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Nicht zuletzt durch eine Reihe von öffentlichen Skandalen wurde in den letzten Jahren die "Neue Verfassungsfrage" aufgeworfen. Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten - sie alle werfen Verfassungsprobleme im strengen Sinne auf. Ging es früher um die Freisetzung der politischen…mehr

Produktbeschreibung
Nicht zuletzt durch eine Reihe von öffentlichen Skandalen wurde in den letzten Jahren die "Neue Verfassungsfrage" aufgeworfen. Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten - sie alle werfen Verfassungsprobleme im strengen Sinne auf. Ging es früher um die Freisetzung der politischen Machtenergien des Nationalstaats und zugleich um ihre wirksame rechtsstaatliche Begrenzung, so geht es nun darum, ganz andere gesellschaftliche Energien zu diskutieren und in ihren destruktiven Konsequenzen wirksam zu beschränken. Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaats - das heißt zweierlei: Die Verfassungsprobleme stellen sich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den "privaten" Sektoren der Weltgesellschaft.
Autorenporträt
Gunther Teubner ist emeritierter Professorfür Privatrecht und Rechtssoziologie ander Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2012

Gegen die Macht der Märkte braucht es nicht den Staat

Pflichtlektüre fürs höchste deutsche Gericht, aber auch für die Politiker im Krisensommer: Gunther Teubner behandelt Verfassungsfragen systemtheoretisch.

Verfassungen, so scheint es, haben ihre besten Zeiten hinter sich. Von ihrem einst so stolzen Anspruch, der Rechtsordnung Einheit und Legitimation zu verleihen, ist offensichtlich nicht mehr viel übrig. Finanzmonster, Datenkraken und andere Ungeheuer verbreiten Angst und Schrecken, ohne dass die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte dagegen etwas ausrichten könnten. Globale Märkte, globale Wissenschaft, globale Medien expandieren blind und überspinnen die Welt mit einem Netz von transnationalem Recht, an dessen Entstehung die verfassunggebende Gewalt der Völker nicht den geringsten Anteil mehr hat.

Wenn das so ist, was folgt daraus? Die einen bejammern das Los des Konstitutionalismus als traurige, aber unabwendbare Verfallsgeschichte. Die anderen wünschen sich den souveränen Nationalstaat mit seinen stacheldrahtbewehrten Grenzen zurück. Die Dritten träumen von der Konstitutionalisierung des Völkerrechts und von der Weltverfassung, von der Rückkehr der Einheit der Rechtsordnung im globalen Maßstab.

Resignation, Reaktion, Utopie - ist das das ganze Angebot? Nein, sagt Gunther Teubner. Im Gegenteil, das eigentliche Angebot sei die Verfassung selbst. Ihr stehe, von wegen marginalisiertes Globalisierungsopfer, eine glänzende Zukunft bevor. Das ist die Leitthese von Teubners jüngstem Buch "Verfassungsfragmente", das nicht nur zum Klügsten, sondern auch zum Hoffnungsvollsten und Stimulierendsten gehört, was man in diesem Krisensommer zur Lage der Welt und ihren Besserungschancen lesen kann.

Teubner ist kein Verfassungs- und schon gar kein Staatsrechtler. Als Jurist lehrte der achtundsechzigjährige Emeritus in Bremen, Florenz, London und Frankfurt Privatrecht; mit Verfassungen befasst er sich aus der Perspektive des Soziologen. Niklas Luhmann ist sein Lehrmeister und systemtheoretisch seine Sicht auf die Welt des Rechts, des Staats und der Gesellschaft. Mit dem Staatsrechtslehrertraum von der Verfassung als einheitsstiftendem Gründungs- und Grundnormdokument für Staat und Rechtsordnung kann er entsprechend wenig anfangen.

Für Teubner gibt es Verfassungen, seit die Gesellschaft begann, sich statt in Stände, Zünfte, Verwandtschafts-und Gefolgschaftsbeziehungen funktional auszudifferenzieren. Geschlossene Funktionssysteme entstanden, die nur noch ihrer jeweils eigenen Logik gehorchten und dadurch ungeheure Energien freisetzten. Die nur noch der Macht verpflichtete Politik, die nur noch der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft, die nur noch dem Geld verpflichtete Wirtschaft entfalteten sich mit nie dagewesener Dynamik. Um sich zu konstituieren und ihre umweltschädigenden Wirkungen im Zaum zu halten, griffen sie auf das Recht zurück und unterwarfen sich kollektiv verbindlichen Regeln, die besagten, wer was in welchen Grenzen tun darf. Das sichtbarste und prominenteste, aber keineswegs einzige Beispiel für diese Art von Selbstbegründung und Selbstbegrenzung durch Recht war der Konstitutionalismus im Nationalstaat des 18. und 19. Jahrhunderts.

So betrachtet, macht die Globalisierung eigentlich nur sichtbarer, was schon immer der Fall war: Verfassung gibt es nur in fragmentierter Form - als Nebeneinander von Staats-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Was-auch-immer-Verfassung statt als alles überwölbende Einheit. Dennoch, und daraus bezieht das Buch seine Aktualität, wirft die Globalisierung Verfassungsfragen auf, die dringend beantwortet werden müssen. Etwa die Schlüsselfrage der Finanz- und Schuldenkrise: wer wie in welchen Grenzen Geld schöpfen kann. Die Antwort auf diese Frage kann nur die Wirtschaft selbst geben, genauer: die Zentralbanken als "Hüter der Wirtschaftsverfassung".

All den revolutionsfrohen Empörten, die die Märkte mit staatlichem Zwang bändigen wollen, hält Teubner beharrlich seine systemtheoretisch informierte Sozialdemokratie entgegen: Wer den Expansionsdrang eines sozialen Systems dadurch bremsen will, dass er es der Logik eines anderen Systems unterwirft, der macht es bloß kaputt. Nur durch innere Reformen kann das autonome System umweltverträglich werden, und die erreicht man durch Druck, nicht durch Zwang. Das System wird nie etwas anderes verstehen als seine Eigenlogik, aber irritieren lässt es sich durchaus. Mit Steuern und Regulierung, aber auch mit Verbraucherboykotten und Protestdemonstrationen kann man von außen politische Impulse setzen und den Stress, unter den das Finanzsystem seine Umwelt setzt, gleichsam zurück ins System tragen - und so darauf hinwirken, dass es sich eine Verfassung gibt.

Damit nimmt Teubner auch dem habermasianischen Vorwurf, das Primat der Politik unkritisch dem freien Spiel der systemtheoretischen Kräfte unterzuordnen, den Wind aus den Segeln. Die Eigenverfassungen der Gesellschaft brauchen das Recht, und sie brauchen auch Politik (beziehungsweise das Politische). Was sie nicht oder nicht unbedingt brauchen, ist der Staat.

Zeitgenössische Phänomene wie die Occupy-Bewegung lassen sich aus dieser Perspektive überhaupt erst richtig verstehen: Occupy hat kein politisches Programm, keine zentral gesteuerte Organisation, keine Gestaltungsziele. Aber das ist keineswegs unbedingt ein Defizit. Denn es geht gar nicht darum, die Macht im Staat zu erwerben, um bestimmte Ziele durchzusetzen. Es geht darum, das Finanzsystem unter Konstitutionalisierungsstress zu setzen: Occupy the system! Das mag mal mehr, mal weniger effektiv sein, aber eins ist es gewiss nicht: unpolitisch.

Natürlich ist die Nonchalance, mit der Teubner den Verfassungsbegriff aus seinem angestammten staatlichen Kontext herauslöst, im höchsten Maße provokant. Unter traditionellen Verfassungsjuristen, die schon die supranationale Europäische Union nur mit Mühe als verfasstes Gemeinwesen anerkennen wollen, wird er sich damit sicherlich nicht allzu viele Freunde machen. Allen anderen aber sei das Buch als Denkanstoß und Instrument, die transnationale Rechtssetzung und ihr wucherndes Wachstum besser in den Blick zu bekommen, auf das wärmste empfohlen.

MAXIMILIAN STEINBEIS

Gunther Teubner: "Verfassungsfragmente". Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 290 S. br., 15,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als Pflichtlektüre für Verfassungsrichter und Wegweiser aus der Krise empfiehlt Maximilian Steinbeis diese Schrift des Juristen Gunther Teubner, dessen Ansatz Steinbeis systemtheoretisch so erklärt: Wenn geschlossene Systeme ihre Energien daraus beziehen, dass sie nur ihrer eigenen Logik verpflichtet sind, dann dürfen sie nicht einer generellen Verfassung unterworfen werden, die etwa der Wirtschaft eine politische Logik aufbürde. In der Globalisierung sind Verfassungen eh obsolet, und einzelne Systeme müssen sich aus sich heraus konstitutionalisieren, resümiert der Rezensent den Autor, von außen dürfe man keinen Zwang ausüben, sondern höchstens Druck. Rezensent Steinbeis geht mit dieser Erklärung völlig d'accord und hält sie für das "Hoffnungsvollste und Stimulierendste", was er in diesem trüben Sommer gelesen hat: Jetzt gilt es, das Finanzsystem unter Konstitutionalisierungsstress zu setzen.

© Perlentaucher Medien GmbH