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"Das plötzliche Erkennen einer besonderen Frau. Die helle Formulierung eigener Dunkelheiten und der verblüffende Einklang in Dingen, von denen man geglaubt hatte, lebenslang mit ihnen allein bleiben zu müssen " Neue, große Erzählungen von Ralf Rothmann sind anzukündigen, und ob er nun von den Nöten einer Zwölfjährigen schreibt, die sich nach dem Tod der Mutter verantwortlich fühlt für die Familie, ob er einen Polterabend mit ostdeutschen Bauarbeitern schildert oder von einer Krankenschwester in der Uckermark erzählt, die ihr Haus westdeutschen Feriengästen überläßt, während sie mit ihrem Sohn…mehr

Produktbeschreibung
"Das plötzliche Erkennen einer besonderen Frau. Die helle Formulierung eigener Dunkelheiten und der verblüffende Einklang in Dingen, von denen man geglaubt hatte, lebenslang mit ihnen allein bleiben zu müssen "
Neue, große Erzählungen von Ralf Rothmann sind anzukündigen, und ob er nun von den Nöten einer Zwölfjährigen schreibt, die sich nach dem Tod der Mutter verantwortlich fühlt für die Familie, ob er einen Polterabend mit ostdeutschen Bauarbeitern schildert oder von einer Krankenschwester in der Uckermark erzählt, die ihr Haus westdeutschen Feriengästen überläßt, während sie mit ihrem Sohn im Garten campiert; ob er uns einen arbeitslosen Alkoholiker vorstellt, der seiner Frau auf die Schliche kommt, oder einen Zirkushelfer, der die Mißhandlung der Tiere nicht mehr erträgt immer ist die Liebe das Wasserzeichen dieser Geschichten.
Mit Eleganz und Eros und einer spannungsvollen Sprache schärft Ralf Rothmann uns die Sinne für die Mystik des Alltags, und wenn er uns nach einer scheinbar gewöhnlichen Zugfahrt Richtung Glücksburg den Boden unter den Füßen wegzieht, fühlen wir endgültig, daß ein Leben ohne Poesie und Leidenschaft nur das halbe wäre. Und das ist so der Autor in seiner Dankesrede zum Heinrich- Böll-Preis immer schwerer zu tragen als das ganze.
Nasse Spatzen · In tiefster Trauer · Stolz des Ostens Die Schatten der Seele · Mein zweibeiniger Bäcker · Gethsemane Rehe am Meer · Willst du Nudeln? · Spitze Schuhe Den Blitz begraben · Tausend Mönche · Der ganze Weg
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2006

Sieh jene Spatzen
In tiefster Trauer und größter Klarheit: Ralf Rothmanns Erzählungen versilbern den Alltag

Die erste Erzählung des neuen Erzählungsbandes von Ralf Rothmann heißt "Nasse Spatzen", und der Anblick der nassen Spatzen auf der vorletzten Seite der Geschichte bringt die Poetik des ganzen Buches zur Erscheinung. Der Ich-Erzähler, Manni, ist Handlanger auf einer Baustelle in Ostdeutschland. Die Spatzen baden im Morgengrauen in einer Pfütze. "Sie machten einen ziemlichen Wirbel mit ihren kleinen Flügeln, das Wasser spritzte wie Silber von ihnen ab, wie flüssiges Kristall, und ich wunderte mich noch; ich dachte, Spatzen baden nur im Staub." Mannis Chef, der alte Juhre, steht neben ihm am Fenster des Hauses, das den Bauherren binnen Wochenfrist übergeben werden soll. "Guck dir das an", sagt der Bauleiter. "Die haben keine Sorgen, was? Sind besser dran als wir. Die wissen überhaupt nicht, was das ist: Zeit."

Das Pfützenbad der sorg- und zeitlos herumwirbelnden Tiere ist die Umkehrung einer vorher geschilderten Szene. Manni kommt vom Polterabend eines Kollegen. Auch der Chef war erwartet worden, hatte sich aber nicht blicken lassen. Als Geschenk hatte Manni ein "Nippesding" mitgebracht, das er von seiner Mutter geerbt hatte: drei Spatzen auf einem Ast. Beim Auspacken brach der Bräutigam einem der Vögel die Schwanzfeder ab. Er machte Anstalten, das Präsent auf einen Scherbenhaufen in der Garage zu schleudern. "Doch er zielte nicht richtig, die Spatzen fielen in den Nachbargarten, zersprangen in einem leeren Bassin, und er grinste mich an." Die auf dem trockenen Boden des künstlichen Beckens zerschellten Porzellanvögel werden im Dreck, in der natürlichen, mit Regenwasser gefüllten Mulde wiedergeboren. Das zu Recht in Stücke gegangene konventionelle Symbol des Schönen erlebt seine Auferstehung in einer Kunst, die sich mit der Kontemplation des Naturgeschehens zufriedengibt.

Manni wunderte sich noch - "da sagte Juhre", er solle sich das angucken. Ralf Rothmann lehrt seine Leser, sich nicht mehr zu wundern, sondern einfach zu sehen. Der Alte hat seinen eigenen Polterabend veranstaltet und mit einer nagelneuen Brechstange das Werk seiner Leute zerstört, das nicht mehr rechtzeitig fertig werden konnte. Im Schlußbild der Erzählung wirbeln Juhre und Manni herum wie die Spatzen, sehen ihre "Schatten an den Wänden aus, als gehörten sie nicht zu uns".

Sieh jene Spatzen: Rothmann blättert ein ornithologisches Musterbuch auf. Der Backunternehmer, der in "Mein zweibeiniger Bäcker" die Kinder seines verwitweten Schulfreundes in sein Rosinenschneckenhaus lockt, hält sich auf dem Fabrikgelände eine sprechende Dohle. Ein paar Möwen bilden die Staffage für die "Rehe am Meer", die Titelerzählung, deren Ich-Erzählerin inkognito das zum Verkauf stehende Haus inspiziert, in dem sie vor ihrer Scheidung gewohnt hat. Zwei fette Ringeltauben landen in "Den Blitz begraben" auf dem Scheunendach des emeritierten Mystikspezialisten, dem am polnischen Alterssitz ein jovialer Landsmann seine Konversation aufdrängt. Der Widerhall von Schwanenschwingen aus dem Park ist im Kamin zu hören, als Andrea in "Willst du Nudeln?" am Totenbett ihres Mannes sitzt und ihn fragt, ob er noch den netten Klempner bestellt hat, der gerade die Thermen wartet. Krähen in Platanen sind Zeugen, als den Weg von Rechtsanwalt Carst auf der ersten Seite von "Tausend Mönche" ein Schuttlaster kreuzt, auf dem er kopfschüttelnd den Schriftzug "Offenbarung" entziffert. In der Erzählung "In tiefster Trauer" fliegt eine Elster vom Schornstein auf, als die spanische Sprachschülerin der Freundin des Ich-Erzählers diesem erzählt, daß sie ihr "Kleines" gemacht habe. Sie meint ihr kleines Diplom in deutscher Sprache, ihn sucht wohl für einen Moment eine Vision heim, in der Machen als Zur-Welt-Bringen übersetzt ist.

Die geborenen Diebinnen leben auch vor dem Kreuzberger Fenster der Buchhändlerin, die aus dem Beruf in ein Magisterstudium gewechselt ist und vor kurzem von einer Freundin ihre Traumwohnung im Vorderhaus einer kleinen Straße am Südstern übernommen hat. Präzision und Knappheit dieser bio- und geographischen Angaben sind charakteristisch. Rothmann nimmt seine Figuren aus dem Leben und braucht, um sie identifizierbar zu machen, kaum mehr Angaben als das Melderegister. Der Dichte der motivischen Arbeit zum Trotz ist nicht alles symbolisch. In jeder Erzählung gibt es Blindstellen, Einzelheiten, die vielsagend wirken, aber nichts zu bedeuten haben - unverknüpfte Fäden wie in einer unvollendeten Magisterarbeit. Auch die sprechende Dohle sagt übrigens kein Wort, sondern stößt einen Schrei aus. Nicht detailschwere Beschreibung individualisiert, sondern lakonisches Versammeln der Kontingenzen, die eine Biographie ausmachen. So unterbleibt in den Vogelvignetten alles Ab- und Übermalen der Federkleider in der Manier von Alfred Brehm oder Brigitte Kronauer.

Der Buchhändlerin obliegt es, die Formel für die Entschlüsselung des Vogelfluges bereitzustellen. "Tiere sind die Schatten unserer Seele - und die Seele unseres Schattens." Ihr Professor hat diesen Satz der Magisterarbeit durchgestrichen und am Rand notiert: "unwissenschaftlich". Er hätte auch schreiben können: poetisch. "Die Schatten der Seele" heißt diese Erzählung, wie sich fast alle Titel als Zitate entpuppen. Sie kommen in den Erzählungen vor, Redewendungen, die auf ein Schicksal verweisen, das nur chiffriert zur Sprache kommt. "In tiefster Trauer" ist ein Beispiel für den Elativ, in dessen Gebrauch die Andalusierin den Freund ihrer Lehrerin unterrichtet. Daß tausend Mönche begraben liegen, wo das Wasserschloß von Glücksburg steht, erzählt ein Mädchen einer Zugbekanntschaft, das auf dem Weg ist, seinen Vater unter die Erde zu bringen. Dem Tatsachenüberschuß der Texte korrespondiert der Sinnüberschuß der Titel. Der Effekt dieser Albumblätter erinnert an surrealistische Collagen.

"Stolz des Ostens" heißt die großartigste Erzählung. Ein weiteres Leitmotiv des Bandes ist der Spiegel, und hier wird die Spiegelung zum Verfahren. Der Stoff ist harmlos. Ein West-Berliner Ehepaar mit kleinem Kind mietet im Osten für die Ferien ein Haus am See. Die Frau, der das Haus gehört, zieht so lange mit ihrem Sohn in ein Wohnmobil. Die Geschichte wird abwechselnd aus den Perspektiven der Mieterin und des Sohnes der Vermieterin erzählt. Der erste Satz lautet: "Er stand schon wieder da." Die Frau beobachtet den Jungen, der die Eindringlinge beobachtet. Als die Frau ihr Unbehagen artikuliert, reagiert ihr Mann ungehalten. Kaffee schwappt über, Brotkrumen segeln vom Tisch. Spatzen fliegen herbei. "Sie lauerten im Gestrüpp."

Auf einem ziellosen Spaziergang betritt die Frau ein Pferdegestüt, von dem scheinbar die Schwalben Besitz ergriffen haben. Sie sieht ein Prachtexemplar von einem Hengst. "Stolz des Ostens, stand über der Box, und in seinem schwarzen, mir zugewandten Auge sah ich das helle Stalltor gespiegelt und meine winzige Silhouette." Man mag spekulieren, daß der Stolz des Ostens, eine im enteigneten Boden schlummernde Naturenergie, die andere Frau dazu bestimmt hat, den Mann in ihr Notquartier zu locken. Jedenfalls der Junge wird doch zum Rächer, wenn er die Frau, die ihn aus seinem Haus vertrieben hat, zur Tür des Liebesnestes führt. Aber solche Rationalisierungen sind suggestive Deutungsmöglichkeiten, die sekundär bleiben gegenüber dem von Rothmann in unvergeßlicher Klarheit, gleichwohl durchgehend indirekt vergegenwärtigten Geschehen. Beide Erzählerstimmen sind unschuldig. Allein durch die Abfolge von Bildern baut sich die schier unerträgliche Spannung des schwülen Sommers am See auf.

Die beiden Momente der fatalen Einsicht sind parallel gestaltet. Der Junge entdeckt die Turnschuhe des Berliners und schlüpft hinein. Als er auf seine Füße hinabblickt, bemerkt er, daß an seinen kurzen Hosen unzählige Bienenflügel kleben. "Sie glitzerten wie durchsichtiges Silber, und dann hörte ich Mamas Stimme hinter der Tür, ziemlich leise, und hielt den Atem an." Als die Betrogene, der gleichfalls die Insekten am Leib kleben, vor den Schuhen steht, sieht sie etwas, das ihr an der Hausbesitzerin aufgefallen war. "Ich fühlte meinen Puls in der Kehle und starrte auf den Schlüssel in der Tür des Wohnmobils, auf den silbernen Fisch, der sich leicht bewegte, immer wieder." Beide Male erhält der Augenblick der stillstehenden Zeit einen Überzug aus jenem Edelmetall, in das sich unter Mannis Augen das Spatzenbadewasser im ersten Sonnenlicht verwandelt.

Das Silber bildet im Motivhaushalt dieser so kunstvoll verbundenen Erzählungen die Deckung der Epiphanien, mit denen auch im prosaischsten Alltag zu rechnen ist. Silberfolie wird der Magistrandin vom schwulen Hauswart gegen Schimmel an der Wand empfohlen. Am Schluß entblößt sie den Silberring in ihrem Nabel, wie ihn auch das Mädchen, das den Vater verloren hat, trug, wo jetzt ein blutiges Pflaster klebt. Der nette Klempner hat ein silbernes Brauenpiercing. Wie stumpfes Silber sehen die Baumstämme in der Nähe der Großbäckerei aus, deren Eigentümer aus einem silbernen Flachmann trinkt.

In "Tausend Mönche" ist der "Spatz mit einem Stück Cellophanpapier im Schnabel" auf der zweiten Seite ein Todesbote, denn am Ende liegt "ein Stück Cellophan" unter dem Bett des Vaters. Was "Der ganze Weg", die letzte Erzählung, die einzige vogellose, den Lamas, den Lufttieren des Landes, zuspricht, das haben diese Erzählungen selbst: Gelenke aus Licht. Man kommt gar nicht dazu, sich über die Durchsichtigkeit aller Kunstmittel Ralf Rothmanns zu wundern. Man guckt sich das an.

Ralf Rothmann: "Rehe am Meer". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 214 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Wissen Spatzen, dass sie Spatzen sind?
Ralf Rothmanns Erzählungsband „Rehe am Meer” / Von Verena Auffermann
Wie bei Anton Tschechow ist Ralf Rothmanns einziger Held der hoffnungslose Mensch. Tschechow und Rothmann bauen Mauern um ihn herum und setzen ihn auf Sofas, Sessel, Esszimmer- oder Gartenstühle. Das Gespräch beginnt, kein Wort zuviel, kein Satz zu kompliziert, immer genug, um zu merken, dass alles ein Gegenüber braucht. Tschechow und Rothmann verstehen vom Reden soviel wie vom Schweigen. Tschechows Figuren dösen, schlafen und phantasieren. Die Zeit, die sie untätig vergeuden, ist das Kapital der neuen Schicht. Während die einen träumen, handeln die anderen.
Bei Ralf Rothmanns neuem Erzählungsband „Rehe am Meer” an Tschechow zu denken, ist so selbstverständlich wie der Vergleich mit Raymond Carver. Rothmann beschreibt nicht das Ende einer durch Standesprivilegien und Langeweile erschöpften Gesellschaftsschicht. Seine Personen sind seit seinem ersten, 1986 erschienenen Erzählungsband „Messers Schneide” Bergleute, Handwerker, Arbeitslose. Sie sind von harter Arbeit und der Poesielosigkeit ihres Lebens ruiniert. Bei Tschechow existiert noch die Sehnsucht, das Warten auf Erfüllung, das gibt es bei Carvers und bei Rothmanns Menschen nicht. Ihr Lebensraum ist hart bemessen, ihre Sehnsüchte zu real für Seufzer. Tschechow, Carver und Rothmann beherrschen die Ökonomie der Mittel, sie können mit ein paar Sätzen ein dichtes Milieu skizzieren und eine Stimmung herstellen, die stark wirkt auf engstem Raum.
In Rothmanns Welt, weitab vom Glamour, schaut man in einen Rundspiegel, um den zugänglichen Ausschnitt im Blick zu haben, trinkt Bier, oft zuviel, hat keine Zeit, Zeit mit Worten zu verlieren, ruft schnurstracks „ich will Dich ficken”, und wenn ein Kumpel traurig ist, tröstet der andere: „Du bist stark, brauchst nicht intelligent zu sein.” Im neuen Band gibt es auch ein paar Akademiker, eine Frau Doktor, einen Rechtsanwalt. Ihre Sprache, ihre Attitüden, ihre Kleidung sind anders, ihre Ohnmacht vor dem Schicksal ist es nicht.
Rothmann-Leser wissen, dass aus dem Ruhrgebietsbeschreiber ein Berlinkenner geworden ist, der die geographische Gegend gewechselt, nicht aber die Menschen, die er am besten kennt, aus dem Blick verloren hat. Sie wissen auch, dass in Rothmanns Werk immer wieder ein genauer, anteilnehmender, ein liebender Blick auf Kinder und Jugendliche fällt. Er will sie nicht aus Kindheitsangst und Pubertätswirren retten, Rothmann erklärt durch die Kunst seiner Beschreibung, die nie herablassend oder beschwichtigend ist, dass ein Entkommen möglich sein kann.
Es gibt viele Konstanten in Rothmanns Romanen und Erzählungen, neben der Milieutreue und dem Interesse an der Pein Heranwachsender ist es eine Affinität zu Hirsch und Reh. Seine Lieblingstiere, er setzt sie ein, um eine mythische Schicht unter die gerade Linie schnörkelloser Alltage zu ziehen.
Seit dem Roman „Wäldernacht” bilden Hirsch und Rehe Fixpunkte. Der Künstler Jan Marée kauft in „Wäldernacht” auf Flohmärkten „Röhrende Hirsche”, um die Schlafzimmerschinken des Volks mit sexueller Lust zu übermalen. Diese Bilderauslöschung war für Jan Marée zugleich eine Rache an den Liebesnächten, die in den Betten unterhalb der Bilder stattgefunden haben. Im Erzählungsband „Ein Winter unter Hirschen” werden die Hirsche in die Realität eines Waldrands zurückgestellt, eine graubraune Herde aus Rehen, Böcken, Damwild und Hirschen. Ihr plötzliches Auftauchen spiegelt das Unheimliche und die offene Angst wider, dem ein Paar hinter dem Fenster ausgeliefert ist. Im neuen Erzählungsband „Rehe am Meer” gleiten Rehe über den Ostseestrand, vor einer Kulisse aus Packeis, ein perfektes Bild, das jetzt nicht wie in „Wäldernacht” übermalt und nicht wie im „Winter unter Hirschen” entfernt hinter der Fensterscheibe bleibt. In „Rehe am Meer” läuft eine Frau in Strümpfen den Rehen am Meeressaum entgegen und wird Teil des Bildes, wie es vom Zimmerfenster aus zu sehen ist. „Na bitte”, ruft der Nachbar, „na bitte, jetzt haben Sie nasse Strümpfe gekriegt! Da sieht man schön Ihre Spuren”.
Die filigranen Flügel der
Bienen sind das Gegenbild zur
Schwere alles Irdischen
Diese „Spuren” interessieren den Autor. Neben den Fußspuren der Frau und der Rehe sind es Fußspuren von Spatzen („vielleicht wissen die nicht einmal, dass sie Spatzen sind”) oder die filigranen Flügel der Bienen, die das Gegenbild für die hoffnungslose Bodenhaftung der Menschen, für das verdammt Schwere des Irdischen sind. Und noch etwas an diesen zwölf Erzählungen ist hervorstechend: Die Bedeutung der Räume. Der Raum, die Wohnung, das Haus als zweite Haut des Menschen, als Schutz, Versteck und Verließ. Raum bedeutet aber auch Grenzraum, denn einige der Erzählungen sind eingeschleuste ostdeutsche Geschichten. Über Westler, die im billigen Osten ihr Alter verbringen wollen und Distanz und Nähe nicht auseinander halten können; über Alpträume, noch immer in den Westen fliehen zu müssen. Rothmann hält das Ost-West-Thema flach, er spielt nichts aus. Was er, der Asket des Adjektivs, andeutet, genügt, um die Auswirkungen einer Vergangenheit, die seit siebzehn Jahren Geschichte, aber nicht überwunden ist, anzusprechen.
Ralf Rothmann zeigt in „Rehe am Meer” einen neuen Blick für absurde Kollisionen, für das Gelächter am Abgrund, für das Mischverhältnis von Überleben und Sterben und die Hilflosigkeit in beidem. Es ist ein Kunststück, wie Rothmann Citha, einer nachgeborenen „Zazie”, erbarmungslosen Drive gibt, wie er die Schnelligkeit einer Zugfahrt und die Schnelligkeit von Cithas Gequassel gegen die angehaltene Zeit setzt, die Mutter und Tochter am Bett des sterbenden Ehemanns und Vaters erwartet. Neben den Varianten des Tempos sind es die Geräusche, die sich im Schweigen verlieren, die Clogs des Personals (Clogs haben es Rothmann angetan), das leise Klirren der Instrumente, das Zwitschern der Vögel im Klinikgarten.
Der Tod oder das Ende einer Liebe kehrt leitmotivisch in den Erzählungen des Bands wieder. Schmale Ausblicke auf den Strand, auf rasende Bilder einer Zugfahrt, auf verwilderte Gärten reflektieren die Innenwelt, um die es Rothmann geht. Diese Innenwelt ist kein offengelegtes Labor. In den Erzählungen gibt es ein einschneidendes Ereignis und einen unerwarteten Zeugen, der als Gegenüber die Sprachlosigkeit des Lebens formuliert. Ohne ein Gegenüber ist der Erzähler machtlos.
Es ist schwer zu sagen, welche von diesen Schicksalsgeschichten die beste ist. Das ist auch ohne Bedeutung. Denn Ralf Rothmann, der in seinem letzten Roman „Junges Licht” auf einem Höhepunkt seiner Form angekommen zu sein schien, geht in „Rehe am Meer” noch ein Stück weiter. Er lässt Reden und Schweigen, Geräusch und Stille, Leben und Tod aufeinandertreffen und hält die Balance zwischen der unbedingten Leichtigkeit des Erzählens und der bodenlosen Schwere des Themas. Wenn Ralf Rothmann ein amerikanischer Erzähler wäre, würden wir ihn mit Goldpapier umwickeln und in den Bücherhimmel heben. Wir sollten so selbstsüchtig sein und diesem Gegenwartserzähler die Größe zuschreiben, die er hat.
Rolf Rothmann
Rehe am Meer
Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 213 S., 19,80 Euro.
Der Hirsch berührt bei Rothmann die mythische Schicht unseres schnörkellosen Alltags.
Foto: mauritius images
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

"Sehr gut" hat Rezensent Christoph Schröder dieser Erzählband gefallen. Er findet die darin enthaltenen Texte subtil gebaut und sensibel vom Leben und Leiden eher im Prekärmilieu angesiedelter Menschen, also Arbeitern, Alten und Alleinerziehenden erzählen. Für Schröder zeichnen sich die Geschichten außerdem durch ihre "Durchmischung" verschiedener Wahrnehmungsebenen und eine große Sinnlichkeit aus. Er mag auch den zwischen "Jargon, Umgangssprache und scheinbar kühler äußerer Beschreibung" oszillierenden Ton und die "konkrete Verankerung" des Erzählten in der Wirklichkeit.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ralf Rothmann ist gut. Mehr noch, er ist einer unserer Besten.« DIE ZEIT