Marktplatzangebote
230 Angebote ab € 0,50 €
  • Gebundenes Buch

8 Kundenbewertungen

"Ich bin glücklich, wollte Jakob sagen, aber der Satz war wie ein Holzpüppchen, das man behutsam aufstellte und das sich doch nur einen Augenblick hielt, bevor es umkippte."- Isabelle und Jakob treffen sich am 11. September 2001 nach Jahren auf einer Party in Berlin wieder. Sie verlieben sich,heiraten und bekommen die Chance, nach London zu ziehen, wo Jakob - Schicksal? Zufall? - eine Stelle in einer Anwaltskanzlei antritt, die eigentlich für einen Kollegen vorgesehen war, der bei den Anschlägen auf das World Trade Center umgekommen ist. Isabelle arbeitet von dort aus weiter für ihre Berliner…mehr

Produktbeschreibung
"Ich bin glücklich, wollte Jakob sagen, aber der Satz war wie ein Holzpüppchen, das man behutsam aufstellte und das sich doch nur einen Augenblick hielt, bevor es umkippte."- Isabelle und Jakob treffen sich am 11. September 2001 nach Jahren auf einer Party in Berlin wieder. Sie verlieben sich,heiraten und bekommen die Chance, nach London zu ziehen, wo Jakob - Schicksal? Zufall? - eine Stelle in einer Anwaltskanzlei antritt, die eigentlich für einen Kollegen vorgesehen war, der bei den Anschlägen auf das World Trade Center umgekommen ist. Isabelle arbeitet von dort aus weiter für ihre Berliner Grafikagentur und genießt, in den spannungsreichen Wochen vor Ausbruch des Kriegs im Irak, ihr Londoner Leben. Die beiden haben alles, was ein junges, erfolgreiches Paar braucht - und stehen doch mit leeren Händen da. Sehnsüchtig und ratlos sehen sie zu, wie ihr Leben aus den Fugen gerät. Jakob ist fasziniert von seinem Chef, Isabelle von Jim, dem Dealer. Die untergründigen Ströme von Liebe und Gewalt werden spürbar, und das Nachbarskind Sara wird ihr Opfer. Wie das Weltgeschehen ins eigene Leben eingreift, wie sehr dabei die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen oder mitzufühlen, kollidiert mit der Sehnsucht nach existentiellen Erfahrungen, das erzählt Katharina Hacker meisterlich. Sie erzählt von jenen Mittdreißigern, die alle Möglichkeiten und Handlungsfreiheiten haben, sich selbst und die Menschen in ihrer Umgebung aber nicht vor Unheil bewahren können.
Autorenporträt
Katharina Hacker, 1967 in Frankfurt am Main geboren und aufgewachsen, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Freiburg und Jerusalem. Sie arbeitete mehrere Jahre in Israel und lebt seit 1996 als Autorin in Berlin.
Katharina Hacker wurde zur Stadtschreiberin 2005/2006 von Bergen-Enkheim gewählt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2006

Nichts wird gut
Unerbittlich: Katharina Hackers Roman ihrer Generation

Über die Befindlichkeit der zwischen 1965 und 1975 in der Bundesrepublik Geborenen wurde die lesende Öffentlichkeit ausführlich unterrichtet. Unpolitisch, aber stil- und markenbewußt, sollen sie zunächst gut gelaunt den von ihren Eltern erarbeiteten Wohlstand genossen haben und nur sporadisch vom Gefühl einer zähen Bewegungslosigkeit befallen worden sein. Auf die Wirtschaftskrise und die Terroranschläge seien sie unter Helmut Kohls Obhut nicht vorbereitet worden; so sei die Entspanntheit unversehens in nicht weniger als apokalyptische "Weltangst" umgeschlagen.

Die bisherigen Romane einer der begabtesten Erzählerinnen dieser Generation fügten sich aber nicht in das Schema. Die 1967 geborene Katharina Hacker, derzeit Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim, hatte sich vielmehr bitteren Geschichten aus der Vergangenheit gewidmet, um sie, nach einem Wort Paul Ricoeurs, annehmbar zu machen "trotz allem". In "Der Bademeister" (2000) ließ sie einen Ausgesonderten sprechen, den in einem nach der Wende geschlossenen Badehaus Prenzlauer Berg die deutsche Geschichte umtreibt. In "Eine Art Liebe" (2003) wurde das Schicksal eines Überlebenden der Judenverfolgung von einer deutschen Studentin in Israel erzählt. Die langsam zutage tretende Geschichte der von einem Verrat verdunkelten Freundschaft des Überlebenden zu einem Jugendfreund, der nach dem Krieg in ein Trappistenkloster geht, fünfzig Jahre später nach Berlin flieht und dort unter recht unchristlichen Umständen zu Tode kommt, wurde kunstvoll damit verknüpft.

In die Entfremdung entführt

So überrascht es, daß Katharina Hacker am Anfang ihres neuen Romans "Die Habenichtse" nun Menschen ihrer Generation, die wie unvermeidlich Golf fahren, in den schicken Läden, Ateliers, Bars und Restaurants zwischen dem Hackeschen Markt und der Kreuzberger Bergmannstraße aufsucht. Jedoch ist von vornherein bezeichnend, daß das Geschehen im "Würgeengel" seinen Anfang nimmt, der ultimativ stilisierten Bar in Berlins neuer Mitte, deren Name kokett auf Luis Buñuels Abendgesellschaft Bezug nimmt, die auf unerklärliche Weise gefangengehalten wird. Die Hauptfiguren des Romans, Isabelle und Jakob, entrinnen allerdings scheinbar dem schicken Ambiente, ihre Wahl aber ist blind, und so werden sie mit der Unausweichlichkeit des Tragischen in die Entfremdung geführt.

Die beiden haben sich nach langer Trennung am 11. September 2001 auf einer Party in Berlin wiedergetroffen und sich erneut ineinander verliebt. Für dieses Rendezvous hat Jakob, ein auf Restitutionsansprüche von aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen Verfolgten spezialisierter junger Anwalt, einen Termin im World Trade Center verschoben und ist so im Gegensatz zu seinem Kollegen Robert dem Tod entgangen. Obendrein erhält nun statt des Umgekommenen er den begehrten Posten in einer renommierten Londoner Kanzlei. Isabelle wird ihn begleiten, denn ihre Tätigkeit in einer Graphikagentur kann sie auch von dort aus weiterführen. Vorher heiraten sie, weil es "so passend" ist. In Isabelles Augen aber nimmt Andras, ihr liebender Freund und Agenturpartner, plötzlich "eine unerbittliche Ziellosigkeit" wahr.

Das Datum des 11. September ist der Geschichte jenseits des Sensationellen eingeschrieben. Am Verhalten der schicken Clique, die sich im "Würgeengel" trifft, ändert die hilflose Aufregung darüber nichts. Es ändert sich im Gegensatz zu George Bushs Prophezeiung überhaupt nicht viel, jener Tag markiert lediglich "die Scheidelinie zwischen einem phantasierten, unbeschwerten Vorher und dem ängstlichen, aggressiven Gejammer, das sich immer weiter ausbreitete". Dieses Gejammer gilt dem Verlust einer Wirklichkeit, auf die man glaubte Anspruch zu haben. Jakob, der "die Ablagerungen der Geschichte" als "alte Ungerechtigkeit" täglich auf dem Schreibtisch hat, erkennt das, und doch gibt er sich der Illusion hin, für ihn und Isabelle würde sich in London alles ändern. Wie ein tragischer Held wählt er genau das Verhängnis, dem er entgehen will. Statt für die Wohnung in Primrose Hill, wo man posh, also angemessen schick wohnt, entscheidet er sich für ein Haus in Kentish Town, nicht gerade die beste Adresse für einen Anwalt und seine unbekümmert ihre Reize zur Schau stellende junge Frau.

In der Lady Margaret Road mit den viktorianischen Fassaden hat die Erzählerin den Schauplatz vorbereitet, auf dem sich die Katastrophe der Teilnahmslosigkeit abspielen wird. Denn sie ist schon dagewesen, bevor ihr schönes Pärchen dort einzieht. Mit den Augen Saras, eines geprügelten, bettnässenden Kindes, hat sie in das verwahrloste Wohnzimmer einer Proletarierfamilie geblickt und Jim, einen ebenfalls dort wohnenden jungen Stricher und Drogendealer, auf seinen Streifzügen durch das Milieu begleitet. Das alles wird mit einer schmerzhaften Detailliertheit in der Beschreibung des Sichtbaren geschildert, die den Blick auf eine Fensterscheibe zu einem Schauspiel der Beängstigung werden lassen kann. "Die Regentropfen waren zu langen Streifen zusammengelaufen, die Streifen angeschwollen, sie hatten Ausbuchtungen, dicke Knoten gebildet, die platzten und auseinanderrannen, in dünnen, hastigen Fäden, deren Spitzen giftig aussahen, doch das täuschte, denn meist wurden sie von einem breiteren, viel langsameren Rinnsal geschluckt, unfähig, sich in Sicherheit zu bringen."

Die Topographie Berlins wie Londons, Regent's Park in der Mitte des Geschehens, wird so präzise geschildert, daß der Leser die Wege der Protagonisten gehen könnte, sofern sie sich nicht verlaufen haben. Derart läßt Katharina Hacker keinen Zweifel, daß es die von einem Trauma aus der Zukunft überschattete zeitgenössische Wirklichkeit ist, die hier zunehmend unheimlich dargestellt wird.

Unbarmherzig entfaltet die Erzählerin die Handlung als ein Drama gegenseitiger Blicke. Wie zwangsläufig werden alle Hauptfiguren zu Voyeuren, die in ein grausames Spiel von Ähnlichkeiten und Übertragungen, Anziehungen und Abstoßungen gezogen werden, für dessen Sinn sie sehenden Auges blind bleiben. Isabelle beobachtet das Kind, und es blickt beängstigend starr zurück wie das bucklicht Männlein. Sie hört die Geräusche der Gewalt aus dem Nebenhaus, aber sie bleibt "unbehelligt" und unschlüssig. Einen untauglichen Versuch der Teilnahme bricht sie angewidert ab: "wie idiotisch, sich einzumischen". Eine ermordete Katze hätte sie metaphorisch an den Zusammenhang alles Lebendigen erinnern können, Sara wird von ihrem Bruder "little cat" genannt, aber sie erkennt auch dieses drastische Zeichen nicht. Derweil wächst ihre Enttäuschung, daß nichts Aufregendes passieren will. Sie streunt in immer grauer werdenden Turnschuhen durch Londons Straßen, sieht und wird gesehen oder zieht sich auf ihre Arbeit zurück und verläßt das Haus nicht. Jakob kommt spät aus der Kanzlei; im Bett liegend, ohne zu schlafen, hofft er, Isabelle möge noch nicht kommen. Schleichend entfremden sie sich einander und wissen nicht, warum.

Jakob ist fasziniert von Bentham, dem Inhaber der Kanzlei, einem emigrierten deutschen Juden, der einmal Bensheim hieß. Im Gespräch mit ihm dämmert ihm etwas von "der Traurigkeit und dem Entsetzen, daß es keinen Ort gibt, der unberührt geblieben ist von der Wahrheit, der Kälte" und von den Kausalitäten einer Geschichte, die nicht Schicksal war, sondern "Politik, Handlung, Wille". Rückerstattung ist, so muß er erkennen, eine Farce, nichts ist wiedergutzumachen. Der Jurist möchte sich rückwirkend als "Historiker einer als gerecht gedachten Geschichte" verstehen, aber die Geschichte läßt sich nicht zusammenfügen über die geraubte Erinnerung hinweg.

Spatzen der Freiheit

An Bentham bewundert Jakob ein Hinnehmen der Vergangenheit trotz allem, eine Haltung, die aus der Zwiesprache mit den Toten den Mut gewinnt, sich der Wirklichkeit zu stellen und etwas Neues zu beginnen, auch wenn nichts geheilt werden kann. Bentham liebt Spatzen, weil das hebräische Wort dafür zugleich Freiheit bedeutet. Auf seinen vorabendlichen Spaziergängen im Park sieht er aber immer weniger davon. Selbst in seiner Eigenschaft als alternder Homosexueller weiß er sich mit den Gegebenheiten selbstbewußt zu arrangieren, sein Leben gegen alte und neue Zumutungen zu verteidigen. Für Menschen seiner eigenen Generation dagegen muß Jakob erkennen, daß sie weder wirklich geben noch nehmen können, daß die Anteilnahme am Leben und Leiden anderer vielleicht echt ist, die Teilnahme aber verhindert oder vorgetäuscht. Nur scheinbar paradox stehen in dem Roman gerade die, welche wirklich Verluste zu beklagen haben, nicht mit leeren Händen da. Sie wissen, was sie besitzen, weil sie verloren haben.

Auch Isabelle fühlt sich vom anderen angezogen. Ihr verquer erotisches Interesse an Jim erscheint als fatale Sehnsucht nach der Härte des wirklichen Lebens. Der underdog aber zerbricht in seiner Wut auf eine heillos feindliche Welt das falsche Spiel der Ähnlichkeiten. Isabelle ähnelt seiner verschwundenen Liebe Mae, die sich nach der Ordnung eines bürgerlichen Lebens sehnte. "Sie glaubte ihm nicht, daß er sie liebte, daß alles gut werden würde." Nur von einem Foto, auf dem man eine häßliche Narbe erkennt, weiß er, daß ihre Flucht sie unter brutalere Gewalt geraten ließ. Isabelles unberührt scheinendes Gesicht reizt ihn zu einer grausamen Therapie der Konfrontation mit dem Leiden anderer.

Als sich die Gedemütigte endlich zu einem eigentlich selbstverständlichen Akt der Mitmenschlichkeit aufrafft, scheint es zu spät zu sein. "Es wird anders jetzt", sagt Jakob hilflos, während er ihr Gesicht betrachtet, das ihm fremd und traurig erscheint. Die Lady Margaret Road aber liegt verlassen da, als wären die Anwohner "einer Warnung gefolgt, die Straße zu räumen, nur er und Isabelle hatten nichts begriffen".

Katharina Hackers Bild zweier Menschen, denen es an nichts fehlt und die doch weder zur Gemeinschaft noch zur Selbstsorge fähig sind, beeindruckt um so mehr, als sich die Erzählerin scheinbar kaltsinnig jedes moralisierenden Kommentars enthält. In souveräner Beherrschung der Technik eines multiperspektivischen realistischen Erzählens exponiert sie eine zeitgenössische Wirklichkeit, die als erscheinende nur sinnhaft erfahren werden kann, wenn sie mit dem ihr eingeschriebenen Gedächtnis des Leidens angenommen und als Mitsein gestaltet wird. So erweist gerade der deprimierende Verlauf der Liebesgeschichte die Möglichkeit der Liebe.

Schon in Katharina Hackers letztem Roman konnte der Leser die bewegende Kraft ihrer kühlen und eleganten Sprachführung bewundern. In "Die Habenichtse" hat die Autorin ihre außerordentlichen erzählerischen Fähigkeiten noch einmal erweitert und die Höhe der besten europäischen Tradition einer sozial engagierten und geschichtsbewußten Romankunst erreicht.

Katharina Hacker: "Die Habenichtse". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 313 S., geb., 17,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

" Für Rezensent Friedmar Apel hat sich Katharina Hacker mit ihrem neuem Roman nicht nur erneut als begabteste Autorin ihrer Generation gezeigt, sondern die Höhe der besten europäischen Tradition einer sozial engagierten und geschichtsbewussten Romankunst erreicht. Sie porträtiere ein junges, karriereorientiertes Paar, das sich nach langer Trennung auf einer Party in Berlin wiederbegegnet, heiratet und nach London zieht, wo der junge Ehemann einen begehrten Posten in einer Anwaltskanzlei bekommt und seine Frau eine Grafikagentur führen würde. Apel ist beeindruckt, wie "scheinbar kaltsinnig" Hacker mit ihren Protagonisten Jakob und Isabelle "das Bild zweier Menschen" zeichnet, die alles haben und trotzdem "weder zur Gemeinschaft noch zur Selbstsorge fähig sind". Das Buch überzeugt ihn auch mit seinen Randfiguren, einem jungen Stricher und Drogendealer, mit dem Isabelle eine Affäre hat und Jakobs Chef Bentham, einen emigrierten deutschen Juden. In "kühler und eleganter Sprache" sowie "souveräner Beherrschung der Technik eines multiperspektivischen Erzählens" exponiere Katharina Hacker eine zeitgenössische Wirklichkeit, die zunehmend unheimlicher werde.

© Perlentaucher Medien GmbH"

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2006

Unerbittliche Ziellosigkeit
Katharina Hackers Roman „Die Habenichtse”
Um ein leeres Zentrum kreisen Trabanten. Es ist eine kühne Konstruktion, die Katharina Hacker für ihren neuen Roman gewählt hat. Zwei Hauptfiguren, die blass und durchsichtig sind, charakterlose Kinder des bundesrepublikanischen Wohlstands, die nichts an sich herankommen lassen, bilden das Zentrum. Jakob und Isabelle haben sich Anfang der neunziger Jahre als Studenten in Freiburg kennen gelernt, eine Nacht miteinander verbracht und sich dann vergessen; d. h. sie hat ihn vergessen, er sie aber nicht. Zehn Jahre hat er sich als Frist gesetzt, so lange will er auf sie warten. Der Zufall kommt ihm zu Hilfe. Eine Freundin veranstaltet ein Fest in Berlin, wo beide inzwischen wohnen, und Isabelle wird dort sein. Es gelingt ihm, einen Geschäftstermin zu verschieben: vom 11. auf den 9. September. Dann ist er rechtzeitig aus New York zurück, um sie zu treffen.
Hinterher wird er sich sagen müssen, dass Isabelle seine Rettung war. Ohne sie wäre am 11. September 2001 er im World Trade Center gewesen und nicht sein Freund und Kollege Robert, der beim Attentat ums Leben kam. Kein Wunder also, dass die beiden heiraten. Ein Wunder aber, wie sie das tun: so unauffällig und unspektakulär wie nur möglich. Nicht einmal die Eltern werden eingeladen und, was noch erstaunlicher ist, sie machen nichts aus dieser gewaltigen Ouvertüre für ein gemeinsames Leben.
Ein Thesenroman ohne These
Wo die Umstände förmlich nach Begriffen wie Schicksal, Vorsehung oder zumindest Fügung schreien, begeben sich die beiden in eine routinierte Durchschnittsehe zweier wohltemperierter Erfolgsmenschen. Sie ist Teilhaberin eines Grafik-Büros und findet die Heirat schlicht „passend”, er ist Jurist und formuliert als Spezialist für Restitutionsprozesse sein Verhältnis zu ihr so: „Zu seiner Liebe zu Isabelle gehörte das Zufällige ihrer Begegnung unbedingt dazu. Andererseits musste sie in gewisser Weise ihm restituiert werden: Er hatte lange genug darauf gewartet, und wie man es drehte und wendete, dieses Warten selbst war sein Anspruch.”
„Die Habenichtse”, der nach „Der Bademeister” und „Eine Art Liebe” dritte Roman der 1967 geborenen Katharina Hacker, ist ein verstörendes Buch. Wagemut und Ängstlichkeit halten sich auf merkwürdige Weise die Waage. Es liest sich wie ein Thesenroman, dem alle Thesen ausgetrieben wurden. Man spürt sofort, dass sich hier jemand über die Gegenwart eine Menge Gedanken gemacht hat. Und ist bei einer Autorin wie Katharina Hacker, die Philosophie, Geschichte und Judaistik studiert hat, umso mehr verblüfft, dass sich diese Gedanken nicht zu einer Haltung formen. „Die Habenichtse” ist ein desorientierendes Buch über die Desorientierung. Die wahren, klugen, erhellenden Sätze werden von Nebenfiguren gesprochen. Beinahe aus dem Off. Das Zentrum aber bleibt leer. Ringsum wimmelt es von grausam genau beschriebenen Szenen nackter Existenzkämpfe, von unbehausten Metropolenbewohnern des 21. Jahrhunderts, Randfiguren der Gesellschaft ohne Aussicht auf ein besseres Leben, doch mit immer wieder aufflackernden Hoffnungen.
Jakob und Isabelle haben nicht einmal dies: keine Sehnsüchte, keinen Glauben, keine Illusionen. Die beiden ziehen nach London. Jakob bekommt die Stelle in der Kanzlei des jüdischen Anwalts Bentham, die eigentlich für den toten Freund vorgesehen war. Isabelle arbeitet weiter als Grafikerin und Illustratorin, von ihrem neuen Wohnsitz aus, einem viktorianischen Reihenhaus in Kentish Town. Sie haben wenig Zeit füreinander. Wenn sie sich sehen, dann meist in der Gruppe. Man geht gemeinsam essen, Alistair, ein Kollege Jakobs, ist fast immer dabei. Auch er, ein charmanter Bruder Leichtfuß, der beide anzieht, gehört zu den Nebenfiguren, die den Roman tragen.
Alle scheinen besser mit dem Leben zurecht zu kommen als das junge Ehepaar in den Mittdreißigern. Etwa Bentham, der als Kind mit einem Schild um den Hals, „zur Adoption freigegeben”, aus Nazi-Deutschland nach London kam, seinen Lebensgefährten bei einem Motorradunfall verloren hat und trotz aller Verluste ein volles, rundes Menschenleben führt. Oder die beiden Geschäftspartner, die Isabelle in Berlin zurückgelassen hat. Der eine findet trotz der Trauer um seine verstorbene Frau eine neue Liebe und wird spät noch Vater. Der andere, als jüdischer Exil-Ungar ein „doppelter Exot”, liebt eigentlich Isabelle und schafft es dann doch, sich auf eine gleichaltrige Frau einzulassen. Will man eine grobe Ordnung in diesen Roman bringen, dann kann man eine Grenzlinie erkennen: die unter Vierzigjährigen haben keine Ahnung wie das geht, ein Leben führen, die Älteren kommen auch nach Schicksalsschlägen wieder auf die Beine.
Auf der anderen Seite der Lebensfront stehen drei junge Engländer. Jim, der finster attraktive Klein-Dealer und Gelegenheitskriminelle, der seine Junkie-WG verlassen hat, um für ein Jahr die Wohnung eines Freundes zu übernehmen. Und das Geschwisterpaar Dave und Sara, zwei Kinder, die vom Vater misshandelt werden, rührend in seiner hilflosen Ritterlichkeit der große Bruder, so heillos verloren das kleine Mädchen, das von seinen Eltern wie ein Tier gefangen gehalten wird, dass es einem das Herz abschnürt. „Erbarmen!”, möchte man rufen - und das ist auch das Stichwort, das am Ende des Romans fällt. Da erinnert sich Jakob daran, dass der von ihm verehrte, fast schon geliebte Bentham von der Notwendigkeit des Erbarmens gesprochen hat. Aber er weiß prompt nicht mehr, in welchem Zusammenhang.
Katharina Hackers Roman geht mit den ganz großen Themen um: Tod, Liebe, Schuld. Wie ihre weibliche Hauptfigur versucht auch sie, mit „unerbittlicher Ziellosigkeit” hinter das Geheimnis der Existenz zu kommen. In all ihren Büchern gibt es einen Strom unterdrückten homosexuellen Begehrens, der gelegentlich manifeste Inseln ausbildet. Auch Jakob und Isabelle haben homoerotische Affinitäten. Aber genügt das schon, um zu erklären, warum sie so wenig mit sich und dem Leben anfangen können? Immer wieder erwägt der Roman die These, Kinder zu haben sei die einzige Möglichkeit, mit der schwindenden Zeit umzugehen. Doch die beiden sind selbst wie Kinder, die darauf warten, dass ein Erwachsener sie an die Hand nimmt. Als das Nachbarsmädchen Sara dringend ihre Hilfe braucht, schnappt sich Isabelle statt dessen deren Katze und lässt das Mädchen weinend, kotzend und rotzend im ummauerten Garten ihres verlassenen Elternhauses zurück.
Bestimmte Dinge haben sie nie gelernt: weder wie man Abschied nimmt oder jemanden willkommen heißt, noch wie man im Leben Bedeutung für sich und andere herstellen kann. „Die Habenichtse” ist ein streng konstruierter, szenenstarker Roman, der in einer Art negativen Theologie durchspielt, wie armselig das Leben in den Metropolen der Gegenwart aussieht. Den letzten Schritt aber wagt die Autorin nicht: Die These auszusprechen, dass ihre eigene Generation verloren sein könnte, wenn sie keinen Weg findet, dem Leben Bedeutung zu geben. MEIKE FESSMANN
KATHARINA HACKER: Die Habenichtse. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 309 Seiten, 17,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr