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Etwas hat uns für einen kurzen Moment erstarren lassen: ein Geruch, ein Zeichen, eine Bewegung, ein Wort, ein Detail - nicht der Aufregung wert, und doch hat es uns in schrille Aufregung versetzt. Ein Bild, ein Ton, ein Satz - nicht der Beachtung wert, gleichwohl hat es alle Beachtung auf sich gezogen. Jeder kennt diese skurrilen, absurden Abneigungen, jeder hat eigene Formen der Idiosynkrasie, der unerklärlichen Überempfindlichkeiten. Der griechische Begriff der Idiosynkrasie, meist übersetzt mit: eigene oder eigentümliche Mischung, bezeichnet diese Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen. Solche…mehr

Produktbeschreibung
Etwas hat uns für einen kurzen Moment erstarren lassen: ein Geruch, ein Zeichen, eine Bewegung, ein Wort, ein Detail - nicht der Aufregung wert, und doch hat es uns in schrille Aufregung versetzt. Ein Bild, ein Ton, ein Satz - nicht der Beachtung wert, gleichwohl hat es alle Beachtung auf sich gezogen. Jeder kennt diese skurrilen, absurden Abneigungen, jeder hat eigene Formen der Idiosynkrasie, der unerklärlichen Überempfindlichkeiten. Der griechische Begriff der Idiosynkrasie, meist übersetzt mit: eigene oder eigentümliche Mischung, bezeichnet diese Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen. Solche Prägungen haben in den letzten Jahrhunderten kontroverse Beurteilungen erfahren: Für die einen sind sie irrationale, vernachlässigbare Verhaltensweisen, für die anderen Auslöser von Innovation in Kunst und Wissenschaft. Silvia Bovenschen nähert sich diesem Mischphänomen in seinen vielgestaltigen Erscheinungsformen aus den verschiedensten Richtungen: Sie grenzt es vom Ekel wie vom Schmerzab, zeichnet das Verhältnis von Idiosynkrasie und Physiognomie, stellt Überlegungen an über die Beziehungen zwischen Idiosynkrasie und Flucht beim Zigarettenholen und versucht ein Porträt des Schweizers als Verbrecher. Dabei steht nicht das der Idiosynkrasie unangemessene Bemühen um eine historisch-systematische Begriffsgeschichte im Vordergrund, sondern das kaleidoskopartige Erfassen und Zergliedern ihrer Spielarten. Auf diese Weise ist ein aufregendes, vergnügliches und zugleich gelehrtes Buch über eine unserer so wichtigen Unwichtigkeiten des täglichen Tages entstanden.
Autorenporträt
Bovenschen, Silvia
Silvia Bovenschen, geboren 1946, studierte Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie. Einer größeren Öffentlichkeit wurde sie durch ihre Dissertation Die imaginierte Weiblichkeit bekannt. Bovenschen lebte als Schriftstellerin und freie Publizistin in Berlin, wo sie am 25. Oktober 2017 starb.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Eine Hausgrille, die im Kopf tschirpt
Ganz schön empfindlich . . . Silvia Bovenschen präsentiert die „Spielformen” der menschlichen Idiosynkrasie
Ich könnte davon schreiben, dass Silvia Bovenschen eine große Denkerin ist . . . Vielleicht finden Sie Artikel, die mit „Ich” beginnen, degoutant. Eventuell haben die zwei s in „dass” Sie an die leidige Rechtschreibreformdiskussion gemahnt. Es mag Ihnen auch passiert sein, dass Bovenschen Sie an Boviste erinnert, jene mit Sporenpuder gefüllten Pilze, die man als Kind angeekelt zertrat. Und schon sind Sie mir und meinem Text entglitten. Sie haben sich von Idiosynkrasien leiten lassen, von plötzlich auftauchenden Überempfindlichkeiten gegen Worte oder mit ihnen assoziierte Inhalte.
In Idiosynkrasie steckt die Sprengkraft eines Niesanfalls bei Heuschnupfen. Wir biegen um die Ecke, und wie der Schlag trifft uns eine unüberwindliche Aversion gegen Männer in Shorts-Socken-Sandalen-Kombination. Gegen Autos mit Xenon-Scheinwerfer. Den Anglizismus „Sinn machen”. Alcantara. Anis. Apostrophiertes Genitiv-S. Hospitalgeruch. „Wie Gift und Schlange” seien ihm genau vier Dinge zuwider, verrät Goethe in einem Epigramm: „Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †. ” Zeitgenossen überliefern daneben seine Idiosynkrasie gegen Kälte, Unordnung und Sehhilfen („Ich rede kein vernünftig Wort / Mit einem durch die Brille”). Besonders in der Sprache ereignen sich die kleinen Ekelanfälle. Campe hatte eine Abneigung gegen den Begriff „Schrank”, Lichtenberg erschien das Wort „unvergleichlich im Deutschen ganz unvergleichlich erbärmlich” und Adorno hasste die Ausdrücke „Persönlichkeit” und „Synthese”. Silvia Bovenschen wiederum ist angewidert von „schmackhaft” und „bekömmlich” sowie dem Slogan vom „Seele-baumeln-Lassen”. Bovenschen, wir verstehen uns!
Idiosynkrasien übrigens fordern auf zur Komplizenschaft: „In der blitzhaften Übereinstimmung, in der fast reflexhaften Gemeinsamkeit von Sympathien und vor allem der gemeinsamen Aversionen gegen etwas oder jemanden feiert die Freundschaft ihre größten Triumphe. ” Überhaupt wird die Charakterkunde entscheidend befördert durch die Kenntnis individueller Abwehrimpulse – das wahre Porträt eines Menschen lasse sich durch die Benennung seiner Zu- und Abneigungen erstellen, sagt Paul Valéry.
Im Grunde ist die Idiosynkrasie, was ihre Etymologie verrät: eine seltsame Vermengung, eine eigentümliche Mischung. In seiner heterogenen Verwendung, deren Anfänge bis auf Ptolemaios zurückgehen, steht der Begriff für eine verwirrende Vielfalt von Erscheinungen. Einst umfasste die „Idiosynkrasia” das leib-seelische Gemisch von Dispositionen des Menschen, dann dessen spezifische Säftemischung, schließlich krankhaften Abscheu, gesteigerte Nervenempfindlichkeit, diverse Aversionen, hypochondrische und hysterische Zustände, Phobien, Allergien. Die Vorstellung von der eigenartigen Gemengelage hielt sich bis in die Neuzeit, wobei der Terminus Idioynkrasie „ein breites Spektrum von Phänomenen abdecken mußte, die vom Juckreiz nach dem Genuß von Erdbeeren über die Menschenfresserei bis zur Unverträglichkeit zwischen Katz und Maus reichen konnten”. Bei der Idiosynkrasie haben wir es offensichtlich mit einem heimatlosen Bastard, einem Streuner zu tun, einem „Vagabund im griechischen Gewand”, dem man zwar seine Herkunft noch ansieht, nicht aber, wo er sein Zelt aufschlägt und wie lange er bleibt. Kaum meinte man, ihn ergriffen zu haben, entwischte er: „Phasen seiner Ausdifferenzierung folgten Phasen seiner Entgleitung. Der Begriff reagierte gewissermaßen idiosynkratisch auf sich selbst. ”
So flottierend die Bezeichnung, so manifest das Bezeichnete. Unsere Gefühlswelt ist voller Idiosynkrasien. Ein Paradebeispiel dafür ist das, was uns im täglichen Miteinander als Erstes ins Auge springt. Ob uns jemandes Nase passt oder wir schon aus seinem vorspringenden Kinn auf unerträgliche Dominanz schließen – kalt lassen uns Gesichter nie. Schopenhauer verachtete die „Bierwirthsphysiognomie” (und nicht nur die) Hegels, Lichtenberg kämpfte mit idiosynkratisch spitzer Feder gegen Lavaters Abstrusitäten der Physiognomik. Idiosynkrasien bringen den seelischen Haushalt durcheinander, sie polarisieren und isolieren. Ein läppischer Anlass gebiert körperliche Sensationen: die Haare sträuben sich, das Herz stolpert, der Magen will sich umdrehen. Dabei fühlt der Nebenmensch sich pudelwohl. „Eine Hausgrille, die im Kopf tschirpt und die doch kein anderer hören kann”, nennt Kant die Idiosynkrasie. Wahrscheinlich leben diese Grillen so lange wie unser Kopf selbst – widerwärtige Empfindungen bei bestimmten Reizen seien Schulden, so Valéry, die für immer gemacht würden.
Immunisierungstherapie
Sollten also die Psychologen eine Immunisierungs-Therapie gegen idiosynkratische Anfechtungen bereit halten? Denn: „Wer wäre sie nicht gerne los, diese idiosynkratischen Beunruhigungen, die schließlich sogar die vermeintlich sicheren Fundamente der Erfahrung und des Wissens unterhöhlen könnten. ” Das ist freilich eine rhetorische Frage, die Bovenschen da stellt. Fast jedes Gebrechen, jede Marotte und jede Schwäche hat der Homo Sapiens sich umgeprägt in glänzende Münze. So liegt es nahe, auch in der Befremdung, in der Reizbarkeit, in der Aversion ein Potential zu vermuten: „Das Empfindlichkeitsvermögen eines Menschen ist sein Genie. ” (Baudelaire) Das trifft möglicherweise nicht den Künstler an sich, doch trifft es Lichtenberg, trifft Kraus, trifft Proust. In der Recherche wird der Zusammenhang von Empfindlichkeit, Empfindung und Genie unnachahmlich verbildlicht: „Und sind nicht die Krankheiten des Körpers sogar, wenigstens diejenigen, die irgendwie mit dem Nervensystem zusammenhängen, ebenfalls gewisse von unseren Organen und Gelenken angenommene Spezialneigungen oder -abneigungen, auf Grund deren diese vor bestimmten Wetterlagen Grauen empfinden, das ebenso unerklärlich und ebenso eigensinnig ist wie die Neigung gewisser Männer zum Beispiel zu Frauen, die einen Kneifer tragen, oder zu Kunstreiterinnen?”
Unerklärlich und eigensinnig ? Bovenschen hütet sich, Proust zu korrigieren und etwa Maximen und Definitionen zu liefern. Um „Spielformen” geht es ihr – also umkreist sie den aus der Ferne nur als Chaos wahrnehmbaren Planeten Idiosynkrasie in immer neuen Bahnen, richtet den Blick auf Freundschaft, auf Erinnerung, auf Vergesslich- und Sterblichkeit, zoomt de Sade, Adorno, Gustafsson, Deleuze heran, verweilt beim „Schweizer als Verbrecher” und dem Mann, der vom Zigarettenholen nicht wiederkehrte, generiert ein imaginäres Museum samt virtueller Kunstbesucher im fiktiven ästhetischen Diskurs, zeigt Kernkraftwerke, Verkehrsunfälle, Handys und Butterschlieren im Konfitüreglas . . . Sind Sie noch da? Oder kommen Sie von der marmorierten Marmelade auf die Knäckebrotbrösel in der Butter, von der Butter auf Ihre Abneigung gegen Butterkremtorte, von dort zu Tante Liesl und ihre unsäglichen Kittelschürzen?
Zu Ihrer Beruhigung sei ein Beleg beigebracht, wie die Überempfindlichkeit uns von jeher in alles hineinpfuscht. Im Gedicht „Idiosynkrasie” von 1874 steht ein Ich und kann nicht anders: „Die Sache ist mir nicht genehm. / Ich ärgre mich fast darüber. /Der Müller ist gut; trotz alledem/Ist mir die Müllerin lieber. ” Ein genialer Idiosynkratiker der Verfasser: Wilhelm Busch.
GUDRUN SCHURY
SILVIA BOVENSCHEN: Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 265 Seiten, 39,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000

Nein, du wirst nicht singen!
Das Ohr denkt mit: Sinn und Sinnlichkeit / Von Ralf Konersmann

Auch im Alltag gibt es Sinneseindrücke, von denen man sagen möchte: Das vergißt sich nicht. Klassisch ist das Geräusch, das eine irgendwie in Schräglage geratene Schreibhand mit einem Stück Kreide auf einer Schiefertafel hervorzurufen vermag. Wer diesen Ton auch nur einmal vernommen hat, wem sich dabei die Haare gesträubt haben und die Schauder der berühmten Gänsehaut über den Rücken gekrochen sind, dem braucht nie mehr erklärt zu werden, welches Erregungspotential ein im Prinzip so harmloses Phänomen wie "Quietschen" in sich birgt.

Psychologisch-medizinisch betrachtet, handelt es sich bei derlei Reaktionen um Fälle akuter Idiosynkrasie. Man ist "genervt", und es ist zweitrangig, was genau die Aversion ausgelöst haben mag. Was dem einen das Kreischen der Schreibtafel, das ist dem anderen der Fingerabdruck auf dem Weinglas, die offenstehende Kühlschranktür, die Butterschliere in der Marmelade, ein Mann in Sandalen, ein Dialekt, eine Redewendung, ein ganz bestimmtes Wort. Theodor W. Adorno bekannte einst, von Jugend an eine Idiosynkrasie gegen das Wort "Persönlichkeit" gespürt zu haben, und dieses Geständnis allein genügte, um die Marotte allgemein zu machen. Eine ganze Generation politpädagogischer Enthusiasten sprach und, so wird man sagen müssen, fühlte es ihm nach - ohne im übrigen zu gewärtigen, daß der Philosoph seiner eigenen Abneigung und mehr noch seiner Gefolgschaft durchaus mißtraute. Der Begriff der Persönlichkeit sei nicht zu retten, so setzte Adorno Idiosynkrasie gegen Idiosynkrasie, doch im Zeitalter seiner Liquidation "wäre etwas an ihm".

Silvia Bovenschen macht uns die Freude, mit ihrem neuen, versiert und kenntnisreich geschriebenen Buch ein lange Zeit marginales und, wie sich nun zeigt, ebenso lange unterschätztes Empfindungsphänomen zu erschließen. Schon dem Wortsinn nach ist die Idiosynkrasie ein eigensinniges Mischgebilde. Sie entzündet sich am Detail, ja an einem Nichts und erschüttert doch die ganze Person. Im Nu steigert sie sich zum Eindruck einer übergenauen Wahrnehmung und richtet sich doch zugleich auf uns selbst, die wir, ohne den Grund zu ahnen, uns des Übermaßes unserer körperlichen Reaktion bewußt werden.

Mit Paul Valéry betont Bovenschen die Unwillkürlichkeit des Ereignisses, das bereits der Autor der "Cahiers" als Spur einer erloschenen Erinnerung deutet. Die Idiosynkrasie, wo sie akut wird, hebt die Zeit auf und läßt uns für Augenblicke in die Tiefen der "biologischen Urgeschichte" stürzen. Dieser Zusammenhang mag die Unverhältnismäßigkeit erklären helfen, die für idiosynkratische Reaktionen bezeichnend ist, aber auch das überraschende, ja demütigende Moment, das darin liegt, daß Idiosynkrasien sich nicht steuern und "vernünftig" handhaben, geschweige denn vermeiden lassen. Die Idiosynkrasie fällt ihr "Urteil ohne Gnade", und es grenzt an Selbsttäuschung, wenn die Betreffenden nachträglich darangehen, Vernunftgründe für ihre bodenlose Abneigung beizubringen.

Bovenschens dichte Beschreibung läßt schon durchscheinen, weshalb das Phänomen für die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts kaum von Interesse sein konnte. Als kurzzeitiger, doch heftiger und jederzeit drohender Kontrollverlust reiht Kant sie unter die "qualitates occultae" ein und wertet die Idiosynkrasie kurzerhand als "Grille". Nebensache sollte sein und bleiben, was den Geltungsanspruch der Vernunftherrschaft gefährden könnte. Die Rigidität des Reaktionsmusters, die Eigensinnigkeit des Affekts, die Indifferenz gegenüber den sozialen und kulturellen Standards - all dies unterstrich, was in unseren Tagen noch Jürgen Habermas dagegen vorzubringen wußte: Idiosynkrasien, soviel steht für den Theoretiker des kommunikativen Handelns fest, sind "nicht rational".

Ebendies disqualifizierte sie freilich keineswegs generell und allenthalben. Es ist ein trefflicher Beleg für die Dehnungen und Verkehrungen, welche die Kritische Theorie sich im Laufe ihrer Geschichte selbst verordnet hat, daß noch Walter Benjamin, als er auf Karl Kraus zu sprechen kam, in den Texten des Wiener Kritikers die Idiosynkrasie "als höchstes kritisches Organ" erkennen konnte. In einem Artikel für die Frankfurter Zeitung vom 10. März 1931 metaphorisierte Benjamin die Beiträge der Krausschen "Fackel" als Textkörper, deren Immundefekte sich in der schmerzlichen Selbstwahrnehmung des Autors Kraus, aber auch in der "nervlichen Attacke" entluden, mit der die Texte über den passionierten "Fackel"-Leser herfielen. Die Genauigkeit dieser Deutung zeigt sich in der Mischfigur, die sie aus den Artikeln von Kraus herausliest. Benjamin dechiffriert sie als ein ebenso kunstreiches wie schlagkräftiges Zusammentreffen körperlicher, geistiger und affektiver Reaktionen, das offenbar die Basis für ein tieferes Einverständnis zwischen dem Autor und seinen Lesern schuf: ein vertrautes und immer neu bestätigtes Arrangement gemeinsam geteilter Idiosynkrasien.

Es ist nicht das Anliegen der Ideenhistorikerin, aus Schwarz nun unversehens Weiß zu machen, und sie widersteht der Versuchung, das Idiosynkratische modisch zu überzeichnen. Bovenschens Beobachtungen, auch das macht diese klug kombinierende Essayistik interessant, zielen weniger auf moralisch angeleitete Rehabilitationen als auf eine Art historische Phänomenologie. Die dadurch gewonnene Distanz erlaubt den Nachweis jener Ambivalenzen, wie sie bei zahlreichen Gewährsleuten zu beobachten sind. Benjamin, den Blick auf Goethe gerichtet, pries die Idiosynkrasie als das letzte Asyl der Individualität, und Adorno rückte sie in die Nähe ebenso des Takts wie der künstlerischen Strenge, die zum Einsatz des Schocks und der "ungemilderten Grausamkeit" jede nur denkbare Berechtigung besitze. Gelinge es erst einmal, die Nerven abzuschaffen, so Adornos vorsichtige Apologie des Idiosynkratischen, so sei "gegen die Renaissance des Liederfrühlings kein Kraut gewachsen".

Als physiologisches Frühwarnsystem gegen die Verheißungen des ästhetischen und des moralischen Kitsches mögen die Idiosynkrasien ihren Zweck erfüllen. Ihre problematische Seite ist jedoch nicht weniger beachtlich. Während die offenen Formen der Idiosynkrasie sich in einer nahezu körperlichen Aversion gegen dogmatische Verfestigungen zur Wehr setzen, folgert Bovenschen, stehen ihre rationalisierten Formen für eine gleichfalls ans Körperliche grenzende dogmatische Verhärtung. Hauptzeuge der Ambivalenz ist einmal mehr Adorno, dessen Studien über Antisemitismus in diesen Tagen beklemmend aktuell sind. Das Selbstbild des Antisemitismus sei, versichert Adorno, dem Muster der Idiosynkrasie nachempfunden, dem zwanghaften Abscheu gegen die Abweichung vom verabsolutierten Zweckzusammenhang der Gesellschaft. In einer monströsen Verkehrung okkupiere der Täter archaische Schemata der Selbsterhaltung und richte seine Wut gegen die Erstarrungsreaktionen der Opfer. Es handelt sich, wie Bovenschen treffend interpretiert, um eine "Idiosynkrasie aus zweiter Hand": um den blinden Reflex auf "das erbarmungslose Verbot des Rückfalls" und der Anpassung an eine Natur, deren Gesetzen der Täter sich entzieht. Statt dessen identifiziert er sich mit der Verzweiflung der Verfolgten, um, sobald ihm das gelingt, nur um so erbarmungsloser zuzuschlagen.

Bescheiden kennzeichnet Bovenschen ihr Darstellungsverfahren als "Spielform des Kaleidoskops", doch was auf diese Weise zustande kommt, ist ganz außerordentlich und besteht jeden Vergleich. Das gilt zumal für die Passagen über Idiosynkrasie und Schmerz, die auf den Widerstreit von Weltzugewandtheit und Weltabkehr zulaufen, und für die materialreiche "Spukgeschichte des Begriffs", die ihren sachlichen Schwerpunkt in der Medizingeschichte hat und von der Antike aus bis zur Nomenklatur der "Überempfindlichkeitskrankheiten" unserer Tage voranschreitet, insbesondere zu den Diagnosen der Allergologie.

Daß auch Bücher, Tonfälle und gewisse Schwadroneursattitüden Idiosynkrasien hervorrufen können, wird nach all dem niemanden überraschen. Man lausche nur literarischen Hervorbringungen wie der folgenden: "Wenn ich als Kind etwas beim Einkaufen vergessen hatte und deshalb noch einmal widerwillig den Gang zum Tante-Emma-Laden antreten mußte, pflegte meine Mutter halb tröstend, halb belehrend zu sagen: ,Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben.' Heute ist eine solche physische Anstrengung nicht mehr nötig, man muß es lediglich auf dem Bildschirm haben; denn per Internet läßt sich inzwischen vieles bequem ins Haus bestellen." Und, noch auf der gleichen Buchseite: "Heute reicht schon ein Besuch einer Landesgartenschau (Neumarkt in der Oberpfalz 1998) aus, um als aufmerksamer Zeitgenosse laut Programmvorschau ins ,Reich der Sinne' entführt zu werden, selbst wenn es sich dabei nur um eine von der örtlichen SG Gartenbau gestaltete ,Gewürzinsel' handelt. Und bis zur nächsten Wienerwald-Gaststätte ist es auch nicht weit."

Das ist eine Kostprobe aus dem Eingangskapitel des soeben erschienenen Buchs von Robert Jütte. Man mag es kaum glauben, aber der Titel lautet: "Geschichte der Sinne". Der Leser, mögen sich ihm auch längst die Haare aufgestellt haben, muß durch dieses Intro erst mal durch. Wer nun freilich hofft, daß die Darstellung sich dann steigert, daß das Thema Prägnanz gewinnt und die Sprache zu Kräften kommt, sieht sich enttäuscht. Da ist nichts, was nicht von anderen längst schon gesagt und gründlicher ausgeführt worden wäre.

Nun wird auch der idiosynkratischste Leser im Zweifel bereit sein, das biedersinnige Geplapper eines Autors als Geschmacksfrage beiseite zu lassen und den Gehalt hervorzukehren. Doch dieses Druckwerk verfügt nicht einmal über die Tugenden eines Kompendiums. Keck reiht es sich in die Tradition der Mentalitätsgeschichte ein, ohne den Anspruch auch nur ansatzweise einzulösen. Das eingangs aufgebotene, bei Lucien Febvre und Roger Chartier zusammengeborgte Begriffsbesteck verschwindet spurlos in den breit und behäbig dahintreibenden Zitatmassen des Hauptteils.

Ähnlich verloren steht die Frage nach der "Historizität" der "Sinneswahrnehmung" im Text. An keiner Stelle läßt diese "Geschichte der Sinne" den Verdacht aufkommen, sie könnte die einschlägige Literatur zu dieser Frage - sagen wir: Gottfried Boehms herausragende Studien zur Geschichtlichkeit des Auges - zur Kenntnis genommen haben. Statt dessen werden Fundstücke aus dem Internet und dem privaten Zettelkasten nach den fragwürdigsten Kriterien zu Themengruppen gebündelt und gedankenlos weitergegeben.

Die Wissenschaften, war zuletzt häufiger zu hören, müssen die Öffentlichkeit suchen; sie sollen erklären, was sie tun und wozu sie ihren Aufwand betreiben. In der Tat scheint die Sorge berechtigt, daß mit dem Abgang der letzten bildungsbürgerlich sozialisierten Politikergeneration auch die Hemmung verschwinden wird, die Institutionen des Wissens rein unter Aspekten der wirtschaftlichen Nutzanwendung zu taxieren. In dieser Lage mag manch einer versucht sein, sich aufs Gefälligwerden zu verlegen und das Publikum mit Seichtigkeiten abzuspeisen. Dies aber ist ein Irrweg. Silvia Bovenschens Essay über die Idiosynkrasien ist mustergültig auch deshalb, weil er den Beweis erbringt, daß es auch anders, ja anders sogar weit besser geht.

Silvia Bovenschen: "Über-Empfindlichkeit". Spielformen der Idiosynkrasie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 265 S., geb. 39,80 DM.

Robert Jütte: "Geschichte der Sinne". Von der Antike bis zum Cyberspace. Verlag C. H. Beck, München 2000. 416 S., 17 Abb., geb., 58,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Zufällig leidet die Rezensentin Hilal Sezgin von Silvia Bovenschens Aufsatzsammlung über Idiosynkrasien an einer Überempfindlichkeit gegen Kaleidoskope. Doch gerade als ein solches hat die Autorin ihr Buch angelegt, gibt Sezgin zu bedenken. Wie mit der Lupe habe die Autorin die Motive und die Gegenwart von Idiosynkrasien in Literatur und Theorie über die Jahrhunderte verfolgt. Das findet Sezgin stellenweise etwas `verstreut` und `ermüdend`, weil die Autorin sich nicht um eine `strenge Begriffsanalyse` bemüht. Ihr Essay `Über den Schweizer als Verbrecher`, in dem sie Heidi als braves Naturmädel, den Alm-Öhi als ehemaligen Verbrecher entlarvt, entpuppe sich aber `als ausgesprochen lesenswertes Stück frei reflektierender Prosa`, auch wenn er mit Idiosynkrasien nicht all zuviel zu tun habe. Mit dem Aufsatz über `Idiosynkrasie und Exzentrität` gelingt es der Autorin dagegen, sich einer `Theorie des Urteilsvermögens` anzunähern, lobt Sezgin. Ihre Abneigung gegen Kaleidoskope scheint sie am Ende ihrer Lektüre therapiert zu haben.

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