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Wenn die Lehrerin in die Dorfschneiderei kommt, um sich von der Großmutter "was Neues" nähen zu lassen, sitzt deren Enkel im Stoffballenversteck und sieht gebannt zu. Es wäre sterbenslangweilig auf dieser Welt, gäbe es die Anproben nicht - und nicht die Geburtstage und Besuche der Verwandtschaft, bei denen mit Leidenschaft Nachbarn, Müllers Kuh, Kartoffelernte und Familienmitglieder durchgenommen werden. Oder, nach drei Gläschen, Marcel. Marcel, der nie heimgekehrt ist nach Flandern in seiner schwarzen Uniform und im Silberrahmenfoto einmal die Woche sorgfältig abgestaubt wird, ruiniert die…mehr

Produktbeschreibung
Wenn die Lehrerin in die Dorfschneiderei kommt, um sich von der Großmutter "was Neues" nähen zu lassen, sitzt deren Enkel im Stoffballenversteck und sieht gebannt zu. Es wäre sterbenslangweilig auf dieser Welt, gäbe es die Anproben nicht - und nicht die Geburtstage und Besuche der Verwandtschaft, bei denen mit Leidenschaft Nachbarn, Müllers Kuh, Kartoffelernte und Familienmitglieder durchgenommen werden. Oder, nach drei Gläschen, Marcel. Marcel, der nie heimgekehrt ist nach Flandern in seiner schwarzen Uniform und im Silberrahmenfoto einmal die Woche sorgfältig abgestaubt wird, ruiniert die Feststimmung gründlich. Schnell werden Rechnungen aufgemacht, wer wen damals "an die Deutschen verkauft" hat und "deswegen heute Mercedes fährt" - aber warum lasst ihr Marcel nicht in Ruh, fragt der Enkel die Großmutter, und die sagt, ach, das ist eine ganz besondere Geschichte mit meinem Bruder. Erwin Mortiers preisgekrönter Roman erzählt von einer Familie, die nicht zueinanderkommt wegen "dieser schiefen Vergangenheit", und von einem Jungen, der alles tut, um hinter Marcels Geheimnis, hinter die Geheimnisse der Erwachsenen zu kommen. Mit Marcel ist Mortier ein "sprachliches Meisterwerk" gelungen und das Kunststück, ein verschlafenes Dorf und eine sehr wache Großmutter auf 150 Seiten zum Mittelpunkt der Welt zu machen.
Autorenporträt
Erwin Mortier wurde 1965 in Nevele in Flandern (Belgien) geboren und lebt in Gent. Er ist Kunsthistoriker, Schriftsteller und Journalist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2001

Wo ist Marcel?
Briefbegräbnis: Erwin Mortier sucht und wird nicht fündig

Jeden Freitag ist Allerseelen. Dann werden die Fotos der toten Verwandten abgestaubt und, falls nötig, umgestellt. Denn in der Vitrine regiert nicht der Zufall, sondern die Großmutter. Sie bestimmt über den angemessenen Platz: Hölle, Paradies oder Fegefeuer - im Wohnzimmerschrank ist Unordnung tabu.

Bei diesem Totenpflege-Ritual assistiert der Enkelsohn, ein Knabe zwischen Sandkasten und Pubertät. Aus seiner Sicht wird das Leben rund um die Vitrine erzählt. Dabei erfährt man viel von der Großmutter, weniger vom Großvater und von den beiden zerstrittenen Sippen. Dazwischen tauchen immer wieder die Verstorbenen auf, mal als Portraits, mal als Protagonisten sonderbarer Krankengeschichten oder auch als Regenmäntel unterm Dach (dem geheimen Versteck des Erzählers). All diese Toten scheinen zum Leben des Enkels zu gehören. Mit einer Ausnahme: Marcel.

"Marcel wie aus dem Gesicht geschnitten . . ." Ein sterbender Verwandter führt den Leser endlich auf die entscheidende Spur - nach gut der Hälfte des Romans. Natürlich ist man wegen des Titels von Anfang an aufmerksam auf diese Figur. Doch leider bleibt das Geheimnis um Marcel allzusehr im Dunkeln. Man würde schon gern mehr von diesem verschollenen Bruder der Großmutter (mithin dem Großonkel des Erzählers) erfahren als bloß die Beschreibung zweier Fotos und eines alten Koffers, zwei Bemerkungen über seine Ideale im Krieg und den Inhalt seines letzten Briefes vor dem Abmarsch an die Front.

Vor allem wüßte man gar zu gern, welche Bedeutung all dies für den Ich-Erzähler hat. Nur ein einziges Mal gewährt dieser einen Einblick in sein Seelenleben: Als er von den Schritten in der Nacht berichtet, die ihn am Einschlafen hindern und in ihm die Sehnsucht nach Feen wecken, damit man draufloswünschen könnte - und "Marcel fände seine Ruhe und brauchte nicht mehr umherzuirren oder haltzumachen vor meiner Tür, totenstill, eifersüchtig auf mich, der ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bin (bis auf die Augen meiner Mutter)".

Warum aber behauptet er später, der Dachboden gehöre ihm - und Marcel? Und was hält er eigentlich von jenem Brief, in dem der Kamerad SS Grenadier Marcel Ornelis bekennt, wofür er kämpfe: "Für unser Flandern, und nicht für den Schnurrbart?" Wer ist dieser Marcel für ihn - ein Vorbild, ein Verbündeter oder doch eher ein unheimliches Phantom?

Von seinen Gedanken erfährt man fast nichts. Nur die ausführlichen Beschreibungen der weißen Schenkel der Lehrerin verraten die ersten sexuellen Empfindungen des Knaben. Allerdings ist diese Nebengeschichte ziemlich peinlich geraten. Insbesondere auf jenes "prasselnde Duett" in der Schultoilette hätte man wirklich gern verzichtet.

Am Ende schaufelt der Erzähler dem letzten Brief Marcels ein Grab. Nun ist er es - und einmal nicht die Großmutter -, der dem Toten, dessen Grab keiner kennt, einen Platz zuweist. Das allerdings ist auch schon das einzige, was sich hier gegenüber dem Anfang entwickelt hat. Für einen Roman ist das ein bißchen wenig.

SUSANNE STAERK

Erwin Mortier: "Marcel". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 150 S., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2001

Auf den Stufen der Börse
Erwin Mortiers Debütroman um eine Familie zwischen Kollaboration und Widerstand in Belgien: „Marcel”
„Sie war die Totenpflegerin ihrer Sippe. Sie ließ ihre Angehörigen nicht einfach verschwinden. Nach dem Begräbnis wurde die Erde zum Körper, mit der Harke scheitelte sie das Haar, und die Sträucher um die Grabplatten stutzte sie, als schnitte sie die Nägel.” Man mag die Formulierung „wurde die Erde zum Körper” für etwas theorieüberladen halten. Doch die zupackend-bilderreiche Sprache der deutschen Übersetzung lässt vermuten, Erwin Mortier habe die diversen niederländischen und belgischen Preise für seinen Erstling „Marcel” zu Recht erhalten.
Der Sprache entsprechen klar konturierte Figuren: Die Großmutter geht, als Herrin der Gräber, fast täglich zum Friedhof, doch pflanzt sie nur Margeriten. „Das reichte ihrer Ansicht nach. Über Gedenktafeln, die mit Porzellanrosen verziert waren, goß sie ihren Spott aus. Sie hatte ihre eigenen Inschriften in der Seele.” Der Beobachter der Großmutter ist ein kleiner Junge, der als im Rückblick erzählendes Ich mit allen klassischen Schwächen auftritt. Während die Großmutter, die Schneiderin ist, mit einer Kundin parliert, macht er sich unter dem Tisch bereit, ein paar Blicke auf deren Schenkel zu werfen. Unter dem Tisch fühlt der Namenlose sich ohnehin wohl: „Im milden Geruch des frisch geputzten Boden legte ich mich auf die Bodenfliesen. Bevor mich die Langeweile einschläfern konnte, eröffnete mir der Fußboden seine geheime Geografie, seine Spalten und Schluchten, in denen die Seifenlauge kleine Bergseen bildete.” Wieder die etwas abgegriffene Abstraktion („seine geheime Geografie”), dann die Anschaulichkeit der Bergseen- Seifenlauge.
Oft, wenn ein Kind als Erzähler gewählt wird, geht es um ein schwieriges Thema, dem etwas Neues abgewonnen werden soll. Zu Mortiers Erzähl- Raffinesse gehört es, dass man erst allmählich erfährt, was dieses Thema ist; und wenn man es, weil sich die Hinweise verdichten, auch bald ahnt, ist man doch nicht viel weiter, denn nur „darum” geht es dann doch wieder nicht.
Es ist ein sehr belgisches Thema, das den historischen Hintergrund der Gegenwartshandlung bildet. Es geht darum, welche Spuren Widerstand und Kollaboration noch Jahrzehnte nach Kriegsende in den Familien einer kleinen Gemeinde hinterlassen haben. Die erzählte Gegenwart, so lassen alle Hinweise vermuten, ist die Jugend des Ich-Erzählers, offensichtlich die eines Alter egos des 1965 geborenen Erwin Mortier.
Noch immer gehen die sympathische Großmutter und Teile ihrer Familie, die Ornelis, Anfang der Siebzigerjahre ungern mitten durchs Dorf. Denn sie waren für Flandern, das hieß damals oft auch für Deutschland. Während der Großvater wegen Widerstands ins Arbeitslager geschickt wurde. Seine, weniger vornehme, Familie sind die Eggermonts. Sie waren dagegen, und deswegen haben sie heute immer Recht. Die Großmutter ist es leid: „Weiß oder Schwarz, es steht ihnen noch immer auf der Stirn geschrieben.” Weiß, die Farbe der Widerständler, schwarz die der anderen. Nur Frau Vegaate, die französisierende Lehrerin des Ich-Erzählers, die sich bei der Großmutter die schicksten Kleider machen lässt, steht über den Querelen.
Und plötzlich sieht der Junge bei einem Cousin ein Foto des im Krieg verschwundenen Onkels Marcel, der, so sagt man, ihm bis auf die Augen gleiche; Marcel, der auf diesem Foto in schwarzer Uniform die Hand hebt, darunter der Text „Auf den Stufen der Börse, ehedem Bollwerk von Judentum und Plutokratie, inspiziert der Führer seine Scharen”. Doch weil der Junge nicht so genau weiß, was das bedeutet, registriert er es erst einmal. Wie alles andere, was er an Gesprächsfetzen aus dem Tuscheln und Flüstern der Erwachsenen aufschnappen kann.
Die weitgehend wertungsfreie Offenheit dieses Erzählens mit dem Kinderblick tut „Marcel” gut. Der Leser folgt allen unsicheren Fährten im Bewusstsein ihrer Unsicherheit und kann doch überrascht sein, dass im Lauf der erzählten Tage ein paar klare Fronten verschwinden. Dazu gehört, dass die pompöse Lehrerin Vegaate von der Großmutter, die die gute Kundin immer hat reden lassen, auf einmal als eine der schlimmeren Kollaboratricen enttarnt wird. Ja, heißt es einmal, sie war schon immer sprachbegabt. Zuerst deutscher als deutsch, jetzt französischer als französisch. Damals habe sie im Dorf „Kulturabende” organisiert. Marcel hingegen, der schwarze Held der Familie ...
Der Roman „Marcel” hat in Belgien Aufsehen erregt, weil er die Nicht-Résistance-Vergangenheit des Landes undogmatisch neu in den Blick nimmt, sie mit erzählerischen Mitteln aufspürt als eine bedrückende Stimmung, die das Land noch lange belastet hat, und an die sich ein heute 36-Jähriger noch immer sehr genau erinnern kann. Erwin Mortier, den es gegen Ende etwas zu sehr zur Harmonisierung drängt, ist mit seinem ersten Buch der Bildungsroman eines kleinen Jungen in Novellenformat geglückt. Man möchte weiter lesen.
HANS-PETER KUNISCH
ERWIN MORTIER: Marcel. Roman. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag. Frankfurt
am Main 2001. 118 Seiten, 29,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nach Hans-Peter Kunisch ist Mortier hier ein "Bildungsroman eines kleinen Jungen" geglückt. Doch zunächst werde der Leser im Unklaren darüber gelassen, um welches Thema es hier in erster Linie geht. Dies kristallisiert sich, so Kunisch, erst nach und nach heraus, was er jedoch als besondere "Erzähl-Raffinesse" Mortiers betrachtet. Denn der Kinderblick des Jungen Marcel registriert auf seine eigene Weise die Spätfolgen sowohl der Kollaboration wie des Widerstands im Zweiten Weltkrieg, von denen das belgische Dorf bis in die siebziger Jahre hinein geprägt war. Dass der kleine Marcel dabei eine "weitgehend wertungsfreie Offenheit" zeigt, gehört für Kunisch zu den ausgemachten Stärken dieses Buchs, weil der Leser dadurch die Möglichkeit hat, seinen Unsicherheiten zu folgen, bald darauf aber auch "ein paar klare Fronten verschwinden" zu sehen. Insgesamt sei es Mortier gelungen, die belgische Vergangenheit und auch die Kollaboration, die die Stimmung im Land noch lange belastet hat, "undogmatisch neu in den Blick" zu nehmen. "Man möchte weiter lesen", findet Kunisch.

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