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Als die Panzer im August 1968 in Prag einrücken, werden der dreizehnjährige Ondra und sein kleiner Bruder Kamil vom Vater aufs Dorf geschickt. In der wilden, von Höhlen, Bunkern und verlassenen Weilern gezeichneten Landschaft unweit der polnischen und deutschen Grenze hat die Familie oft die Sommerferien verbracht. Hier hat Ondra sich im letzten Jahr verliebt, in Zuza, die Tochter des Gastwirts; sehnsüchtig-bang erwartet er das Wiedersehen. Doch die erste Liebe und die Abenteuerwelt der Heranwachsenden werden überschattet von rätselhaften Morden in der Gegend und von der Prager Geheimpolizei.…mehr

Produktbeschreibung
Als die Panzer im August 1968 in Prag einrücken, werden der dreizehnjährige Ondra und sein kleiner Bruder Kamil vom Vater aufs Dorf geschickt. In der wilden, von Höhlen, Bunkern und verlassenen Weilern gezeichneten Landschaft unweit der polnischen und deutschen Grenze hat die Familie oft die Sommerferien verbracht. Hier hat Ondra sich im letzten Jahr verliebt, in Zuza, die Tochter des Gastwirts; sehnsüchtig-bang erwartet er das Wiedersehen. Doch die erste Liebe und die Abenteuerwelt der Heranwachsenden werden überschattet von rätselhaften Morden in der Gegend und von der Prager Geheimpolizei. Sie versucht über die Kinder an den Vater heranzukommen, dessen Erfindung, eine "Wettermaschine", für die Staatsmacht offenbar höchste Bedeutung besitzt.
Versprengte russische Truppen, die durch den Wald irren, wecken bei den alten Dorfbewohnern die Erinnerung an die Vertreibungen, an die Ermordung von Partisanen und jüdischen Kindern. Als hätte sich die gefrorene Zeit wie eine Lavamasse in Bewegung gesetzt, bricht das Verdrängte in diesen Augusttagen wieder auf.
In einer irritierenden Mischung aus Realismus und Phantasmagorie verwandelt Topol seinen Schauplatz immer mehr in einen apokalyptischen Raum. Nachtarbeit, das bisher beste Buch des tschechischen Autors, erzählt mit großer Intensität von den Träumen und Ängsten, die den Anbruch einer neuen Zeit begleiten.
Autorenporträt
Topol, Jáchym
Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren und Sohn des Dramatikers Josef Topol, war nicht nur der Star des literarischen und musikalischen Underground vor 1989 sondern ist auch heute noch der bekannteste tschechische Autor seiner Generation. Als Sechzehnjähriger unterzeichnete er die Charta 77, 1985 begründete er das Underground-Magazin Revolver Revue, seine Zeit als Wehrpflichtiger verbrachte er mit anderen Intellektuellen in der Irrenanstalt, er arbeitete als Heizer und Lagerarbeiter. In den 90er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste zwischen 1989 und 1991 als Journalist für die Wochenzeitung Respekt und Drehbuchautor Osteuropa. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband Ich liebe Dich bis zum Irrsinn, 1992/93 folgten Am Dienstag gibt es Krieg und Ausflug zur Bahnhofshalle. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatter er mit dem Roman Die Schwester; es folgten Engel EXIT, Nachtarbeit, Zirkuszone und Die Teufelswerkstatt. Topol lebt in Prag.

Profousová, Eva
Ev

a Profousová, 1963 in Prag geboren, studierte Bohemistik, Russistik und Osteuropäische Geschichte in Hamburg und Glasgow. Für ihre Übersetzungen aus dem Tschechischen (neben dem Werk Jáchym Topols vor allem Bücher von Radka Denemarková, Jaroslav Rudis und Michal Viewegh) wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2003

Die Zeit heilt alle Wunder
Prager Winter: Jáchym Topol führt an die Grenze der Geschichte

Der kurze Sommer der Anarchie, der Winter unseres Mißvergnügens, Deutscher Herbst und Prager Frühling - wenn die Jahreszeiten als historische Metapher dienen, dann wird die Geschichte zum Kreislauf. Der Fortschrittsglauben muß sich die Zeit als linear vorstellen, wer in Zyklen denkt, hat immer schon die ewige Wiederkehr des Gleichen vor Augen: die Aufhebung der Historie in der Naturgeschichte, in der jedes Tauwetter die zugeschneiten Zeichen früherer Katastrophen freilegt. Der Schnee von gestern wird zum giftigen Niederschlag von morgen.

Der vierzehnjährige Ondra kennt das böhmische Dorf nahe der Grenze nur im Sommer. Bei seinem Großvater, gleich nah zur deutschen wie zur polnischen Grenze, hat er oft die großen Ferien verbracht, hier hat er sich zum ersten Mal verliebt. Bislang hat er das Dorf mit Kinderaugen gesehen, als eine Idylle fern der Hauptstadt, wo er mit seinem jüngeren Bruder, dem "Kleinen", ein trauriges Leben führt. Die Mutter ist über den Verlust einer Tochter erst zur Alkoholikerin und dann zu einem Fall für die geschlossene Anstalt geworden; der bewunderte Vater ist ein erfolgreicher "Erfinder" im Dienst des Staates, der wenig Zeit für seine Söhne hat.

Die Handlung setzt im August 1968 ein, als die sowjetischen Panzer schon durch die Straßen Prags rollen. Der wegen seiner Arbeit verfolgte Vater setzt seine Söhne allein in den Bus, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie kommen gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung des Großvaters an; ein kauziger Onkel namens Polka, der sich als "Dichter" und "Weltreisender" vorstellt, kümmert sich um sie. Doch ist Ondra hier auf sich allein gestellt. Er versucht Anschluß an die tonangebende Jugendclique zu finden und nimmt als "Prager" dafür Mutproben und Erniedrigungen in Kauf. Nicht gerade hilfreich ist, daß der Vater im Dorf unbeliebt ist; für seine Forschungszwecke hat er in den Haushalten geheimnisvolle meteorologische Meßgeräte installiert, die den fortschrittsskeptischen Hinterwäldlern unheimlich vorkommen. Prag ist weit, der lange Arm der Obrigkeit - "irgendeine Regierung gibt es ja immer" - hat hier keine Hebelwirkung mehr. Der Dorfpolizist ist eine Witzfigur, das Leben hat hier seine eigenen, in Aberglauben und Vorurteilen wurzelnden Gesetze.

Auch die Uhren gehen hier anders. Und wenn auch die Geschichte schließlich albtraumhaft mit Panzerkettenlärm und Geheimpolizisten einbricht, so ist sie nur Teil einer fortgesponnenen Chronik der Gewalt. Von den Zügen in die Vernichtungslager, die hier vorbeifuhren und aus denen verzweifelte Juden ihre Kinder warfen, über die Partisanen, die erst gegen die Deutschen und später gegen die Russen kämpften, geflohene KZ-Aufseher aus der Ukraine, die ihr Unwesen noch lange nach dem Krieg trieben, bis hin zu brutalen Wilderern, perversen Sonderlingen und Kindsmördern - die Landschaft ist vom Blut getränkt, ein Leichenacker, dessen genaue Topographie sich allerdings im Dunkel der Geschichte verliert. Schauermärchen alter Weiber und historische Wahrheit sind hier nicht auseinanderzuhalten - schon gar nicht für die kindliche Phantasie, die sich Geschichte nach dem Vorbild von Science-fiction-Heftchen vorstellt.

Topol spielt geschickt mit dem Muster des Pubertätsromans, dessen eigentlich heitere Themen - erwachende Sexualität, jugendliche Streiche - ins Unheimliche moduliert, ja zur gothic novel eingeschwärzt werden. Die geschwängerten Mädchen des Dorfes lassen ihr Kind von einer "Alten" wegmachen oder gehen ins Wasser, die Mutprobe endet am Grab eines sadistischen SS-Manns, dessen Geist immer noch umgehen soll, die Jagd der grotesken "Bullen" nach den offenbar staatsgeheimen Maschinen des Vaters führt auf die Spur eines grausamen Verbrechens. Das politische Geschehen, das schließlich die Bewohner zur Flucht über die nahe Grenze treibt und damit die Gegend apokalyptisch entvölkert zurücklaßt, dient nur als Katalysator der Vernichtung dieser todgeweihten Welt. Auf die "Nachtarbeit", so die Titelmetapher für diese Arbeit in den giftigen Bleiminen der Geschichte, folgt keine Tagesschicht. Die Maschinen des Vaters, die angeblich das Wetter manipulieren sollen, werden als Vorboten einer neuen Zeit zu Klump geschlagen.

Topol ist in seiner Heimat der bekannteste Autor seiner Generation. Sein Vater Josef war neben Havel einer der bedeutendsten Dramatiker der sechziger Jahre; sein jüngerer Bruder Filip ist Sänger der legendären Rockband "Psí vojáci" (Hundesoldaten), für die Jáchym auch Texte schrieb. Obwohl Topol viel Zeit in Deutschland verbrachte - sein erster Roman "Die Schwester" (1994, deutsch 1998) wurde während eines Stipendiums vollendet -, blieb er hierzulande ein Autor für Kritiker. Die chaotische Struktur seine Romane, die langen, assoziativ dahingleitenden Satzgefüge machten "Die Schwester" und auch die Novelle "Engel Exit" (deutsch 1997) schwer zugänglich. Der ehrgeizige Versuch, die "Explosion" von 1989 und das soziale "Babylon" des Postkommunismus abzubilden, ging am deutschen Leser vorbei. Doch bei aller mit Recht gerühmten Originalität waren erzählerische Schwächen auch unübersehbar. "Nachtarbeit" dagegen ist streng durchgearbeitet und hält seine Erzählstränge an der kurzen Leine. Ein reduzierter, aber präziser Hauptsatzstil und schnelle Dialoge, von den Übersetzerinnen hervorragend in die Nuancen deutscher Umgangssprache übertragen, erzeugen atmosphärisch dichte Situationen, die fast wie Dramenszenen wirken und trotz aller Phantastik nie die Verankerung in der Realität verlieren.

Topols Roman erinnert an manche Werke polnischer Autoren derselben Generation, wie Olga Tokarczuk oder Andrzej Stasiuk. Gemeinsam ist ihnen das mythische Geschichtsbild, das einen mitteleuropäischen Gedächtnisraum jenseits nationaler Grenzbefestigungen aufrichtet. Doch bietet Topol die allerfinsterste Variante dieses Mythos, in dem Gewalt in einer endlosen Kette Gegengewalt erzeugt. Sein Emblem ist nicht mehr Benjamins fortgetriebener "Angelus novus", der auf die Schädelstätten zurückblickt, sondern die Schlange, die sich selbst verzehrt - ein sinnloser Kreislauf ohne jede eschatologische Dimension: "Die Welt ist wie ne Schere, klappt an meinem Hals zusammen." Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird im Wetter symbolisiert: Obwohl die Handlung Ende August spielen muß, gehen herbstliche Unwetter nieder, am Ende treiben Eisschollen auf dem Fluß, der zur Lethe wird. Die einzige Hoffnung ist die Gemeinschaft der Brüder, sicherlich autobiographisch zu lesen.

Topol löst die Ereignisse in Truggebilde auf, durchschossen von irritierend zeitlosen Bildern der Flucht, des heimatlosen Herumirrens, des Aufbruchs ins Ungewisse. Das entspricht einerseits der Perspektive eines Jungen am Ausgang der Pubertät. Es ist aber auch als Allegorie einer allgemeinen Geschichtserfahrung lesbar. Ein Zitat aus dem "Woyzeck" steht dem Roman als Motto voran. Die bessere Zukunft ist kein Versprechen mehr, sondern eine Drohung: "Und da ist Widerstand zwecklos. Ein solches Glück setzt sich ganz von allein in dem Kerl fest. Wie ein winzig kleines Ei. Selbst wenn der Mensch sich unter die Erde verkriecht, das Glück schlüpft doch in ihm." Jáchym Topol hat einen großartigen Roman geschrieben, schwierig und anspielungsreich, düster und doch von grotesker Komik. An dieser Führung durch die unterirdischen Bunker und Höhlen des europäischen Bewußtseins teilzunehmen ist eine Herausforderung.

Jáchym Topol: "Nachtarbeit". Roman. Aus dem Tschechischen übersetzt von Eva Profousová und Beate Smandek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 314 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2004

Orgien der Mündlichkeit
Jáchym Topol und die Kunst des dicken Auftrags
Wenn Louis-Ferdinand Céline ein Jugendbuch, beispielsweise ein Remake der „Höhlenkinder”, geschrieben hätte, wäre dabei vielleicht etwas Ähnliches herausgekommen wie Jáchym Topols „Nachtarbeit”: ein von den Furien der Geschichte gehetzter Abenteuerroman mit Höhlen, Bunkern und Verliesen, mit Schergen, Mördern und Spionen, mit halbkindlichen Versteckspielen und Mutproben, aus denen in jedem Moment blutiger Ernst werden kann – und das alles in einer atemlos vorwärts drängenden Kunst-Umgangssprache, die scheinbar alle Sachverhalte zu Schrot zermahlt.
Drei Romane hat Topol, 1962 in Prag geboren, inzwischen in der ihm eigenen dampfenden Suada verfasst und damit nebenbei die tschechische Literatursprache revolutioniert; solche Orgien der Mündlichkeit waren bis hierher mit dem hochliterarischen Ton schwer vereinbar gewesen. Jetzt sind sie es. Dank Topol ist das ‚gemeine‘ oder Volks-Tschechisch literaturfähig geworden; jüngere Autorinnen und Autoren tun es ihm nach. Die neue tschechische Literatur, das sind, so könnte man fast sagen, Topol und die Folgen. Topols zentrale Stellung hängt auch mit seiner Biographie zusammen. Schon als Jugendlicher gehörte der Sohn des Dramatikers Josef Topol zum Prager Underground, war einer der jüngsten Unterzeichner der Charta 77 und wurde trotz oder wegen seines Verzichts auf regelrechte politische Aktivität in späteren Jahren zu einem der Protagonisten der jungen Prager Intelligenz. Mit dem Untergang des Sozialismus war auch das Rollenmodell des Dissidenten unbrauchbar geworden. In den neunziger Jahren studierte Topol eine Weile Ethnographie und trieb Feldforschung in der Halbwelt an den Rändern der osteuropäischen Städte. Ihre Ergebnisse sind in seine ersten beiden Romane „Engel EXIT” und „Die Schwester” eingegangen.
Die Wettermaschine
Nun also „Nachtarbeit”, ein für Topols Begriff schlanker Roman, verhältnismäßig kompakt und beinahe diszipliniert – und schon deshalb Topols bestes Buch bisher. Besonders sind auch die Übersetzerinnen zu loben, die mit ihrer Eindeutschung von Topols Umgangs-Tschechisch ein Bravourstück abgeliefert haben; dass dieses Deutsch bei ihnen in allen Dialekten von „kloppen” bis „Stamperl” schillert, tut dem Vergnügen keinen Abbruch. Topols Sprache wuchert wild wie immer, die Handlung aber ist für seine Begriffe linear. Wir schreiben das Jahr 1968, unmittelbar nach der Invasion der Truppen des Warschauer Pakts. Der halbwüchsige Ondra wird mit seinem kleinen Bruder Kamil vom Vater zur Sicherheit aufs heimatliche Land geschickt. Der Vater ist ein namhafter Wissenschaftler, der an einer seltsamen und politisch interessanten „Wettermaschine” baut und deshalb allerlei Privilegien genoss, bis er jüngst in Ungnade fiel und zum Fabrikarbeiter degradiert wurde. Und von der Mutter ist im wesentlichen zu sagen, dass sie trinkt. So also sind die beiden Jungen ziemlich auf sich gestellt. Gerade im Dorf angekommen, wohnen sie dem Begräbnis ihres Großvaters bei. Mehr als alle Familienbande zählt für Ondra Zuza, die Tochter des Kneipenwirts. Im Sommer zuvor hat sich zwischen den beiden eine Romanze angebahnt, die nach einer Fortsetzung verlangt. Das ist die Tagseite von Topols Roman. Es ist die Welt eines wunderbar sich selbst überlassenen Vierzehnjährigen, den es nach sexuellen Initiations-Erlebnissen drängt; und es ist die Welt eines böhmischen Dorfes, dessen Mittelpunkt die Kneipe mit den trunkenen Reden ihrer Gäste ist. Die Prager Ereignisse des 21. August sind beim Bier zwar schon präsent, aber noch sind sie kaum mehr als ein flüchtiger Gesprächsstoff unter anderen.
In diese fast noch heile Welt sickert nun, sei es in „realen” Begebenheiten oder nur in Gerüchten oder Fantasien, das Unheimliche ein. Was sich da allmählich und bei Nacht nähert, ist die Geschichte, freilich nicht die dokumentarisch verbürgte, sondern die Geschichte als Nachtmahr, als (wie einmal ein John-Carpenter-Film hieß) „Nebel des Grauens”. Und je weiter der Roman erzählt, desto tiefer reichen die jugendlichen Mutproben und Eskapaden hinein in dieses Nebelreich, das Reich der „Nachtarbeit”. Nicht dass es in diesem Reich nicht auch komisch zugeht; man denke nur an die Schilderung des Bunkersystems, das die Berglandschaft durchzieht: „Manche”, heißt es da, „waren nicht einmal auf den Sonderkarten der Generalstäbe eingezeichnet. Ganze Stockwerke unter der Erde . . . da lagerten die Genossen Tausende von Pelerinen, Tausende von Blechnäpfen, Tausende und Abertausende von Binden und Bandagen, eine Riesenmenge Feldbetten und Klappspaten, den Reichtum Böhmens.”
Nachtarbeit, so erklärt es einmal ein schon ziemlich betrunkener Kommandeur, das heißt „endlich Schluss machen damit, aufräumen mit dem Bösen”. Mit „Dunkelmännern”, die von Polen („das absolute Grauen”) her „über die Grenze rein und raus” klettern. „Schleichen zusammen am blakenden Feuer und in ihren Butzen. Leuchten sich mit ihren Funzeln den Weg. Klettern über Berge, wie’s grad passt. In Höhlen! Und machen Unsinn, schmieden Ränke, übertreten das Gesetz. Nachts und im Dunkeln.” Das ist in der Schwebe zwischen alkoholseligem Geschwätz und politischem Ernstfall gehalten. Es spukt in dieser Gegend, aber der Spuk könnte ein realer sein, ein Geschichts-Spuk mit irrlichternden SS-Schergen, mit sowjetischen Kommandotrupps, mit tschechischer Geheimpolizei, die der Wettermaschine auf der Spur ist, und vor allem mit dem vielfältigen Echo der Toten aus früheren Zeiten.
Unweit ist die Eisenbahnlinie in die polnischen Lager verlaufen, und hier in der Nähe sollen verzweifelte jüdische Eltern ihre Kinder aus dem fahrenden Waggon geworfen haben, um sie zu retten. Gewiss, Topol trägt dick auf, wenn er die Schrecken aller Zeiten zugleich aufs Riesengebirge herab beschwört; aber kaum einer beherrscht die Kunst des dicken Auftrags so gut wie Topol. Sein Roman ist eben beides: eine große tschechische Apokalypse und eine genauso große Räuberpistole, ein fulminanter Roman aus der Wildnis, gegen den sich das Meiste in der deutschen Gegenwartsliteratur eher wie eine Zimmerpflanze ausnimmt.
CHRISTOPH BARTMANN
JÁCHYM TOPOL: Nachtarbeit. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová und Beate Smandek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 314 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Einen "großen, wild wuchernden" Roman hat Jachym Topol mit "Nachtarbeit" geschaffen, urteilt Paul Jandl. Die Flucht zweier Kinder eines subversiven Wissenschaftlers vor der tschechischen Geheimpolizei im Jahr 1968 lasse Topol zu einer "allegorischen Versinnbildlichung" der tschechischen Geschichte werden. Die hellen Hoffnungen des politischen Frühlings gehen dabei auch auf der sinnlichen Ebene in die dunkle Verzweiflung der böhmischen Nacht über, wie der Rezensent erklärt. In einem "Kunstgriff" nehme der Autor abwechselnd die Perspektive der Kinder und des Geschichtlichen ein. Im Verlauf der Erzählung entfessele Topol einen "Mahlstrom des Moribunden", die Grenzen zwischen Toten und Lebenden werden immer verschwommener, die Episoden immer "phantastischer", die Sätze immer "elliptischer". Insgesamt ein Buch, dass "Kinder der Toten" von Elfriede Jelinek und "Die Wolfshaut" von Hans Lebert in nichts nachsteht, meint Jandl.

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