rhetorischen Strategien trennen vife Wissenschaftler Investoren von ihrem Geld? Und: Wie verändert sich unser Menschenbild, wenn DNA-Chips zur Erbgutanalyse uns alle zu Patienten im Wartestand machen?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2009

Die Enteignung des Leibes

Wie sieht es aus in den Labors, Kliniken und Firmen der international tätigen Biotech- und Pharmabranche? Sunder Rajan hat aufschlussreiche Beobachtungen gesammelt.

Bücher, denen es gelingt, das ganz Abstrakte mit dem ganz Konkreten zu verbinden, haben einen besonderen Charme. Wie lassen sich theoretische Großdiagnosen zu Kapitalismus, Biopolitik, In- und Exklusion, "Biosozialität", "Genfetischismus" schärfer fassen - angesichts neuer weltweiter Verflechtungen von "postgenomischer" biologischer Forschung, Gentech- und Pharmaindustrie sowie nationalstaatlicher Gesundheitspolitik?

Diese Fragerichtung läuft auf die Arbeit an Begriffsarchitekturen hinaus. Fragen in die zweite, die konkrete Richtung fordern Empirie, also aufmerksames Hinsehen: Lässt sich zeigen, von welchen Realitäten die Rede ist? Wie sehen die Geschäftsmodelle, die Arbeitsbedingungen, die Werbeanstrengungen, die Firmenfeiern sowie nicht zuletzt die Betten für die Patienten und Probanden in den Labors der Bio-Startups und den Kliniken der Pharma-Giganten aus?

Die lesenswerte Studie des als Biologe ausgebildeten Anthropologen Sunder Rajan verfolgt beide Fragerichtungen. Rajan will Marx' Kapitalismuskritik sowie Foucaults Analysen zur Biopolitik auf die Besonderheiten der international tätigen Biotech- und Pharmabranche anwenden. Der Autor legt Ergebnisse ethnologischer Forschungen vor, die er in Labors, Firmen, Kliniken sowie auf Tagungen in den Vereinigten Staaten sowie in Indien unternommen hat. "Biokapitalismus" (im Amerikanischen nicht ganz so hochgespannt: Biocapital) heißt sein Buch.

Im Kern ist es die detaillierte Schilderung des mit der sogenannten Entschlüsselung des Humangenoms beginnenden Aufstiegs eines neuen, wirtschaftlich wie auch international zweigeteilten Marktes, den Rajan skizziert. Wissenschaftsnahe Risikokapitalfirmen erschließen den sogenannten vorgelagerten Bereich der Identifikation von potentiell interessanten (weil diagnoserelevanten oder gar Einflussnahme versprechenden) Mustern oder Strukturen auf molekularer Ebene. Große Pharmaunternehmen hingegen beherrschen den sogenannten nachgelagerten Bereich: Entwicklung, Erprobung und Vermarktung verkäuflicher Produkte. Die internationale Zweiteilung steht quer dazu: In amerikanischen Biotech-Startups im Silicon Valley arbeiten non-resident Indians, also in den Vereinigten Staaten lebende indische Wissenschaftler, an der Charakterisierung von sogenannten "Targets" und "Haplotypen", von denen sich die Forschung mittelfristig Zugriffe auf das Genom erhofft. Andererseits konkurrieren hier indische Unternehmen - und vor allem wird Indien, speziell der Bundesstaat Andrah Pradesh, von großen Pharmafirmen als Sammelgebiet für menschliche Biodaten genutzt. Auch Kliniken für Medikamentenstudien internationaler Pharmakonzerne sind in Indien in großer Zahl entstanden, regelrechte Biofarmen wie der ICICI-Knowledge Park in der Nähe von Hyderabad oder das Wellspring-Hospital des indischen Pharmaunternehmens Nicholas Pirmal India Ltd. in Mumbai.

Rajan zeichnet nicht nur nach, wie der indische Bioboom entsteht und verläuft, ihn interessiert dessen spezielles Gesicht. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo private Investoren auf die Biobranche setzen, ist es in Indien der Staat, der in den neuen Markt investiert. Zugleich prägt ein nationales Vorzeichen den indischen Diskurs: Man wehrt sich gegen kolonialisierende Enteignungen - Krankenakten, Gendaten, indische Forschungsergebnisse sollen nicht global zu haben sein. Verwertet werden soll der Genbestand der indischen Bevölkerung aber sehr wohl. Unter diesem Vorzeichen sind es indische Staatskonsortien, welche Bioforschung, Menschenversuche und auch die Verbreitung von gentechnischen Pharmaka vorantreiben.

Als Beobachter des Innenlebens von Firmen, Organisationen, Netzwerken kann Rajan zeigen, wie der globalisierte Habitus amerikanischer Bio-Entrepreneure in Indien einerseits bestens ankommt, andererseits gleichwohl eine spezifisch indische Variante von Gentech-Unternehmertum wie auch Wissenschafts- und Technikvertrauen entstanden ist: Während in den Vereinigten Staaten private Investoren mittels gesamtmenschheitlicher Heilsversprechen angelockt werden (nicht wenige Biounternehmer sind fundamentalistische Christen), ist der bevorzugte Diskurs des indischen bioindustriellen Komplexes ein kruder Nationalismus.

Dieser zehrt ebenfalls von einem Glauben, nämlich von der Idee, vor allem müsse man international aufholen, um endlich in den Genuss eines bislang selbstverschuldet verfehlten Fortschritts zu kommen. So kann Rajan erzählen, wie dubiose Gewebebanken mit indischen Behörden kooperieren, wie amerikanische Firmen indische Nachwuchswissenschaftler rekrutieren, wie Biotech-Startups ihren symbolischen Wert ähnlich wie Fußballclubs öffentlich vermarkten und wie die Menschen vor Ort dabei zu Spekulationsobjekten werden - nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Träger von genetischer Information.

Im Zentrum der theoretischen Überlegungen des Buchs steht der Begriff "Biokapital", der bezeichnen soll, dass der Zugriff auf das Leben der Menschen inzwischen symptomatisch für die kapitalistischen Verhältnisse geworden sei. "Biokapitalismus" sieht Rajan nicht als gänzlich neue Form, sondern als "neue Facette und Phase" des von Marx analysierten Kapitalismus. Lieber aber spricht er von Kapitalismen im Plural - und mobilisiert auch über Marx hinaus allerlei theoretische Bezüge, um die Spezifik seiner Befunde einzukreisen.

Die meist nur kurz herbeizitierten Stichwörter und Autorennamen, mit denen er hantiert, ergeben nicht unbedingt ein klares, zuweilen auch ein irritierendes Bild: Warum Zizeks Rede von der "Überdetermination" des Kapitalismus angesichts der Frage nach der biotechnischen Mehrwertproduktion irgendwie weiterhelfen soll, bleibt im Text ebenso dunkel wie die Antwort auf die Frage, warum im Zusammenhang mit "Geben und Nehmen im Bereich der Genomforschung" einen halben Absatz lang auf Marcel Mauss eingegangen wird und später dann unvermeidlich der Name Derrida fallen musste. Auch sonst lässt Rajan kaum Namen aus, die man aktuell so kennen muss, und greift auch mal daneben. Mit Nietzsche-Zitaten etwa, die wie Füllsel wirken. Auch liest man mit Schmunzeln, dass ausgerechnet der uralte Unterschied zwischen Ethik und Moral, den Rajan für "bedenkenswert" erklärt, im Jahr 2000 durch jemanden namens Fortun vorgeschlagen worden sein soll.

Das Leben wird zur Ware oder zu einem Geschäftskonzept, "materiell-semiotische" Objekte (Genomabschnitte, Molekülgruppen, molekulare Muster) gewinnen Fetischcharakter, die Kommunikation des Wissenschaftssystems wird doppeldeutig, weil sie zugleich Zukunft prognostiziert und ökonomische Werte steigert, bezahlte Bioethiker beruhigen die Öffentlichkeit, verstärken aber den Hype: Befunde wie diese nennt Rajan "Biokapital", ohne diesen Ausdruck allerdings klar zu definieren. Was die Theoriearchitektur angeht, verliert sich Rajans ansonsten gut lesbares Buch vielfach in umschweifige Absichtserklärungen - und auf die Dauer im Gestrüpp.

Gleichwohl bleibt kein wirklicher Unmut zurück. Es sind Intuitionen im Spiel, denen man folgen kann, denn sie werden von gut erzählten Geschichten und ein Stück weit vom unterschwelligen Zorn des Autors getragen. Auch ohne den theoretischen Anker kommt Rajan, was seinen Gegenstand angeht, ein gutes Stück voran. Er greift nach dem, wonach man nur tasten kann: nach einem Verständnis dessen, was an unserer Gegenwart so eigenartig ist, dass man eben doch fassungslos bleibt.

PETRA GEHRING.

Kaushik Sunder Rajan: "Biokapitalismus". Werte im postgenomischen Zeitalter. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2009, 303 S., geb., 24,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2009

Sachbücher des Monats September
Empfohlen werden nach einer monatlich erstellten Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. GERHARD PAUL (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band 1: Bildatlas 1900 bis 1949. Band 2: Bildatlas 1949 bis heute. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, zus. 1840 S., 79,80 Euro.
2. MICHAEL HAMPE: Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück. Carl Hanser Verlag, 304 S., 21,50 Euro.
3. RICHARD OVERY: Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Übers. von Klaus Binder. Pantheon Verlag, 160 S., 12,95 Euro.
4. SEBASTIAN ULLRICH: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945 – 1959 (Hamburger Beiträge zur Sozialgeschichte, 45). Wallstein Verlag, 679 S.,
48,00 Euro.
5.-6. MANJIT KUMAR: Quanten. Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit. Übers. von Hainer Kober. Berlin Verlag, 560 S., 28,00 Euro.
QUENTIN SKINNER: Visionen des Politischen. Hg. von Marion Heinz. Übers. von Robin Celikates und Eva Engels. Suhrkamp Verlag, 309 S., 14,00 Euro.
7.-8. RÜDIGER SAFRANSKI: Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft. Carl Hanser Verlag, 344 S., 21,50 Euro.
JULIUS H. SCHOEPS: Das Erbe der Mendelssohns. Biographie einer Familie. S. Fischer Verlag, 496 S., 29,95 Euro.
9.-10. SUNDER KAUSHIK RAJAN: Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter. Übers. von Ilse Utz. Suhrkamp Verlag, 303 S., 24,80 Euro.
MATHIAS SCHREIBER: Das Gold in der Seele. Die Lehren vom Glück. Deutsche Verlags-Anstalt, 256 S., 19,95 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats September von Norbert Seitz: BARBARA FINKEN: Flaubert. Durchkreuzte Moderne. S. Fischer Verlag, 592 S., 24,95 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jacques Schuster, Norbert Seitz, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
Die nächste SZ/NDR/BuchJournal-
Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 30. September.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Voller Zustimmung und gefesselt hat Mario Scalla das Buch von Kaushik Sunder Rajan über den "Biokapitalismus" gelesen, in dem der indische Autor Zusammenhänge und Strukturen gentechnologischer Forschung und ihrer Vermarktung untersucht. Ein halbes Jahrzehnt hat der Autor in Amerika und Indien geforscht und recherchiert. Nun macht er sich nun mit dem theoretischen Rüstzeug von Marx und Foucault daran, den Begriff "Biokapitalismus" in all seinen Facetten auszuleuchten, erklärt der Rezensent. Schockierend haben auf ihn offensichtlich Rajans Recherchen in der einstigen Textilmetropole Hyderabad gewirkt, das heute mit Hilfe des IWF zum gentechnologischen Pharmazentrum umgebaut worden ist. Nicht nur würden die früheren Textilarbeiter als "Versuchskaninchen" für die Pharmaindustrie angeheuert, der indische Staat unterstütze dies auch noch massiv, lernt Scalla bei der Lektüre. Endlich ein Buch, das den von Foucault geprägten Begriff der Biopolitik "konkret und produktiv" verwendet, lobt der Rezensent. Dass der Autor nicht immer ganz sicher mit dem theoretischen Begriffsbesteck hantiert, verzeiht ihm Scalla, weil er dafür so viel Erhellendes zu den problematischen Seiten des "Biokapitalismus" beiträgt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Bücher, denen es gelingt, das ganz Abstrakte mit dem ganz Konktreten zu verbinden, haben einen besonderen Charme.«
Petra Gehring, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.08.2009