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"Angesichts eines Ereignisses, das so furchtbar ist, daß er es nicht nennt, sondern immer nur indirekt umschreibt, bricht Rudolf Borchardt 1935 mit allem, was er bisher gedichtet hat. Er spielt nicht mehr, sondern es ist ihm bitterster Ernst; er liebt nicht mehr, sondern er haßt, er weicht nicht mehr ins Mögliche aus, sondern der Ausbruch der Jamben, die er selbst ein 'lang aufgespartes Donnerwetter' nennt, scheint genau den Augenblick zu bezeichnen, da der Lyriker Borchardt mit der Geschichte zusammenprallte", schreibt die Herausgeberin Elisabeth Lenk.
Das Ereignis, auf das Borchardt
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Produktbeschreibung
"Angesichts eines Ereignisses, das so furchtbar ist, daß er es nicht nennt, sondern immer nur indirekt umschreibt, bricht Rudolf Borchardt 1935 mit allem, was er bisher gedichtet hat. Er spielt nicht mehr, sondern es ist ihm bitterster Ernst; er liebt nicht mehr, sondern er haßt, er weicht nicht mehr ins Mögliche aus, sondern der Ausbruch der Jamben, die er selbst ein 'lang aufgespartes Donnerwetter' nennt, scheint genau den Augenblick zu bezeichnen, da der Lyriker Borchardt mit der Geschichte zusammenprallte", schreibt die Herausgeberin Elisabeth Lenk.

Das Ereignis, auf das Borchardt (1877-1945) reagiert, sind die Nürnberger Rassegesetze, die am 15.9.1935, dem "Nimmermenschtag" (Paul Celan), in Kraft traten. In ihnen wurden die Juden - ihre Ermordung ist darin schon angelegt - durch einen bürokratischen Akt zu Vogelfreien erklärt.
Autorenporträt
Borchardt, Rudolf
Rudolf Borchardt, geboren am 9. Juni 1877 in Königsberg, starb am 10. Januar 1945 in Trins/Tirol. Nach den ersten fünf Jahren in Moskau zog die Familie nach Berlin. 1986 nahm Borchardt sein Studium auf. Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal. Seit 1906 lebte er in der Toskana, unterbrochen nur durch Kriegsjahre im Elsaß und beim Generalstab in Berlin. 1906 heiratete er seine erste Frau, 1920 zum zweiten Mal, Marie Luise Voigt aus der Familie seines Lebensfreundes Rudolf Alexander Schröder. Seine höchsten Leistungen liegen auf dem Gebiet der Lyrik und des Essays sowie in der sprachschöpferischen Übersetzung. Sein schriftstellerischer Nachlaß wird seit 1989 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar gepflegt. Die 1954 in Bremen auf Initiative von Rudolf Alexander Schröder und Marie Luise Borchardt gegründete Rudolf-Borchardt-Gesellschaft hat seit 1983 ihren Sitz in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.01.2005

Eisjahr und Winterherz
In Rudolf Borchardts fast unbekanntem Spätwerk verbinden sich Liebeslyrik, Antikenliebe und der Hass auf Hitler
„Bekannter Dichter” steht da, in Klammern gesetzt, mit einem Ausrufezeichen, das sich selber nicht trauen mag. Die dünnen Bleistiftworte finden sich im Sterbebuch der evangelischen Gemeinde Innsbruck, am „10. Jänner 1945”, dem Todestag des bis heute eher geschätzten als gelesenen Schriftstellers, Einsamkeitsvirtuosen und Dandys Rudolf Borchardt, der stolz bekannt hatte: „Meine Schriften sind die Brücke für jeden, der auf meinem Lebenswege sich von der treibenden Scholle der Zeit auf das Festland des Ewigen retten will.” Das ersehnte Ewige war eine Chiffre für das erlittene Gegenwärtige - und alles Vergangene eine Möglichkeit, dem Heute ewig aufgegeben. „So bin ich wie die einzige übrig gebliebene Biene eines ausgeräucherten Stocks, die ihre Zelle baut, weil (. . .) ihr die Sechseckigkeit angeboren ist”.
Der Drang zur poetischen Sechseckigkeit, zur Schöpfung zahlloser Gedichte, Essays, Reden, Erzählungen, Dramen, Briefe ist eine der wenigen Konstanten dieses vor sechzig Jahren dramatisch zu Ende gegangenen Lebens. Anfang September 1944 brachte die Wehrmacht Borchardt, seine Frau und seine drei Söhne aus ihrem Exil in der Toskana nach Innsbruck, „heim ins Reich”. Da Borchardts Eltern konvertierte Juden waren, rechnete der Dichter mit einem Transport nach Auschwitz. In Innsbruck aber ließ der begleitende Feldwebel die Familie frei. Ende Oktober zog man in das Dörfchen Trins, wo Borchardt 78 Tage später starb. Seine letzten Arbeiten galten Homer und waren zugleich eine Lebensbilanz in eigener Sache. „Die wahre Geschichte”, schrieb er, „ist nicht die der siegreichen Sache und der vollendeten Fortschritte” - die wahre Geschichte sei „das in sich herrliche Nichtgewordene”, das „nur Entworfene, Nie-Geschehene”.
Borchardt begriff sich als ein solcher Unvollendeter, tragisch am Geist wechselnder Zeiten gescheiterter Außenseiter. Er hielt einer gelehrten Poesie die Treue, innerhalb derer ihm „revolutionär und herkommensgetreu wie Einatmen und Ausatmen” erschien. In seinem letzten Jahrzehnt sind die das Werk hervorbringenden Dualismen - Zeitzeugenschaft und Ewigkeitsemphase, Modernität und Traditionalismus - ineinander verschmolzen. 1938 schreibt er eine humanistische Utopie im Gewande eines Gartenbuches, bald darauf entstehen Aufsätze über Cäsar, Kleopatra, Walter Pater, bereits 1935 schleudert er den Nürnberger Rassegesetzen 18 „Jamben”, wenig später dann der Deutschtümelei der nationalsozialistischen Männerbündler die Gedichte der amerikanischen Pazifistin Edna St. Vincent Millay entgegen, kongenial übertragen in ein bildgenaues, klangreiches Deutsch.
Erstmals liegen nun die „Jamben” als Einzelausgabe vor - eine anstrengende, teils anregende, teils ermüdende Hadesfahrt, hinunter zu den Untoten eines untergegangenen Deutschlands: „Die Welt hat Eisjahr. Unabsehbar wächst in uns / Ein Mord, der Gletscher”. Also besucht das lyrische Ich „am deutschen Abgrund” Kleist, den Selbstmörder trotz Vaterlandsliebe, Hofmannsthal, den lang ersehnten Freund, der seine Wiederkunft verschieben muss, wäre er doch anno 1935 ein „rassisch” unerwünschter Literat, die „Doppelnatur” Stefan George - und Ahasver, den ewigen Juden, den „Pechvogel”, der sich sagen lassen muss: „reines Volk ist reines Gift. / Resultat: die Bibel bist Du los, / Die Völker drehn sie gegen Dich und lesen Dir / Bei Scheiterhaufenlicht draus vor”. Aus der Gegenwart grüßen Baldur von Schirach, Hermann Göring und linientreue Professoren, alles „Dreckseelen” mit „Dreckgesinnung”, „Schund und darum Dreck”.
Alles multikulti?
Ein „Weltgericht” nennt die Germanistin Elisabeth Lenk in ihrem Nachwort die „Jamben” und betont auf eine zwischen Geschwätzigkeit und Geraune kurios schwankende Weise deren Ausnahmestellung. Lenk sieht in Borchardt einen Aufklärer, deklariert die Aufklärung als „Borchardts Lieblingszeit”, macht ihn zum Vorläufer jener „Utopie, die man heute multikulti nennen würde.” Gegen eine solche Verzeichnung hätte Borchardt, der „das Werk der Romantik schöpferisch fortsetzen” wollte und das „ganze peinliche Jahrhundert” der Aufklärung heftig kritisierte, mit einer weiteren „Zornmusik” aufbegehrt.
Größeren Gewinn bringt die Lektüre des materialreichen Bandes über das Verhältnis Borchardts zu den Gedichten Millays. Herausgeber Gerhard Schuster verwendet zwar im Gegensatz zu Lenk das falsche Etikett vom „jüdischen Konservativen”, legt aber die verästelten Wege einer seltsamen Seelenverwandtschaft souverän offen. Im Frühjahr 1933 erhält Borchardt den Gedichtband „Fatal Interview” der 41-jährigen Millay: „Fast einen Monat lang sind meine Frau und ich wie in einem Taumel gewesen. (. . .) Sappho noch einmal, unglaublich, und wirklich.” Anderthalb Jahre schreibt er am Essay über Millay, begeistert sich für „ihr centrales Anliegen, die Begründung einer weiblich bestimmten geistigen Ordnung der Welt”, schwärmt für die Verbindung von Antike und Gegenwart und die dem eigenen Weltverständnis verwandte „reine Wildheit, die selige Anmaßung, den Trotz, die Koketterie”, den „harten Widerspruch zur Meinungsware” und das „Schwert der Paradoxe”, glücklich gebohrt ins eigene Herz.
„Unbemerkt von seiner Zeit hat Borchardt mit den ,Jamben‘ und seinen späten Liebesgedichten ein neues Kapitel in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts aufgeschlagen.” Schusters Begeisterung für die noch immer unentschlüsselten „Jamben” wird der Connaisseur des Abseitigen teilen; die Übertragungen Millays aber, düstere Zwiegespräche von Mensch und Tod, zählen zum Schönsten deutscher Lyrik. „Mein Herz ist, was es war zuvor / Ein Haus, darin man kommt und geht / Doch steht es winterlich um uns / Von Schnee belagert schweigt das Beet.”
ALEXANDER KISSLER
RUDOLF BORCHARDT: Jamben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 108 Seiten, 11,80 Euro.
GERHARD SCHUSTER (Hrsg.): Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay. Lyrik Kabinett, München 2004. 306 Seiten., 28 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2005

Gewissermaßen Kolumbus
Rudolf Borchardt entdeckt Amerika in der innersten Emigration

Den Vorgang, den die amerikanische Dichterin Edna St. Vincent Millay (1892 bis 1950) im achten Sonett ihres Zyklus "Epitaph for the Race of Man" schildert, hat Rudolf Borchardt als das "Entstehen der japanischen Landbrückenmasse aus kosmischen Beben" gedeutet. Der erste Satz seiner Übersetzung des Gedichts lautet: "der Berg Miyanoshita springt entzwei und rollt zu Tal". Miyanoshita ist alleings eine Ortschaft zu Füßen des Fuji. Nicht den Berg selbst zerreißt die Gewalt des Bebens, sondern die an seinen Hang gelagerte menschliche Siedlung. Wenn Borchardt in der Abgeschiedenheit seiner Villa bei Lucca keinen hinreichend genauen Atlas zur Hand hatte, hätte er diese Information dem Gedicht selbst entnehmen können, dessen elfter Vers den Regen "into the riven village" fallen läßt, in das gespaltene Dorf. Kannte Borchardt das seltene Verb "to rive" nicht? Bei ihm ist das Dorf in einer hingetupften Anspielung auf die japanische Wasserfarbenmalerei ein "entfärbtes". Auch das Rollen ist dramatisierende Phantasie des Übersetzers, die Dichterin stellt in lakonischem Fatalismus ein Rutschen ("slid") fest.

Eine tektonische Verschiebung ereignet sich auch in Borchardts Prosawiedergabe von Millays Urtext: Unmerklich geht sie in Versform über. Die letzten sechs Verse, die von der Rückkehr des verschonten, im Bambuswald abwesenden Beobachters der Katastrophe erzählen, sind auch bei Borchardt solche, fünfhebig und gereimt: "Tod, Bruch und Schreck hat ihn nicht übermannt. Die Sonne sinkt: von hochherein gemach In sein entfärbtes Dorf der Regen fällt; Drei Tage: die Asche kühlt; er trägt und stellt Sein Kartenhaus auf der Verwindung Rand Und pflanzt die blaue Iris auf sein Dach."

Den ersten Vers überliest man noch, die Hebungen auf "Bruch" und "ihn" - letztere hochbedeutsam zur Abgrenzung des Menschen vom Rest der widerstandslos überwältigten Welt - stellen sich nicht von selbst ein. Im folgenden Satz ist dann ein im engeren Sinne poetischer Ton unverkennbar, noch bevor der groß geschriebene Anfangsbuchstabe im Satzinneren typographisch Eindeutigkeit herstellt. Borchardt nimmt Millays "sun" das Attribut "calm", weil es durch "unhurried" verdoppelt wird und die Ruhe des Sonnenuntergangs am besten der Duktus des Verses selbst ausdrückt, mit den gewählten Wendungen "von hochherein" und "gemach". So erhält Borchardt ein Nietzsche-Zitat, den Titel eines der Dionysos-Dithyramben: "Die Sonne sinkt". Nietzsche besingt den "Tag meines Lebens", sein Gedicht ist wie Millays Zyklus ein Epitaph für das Menschengeschlecht, allerdings in der ersten Person. Auch der Same jener "purple iris", die bei Borchardt purpurblau und nicht purpurrot schimmert, mag - selbst wenn sich der leidenschaftliche Gärtner in der Botanik Japans besser ausgekannt hat als in der Geographie - von Nietzsches Küste herübergeweht sein. Im letzten Tageslicht läuft dem Dionysospriester "still über weiße Meere" seiner "Liebe Purpur", bevor mit der Sonne alles Schwere "in blaue Vergessenheit" sinkt.

Für diese Vergessenheit wählt Borchardt ein anspruchsvolles Synonym: "Verwindung". Der Davongekommene baut sein Kartenhaus - für "paper house": der Millay kongeniale volkstümliche Wortwitz gleicht die Hebung des Tons wieder aus - "upon oblivion's brim", am Rande des Abgrunds, der die Mitbürger verschlungen hat. Daß sie starben und er lebt, daß dasselbe jederzeit wieder passieren kann, das hat laut Borchardt der Neugründer von Miyanoshita am Abend des Unglücks nicht bloß vergessen, sondern schon verwunden. Auch in seiner Seele haben sich die Massen unwiederbringlich gegeneinander verschoben. Wie alle geschichtsphilosophischen Essays Borchardts variiert Millays Weltgeschichte in Versen Nietzsches Thema des Nutzens und Nachteils der Historie für das Leben. Der Begriff "Verwindung" ist abstrakt und anschaulich zugleich: Man blickt über den Rand der Zivilisation und sieht die Windungen des Kraters vor sich, die Eingeweide der Natur, die sich an nichts erinnert.

Die abwesende Welt hört zu

Das neunte und das zehnte Sonett - "Der Ausbruch" und "Die Überschwemmung" - spielen den Gedanken des Überlebens der Kultur durch naturgemäßes Vergessen noch zweimal durch. Im Flutgedicht sehen wir den Heimatlosen nach Sonnenuntergang "Quer über sein Dach wegstaken nach trockenem Grund, mit verkniffenem Gesicht und der Tasche voller Samen". Die letzte Ausfahrt des silberleichten Nachens, mit der sich Nietzsches Lebenstag vollendet, ist im Lichte dieser Anthropologie der Abstoßungsbereitschaft die Ästhetisierung einer angeborenen Überlebenskunst. Der Philosoph spiegelt sich im seelenruhigen Meer, weil er vergessen hat, daß den Menschen der Landnahmetrieb über Wasser hält.

Demgegenüber erhebt sich der Poet zu der unmöglichen Idee, daß mit dem Aussterben des Menschen seine Lebensfahrt nicht beendet sein muß. In einem an Shelley gerichteten Gedicht malt sich Edna St. Vincent Millay eine Welt aus, in der niemand mehr zuhört und die dennoch ganz Ohr ist. Von der lautmalerischen Beschwörung der Lautlosigkeit in Borchardts Übertragung geht eine berauschende Wirkung aus: "Noch, ob auch kein Lauscher bleibe, / Wühlt die Fliege an der Scheibe, / Dicklich kraust des Mooses Pelz, / Blüht die Rose durch den Spelz, / Treibt das Boot, das längst verscholl, / Fort zum Eiland Wundervoll." Was ist schon verschollen? In diesem Wort erreicht uns der Widerhall des Schalls, das Echo von allem, was je gesagt worden ist. Das Pathos dieser Stelle liegt darin, daß der Nachdichter den geflügelten Lauscher an der Scheibe in einem Moment beschwor, da er selbst nicht mehr hoffen durfte, Gehör zu finden.

Friedmar Apel hat herausgearbeitet, daß der Titel des zu Lebzeiten des Verfassers ungedruckten Millay-Aufsatzes "Die Entdeckung Amerikas" eine für Borchardts Literaturpolitik konstitutive "phantasmagorische Territorialvorstellung" artikuliert. Auch für diesen Exilschriftsteller war Amerika das rettende Ufer - aber nur im Geiste. Er nahm das Land der Freiheit in Besitz und zog sich zugleich in die innerste Emigration zurück, in den Schutzraum einer privatmythologischen Hermetik. Während der Arbeit an den Übersetzungen begann er im Herbst 1935 mit der Komposition der "Jamben", eines von vornherein unpublizierbaren Zyklus von Schmähgedichten gegen das Deutschland der Zeit.

In der Einleitung zu der vornehm gestalteten Publikation des Münchner Lyrik Kabinetts, die Borchardts Entdeckungen im sapphischen Amerika umfassend dokumentiert, zieht Gerhard Schuster einige Linien aus, die Millay-Übersetzungen und Jamben verbinden. Ungeheuer verdichtet sind die Jamben, weil sie die strengen Metren horazischer Epoden, den Wechsel von Langvers und Kurzvers, mit einem bei Millay abgelauschten Gesprächston verschmelzen. "Schatten von Rodaun", das Zwiegespräch mit dem toten Hofmannsthal, beschreibt Schuster witzig als "eine Art von imaginärem Telefonat mit dem Elysium". In der Tat läßt es an die eleganten Verrenkungen des Peinlichkeit mimenden jungen Cary Grant denken, wie Borchardt sich immer wieder selbst das Wort aus dem Mund nimmt, um dem verewigten Dichterfürsten nicht zu erklären, warum seinen Verehrern seine Wiederkehr am Ende doch nicht lieb ist. Wie der Redner sich windet, verrät: Da ist etwas, das er nicht verwindet.

Sehnsucht nach Hofmannsthal

Bei diesem im schrecklichen Wortsinn Unsäglichen handelt es sich, wie Ernst A. Schmidt in seiner Studie "Notwehrdichtung" dargelegt hat, um die sogenannten Nürnberger Gesetze. Auf die Nachricht von der Internierung eines Verwandten Hofmannsthals soll nach Schusters Angaben im Rodaun-Jambus die Zeile verweisen: "Das Blut hier / Klebt nur ganz versehentlich noch, ist aber ganz vergessen". Im Zusammenhang des Gedichts wird man das "hier" auf das "Haus" beziehen, in dem Hofmannsthal ersehnt, aber nicht mehr erwünscht ist, und an das Blut denken, mit dem die Israeliten vor dem Auszug aus Ägypten ihre Türpfosten bestrichen, um ihren Erstgeborenen das Leben zu retten. Heine hat im Caput VII von "Deutschland ein Wintermärchen" das Albtraumszenario der Umkehr dieser Heilsgeschichte entworfen: Im nächtlichen Köln bestreicht er die Türpfosten mit seinem Herzblut und überantwortet so die Hausbewohner dem Tod.

Schmidt weist darauf hin, daß der von Borchardt verehrte Giosuè Carducci in einem seiner Jamben diese schaurige Episode paraphrasiert. "Man ruht in deutschen Betten so weich, denn das sind Federbetten" - wie sie auch in der Villa Bernardini nicht stehen, wo Borchardt "seit sechs Jahren, nachts im Bette gestützt", Hofmannsthal herbeiwünscht. Es ist nur ein bürokratisches Versehen, spricht Borchardt in der Maske des NS-Kulturpolitikers, wenn auch die Familie Hofmannsthal zur Selektion vorgesehen ist. Das Mordprogramm als Travestie der jüdischen Leidensgeschichte: Dieser unheimliche Gedanke wird ausbuchstabiert im problematischsten der Jamben, "Ahasver", der 1967, bei der Erstveröffentlichung des Zyklus, von Borchardts Witwe noch zurückgehalten wurde. "Das auserwählte Volk sind sie und Du nicht mehr": Hitler spielt den Messias, und die Deutschen gönnen den Juden nicht einmal mehr den Barabbas.

In einem Sammelband über "Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung" hat Kai Kauffmann unlängst "Ahasver" als Beweis für Borchardts "zynische" Haltung gegenüber dem Volk seiner Vorfahren präsentiert. Obwohl Kauffmanns geschmacklose Behauptung, Borchardt habe Juden und Nationalsozialisten in dasselbe "Lager" gesteckt, schon aus dem vorliegenden Textmaterial widerlegt werden kann, zeigt eine solche barbarische Lesart, wie dringlich die von Lars Korten und Gerhard Schuster vorbereitete kritische Ausgabe der Jamben ist. Das Suhrkamp-Bändchen von Elisabeth Lenk kann sie nicht ersetzen. Es ist als Leseausgabe gedacht, aber selbst als solche unbrauchbar, da das die Hälfte des Bandes füllende Nachwort kein einziges Wort zur Metrik enthält. Zwei aufeinanderfolgende Kurzverse in "Ahasver" zeigen, daß die Textkonstitution nicht korrekt sein kann.

Rudolf Borchardt starb am 10. Januar 1945 in Tirol. Er war mit seiner Familie noch aus Italien abtransportiert, dann aber freigelassen worden. Kauffmann, der ehemalige Vorsitzende der seinem Andenken gewidmeten Gesellschaft, hält ihm vor, er sei "noch im Moment der Gefahr, selber zum Opfer des Holocaust zu werden, nicht zur seelischen Annäherung an die Juden fähig gewesen". Hat Borchardt das Haus seiner Sprache am Rand einer Leichengrube gebaut? Einer Gesamtinterpretation der Jamben auf gesicherter Textgrundlage muß der Nachweis vorbehalten bleiben, daß ihrem Autor "die Gaben" nicht gefehlt haben, die Prometheus, wie ihn Edna St. Vincent Millay erträumt hat, den Menschen mitbrachte, weil sie "den Himmlischen versagt sind - Schmerz und Mitleid, zwei neue Schöpfer".

"Die Entdeckung Amerikas". Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay. Gedichte, Übertragungen, Essays. Herausgegeben von Gerhard Schuster. Mit Beiträgen von Barbara Schaff und Friedhelm Kemp. Lyrik Kabinett München, München 2004. 306 S., Abb., br., 28,- [Euro].

Rudolf Borchardt: "Jamben". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Elisabeth Lenk. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 120 S., geb., 11,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Schriftsteller Rudolf Borchardt wird Rezensent Alexander Kissler zufolge bis heute "eher geschätzt als gelesen". Ob die nun erstmals als Einzelausgabe vorliegenden "Jamben" daran etwas ändern werden, ist zu bezweifeln. Kissler jedenfalls beschreibt sie als "eine anstrengende, teils anregende, teils ermüdende Hadesfahrt, hinunter zu den Untoten eines untergegangenen Deutschlands". Entstanden 1935 als Reaktion auf die Nürnberger Rassegesetze fallen sie laut Kissler in eine Schaffensphase Borchardts, in der Dualismen wie Zeitzeugenschaft und Ewigkeitsemphase oder Modernität und Traditionalismus ineinander verschmolzen. Das Nachwort der Germanistin Elisabeth Lenk, die die Jamben als "Weltgericht" nennt und deren Ausnahmestellung betont, schwanke "kurios" zwischen "Geschwätzigkeit und Geraune". Ihre Charakterisierung Borchardts als Vorläufer jener "Utopie, die man heute multikulti nennen würde" (Lenk) empfindet Kissler als "Verzeichnung", gegen die Borchardt sicherlich augbegehrt hätte.

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