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Mykola Riabtschuk beschreibt, warum der Emanzipationsprozeß in der größten, wirtschaftlich wichtigsten ehemaligen Sowjetrepublik auch nach der formalen Unabhängigkeit 1991 schwerfälliger verlief als in den anderen osteuropäischen Transformationsstaaten. Und er zeigt, daß sich die regionale und mentalitätsgeschichtliche Differenziertheit dieses Landes zwischen Lemberg und Charkow, Kiew und Sewastopol, Czernowitz und Donezk für die Modernisierung des europäischen Ostens als Glücksfall erweisen wird.

Produktbeschreibung
Mykola Riabtschuk beschreibt, warum der Emanzipationsprozeß in der größten, wirtschaftlich wichtigsten ehemaligen Sowjetrepublik auch nach der formalen Unabhängigkeit 1991 schwerfälliger verlief als in den anderen osteuropäischen Transformationsstaaten. Und er zeigt, daß sich die regionale und mentalitätsgeschichtliche Differenziertheit dieses Landes zwischen Lemberg und Charkow, Kiew und Sewastopol, Czernowitz und Donezk für die Modernisierung des europäischen Ostens als Glücksfall erweisen wird.
Autorenporträt
Rjabtschuk, MykolaMykola Rjabtschuk, geboren 1953, Schriftsteller und Journalist, Mitbegründer der Kiewer Monatszeitschrift Krytyka, ist einer der einflußreichsten politischen Kommentatoren des Landes. Er lebt in Kiew.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2006

Jetzt reicht's: Lehren in Orange

"Sie verstoßen gegen das Gesetz!" Die zwanzigjährige Studentin Ljubow Jerjomitschewa war aufgestanden und hatte die Stimme laut erhoben. Der Rektor ihrer Universität im südukrainischen Cherson hatte in einer Vollversammlung gemeinsam mit dem Gebietsgouverneur versucht, Stimmung für den Präsidentschaftskandidaten der alten Nomenklatura, Viktor Janukowitsch, zu machen. Angetrieben worden sei sie, so sagte die Studentin später, durch einen amerikanischen Film, in dem es um Zivilcourage angesichts von U-Bahn-Schlägern gegangen sei. Allein der Verweis auf die schlichte Courage macht schon deutlich, wie weit die Bürger der Ukraine sich ihrem Selbstverständnis nach von der Duckmäuserei des Sowjetregimes entfernt haben. Der alte Staat in den neuen Formen kann noch Repressalien ausüben, kann tricksen, erpressen, bestechen und auch noch morden lassen - aber er hat für all das keine ideologische Rechtfertigung mehr, die diesen Namen verdiente. Er muß also, um sich über sich selbst hinwegzusetzen, kriminell werden - und das kann er nicht mehr ohne weiteres und im Licht einer informierten Öffentlichkeit. Das ist ein entscheidender Unterschied zur sowjetischen Zeit. Ein Unterschied, der andere Menschen hervorbringt - und irgendwann dann hoffentlich auch einen anderen Staat.

Der Akt der jungen Studentin mußte gleichwohl in seinem klaren Rechtsbezug und in seiner Bürgerrechtshaltung unerhört erscheinen - und war allen Drohungen und Schikanen zum Trotz nicht zum Scheitern verurteilt. Der ukrainische Staat will sich als Rechtsstaat verstehen und präsentieren, und so hatte die Klage gegen die Universität, die die Studentin zwangsexmatrikuliert hatte, Erfolg. Der Rektor mußte nachgeben. Zum institutionellen Standard und Selbstverständnis kam aber noch etwas anderes hinzu: Die Kommilitonen sagten vor Gericht für Ljubow aus, wissend, daß sie sich damit selbst Schwierigkeiten mit der Universität einhandeln konnten.

Es war ein Gefühl entstanden, daß es jetzt reiche mit der Willkür und der Anmaßung der alten Kader wie der neuen Reichen in so vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Und dieses Gefühl war so stark, das es zur Geste, zur Haltung wurde, aus der schließlich die Energien der orangen Revolution stammten. Viele Westeuropäer, von denen mancher beim Wort Ukraine immer noch "Rußland" gedacht haben mochte, dürfte sich gefragt haben, welches politisches und kulturelles Selbstverständnis ein Land haben mochte, das im Osten prorussisch und im Westen antirussisch ist. Und auf wieviel Verständnis kann das Land eigentlich hoffen, wenn es sich bemüht, in die Europäische Union aufgenommen zu werden? Mag Juri Andruchowytsch auch beeindruckend vor dem Europäischen Parlament für sein Land gesprochen und geworben haben, es als Brudernation unter Brüdern begreiflich gemacht haben - es bleibt eine Tatsache, daß die Ukraine in hohem Maß ein Land ist, das zu verstehen ebenso schwer fällt wie die Einheit Europas selbst.

Wenn es um die Ukraine geht, geht es also auch um uns selbst - und das ist keine Überspitzung, sondern die Beschreibung eines Zusammenhangs, der weitaus tiefer und breiter ist, als daß er etwa nur die Gas- und Ölpipelines betreffen würde, die von Rußland durch die Ukraine nach Westeuropa führen. Es geht einfach darum, wie sich die Nationen innerhalb oder an den Rändern einer postnationalen politischen Großstruktur verstehen. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, daß mit der Übersetzung des Essaybandes von Mykola Rjabtschuk über "Die reale und die imaginierte Ukraine" eine der bedeutendsten intellektuellen Stimmen der Ukraine zu vernehmen ist (Mykola Rjabtschuk: "Die reale und die imaginierte Ukraine". Essay. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und mit einem Nachwort von Wilfried Jilge, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 176 S., br., 9,- [Euro]).

In vier Kapiteln umwandert der Autor die Kontur der Ukraine vom "Projekt Ukraine" über "Geschichtliche Kontroversen", den "Zwei Revolutionen" bis hin zur "Heimat der Orangen", und jedem, der ein wenig mehr von den Verhältnissen in der Ukraine verstehen möchte, sei dieser Band sehr empfohlen. Er wird von einem instruktiven und die Positionen Rjabtschuks noch einmal reflektierenden Nachwort von Wilfried Jilge abgerundet. In einer der zentralen Passagen des Bandes stellt Mykola Rjabtschuk fest, daß eine paradoxe Folge der Heterogenität der ukrainischen Gesellschaft nicht nur das Fehlen einer sprachlich-kulturellen Mehrheit sei, sondern auch "das Fehlen eines Konsenses über fast alle für das Land lebenswichtigen Fragen".

Ein beständiges Sowohl-Als-auch, eine Doppelnatur, das Schwanken zwischen Rußland und Europa, das von beiden von jeder Seite durch Ambivalenz und Doppeldeutigkeit der in Aussicht gestellten Perspektiven noch gefördert werde, sei nichts anderes als ein Ergebnis der Geschichte und habe die Funktion, "unter unkomfortablen Bedingungen psychischen Komfort zu erreichen". Mykola Rjabtschuk gibt der Ukraine den Rat, eher auf die Vereinigten Staaten als politischen Partner und als Handelspartner zu setzen denn auf die Europäische Union, der er im Umgang mit der Ukraine zu Recht kein gutes Zeugnis ausstellt. Mit diesem Bezug könnte die Ukraine Realität und Selbstbilder womöglich leichter miteinander versöhnen als im langen Warten auf Europa.

MICHAEL JEISMANN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Angesichts der Brückenstellung der Ukraine zwischen Europa und Russland und weil die Ukraine im Westen immer noch auf ziemliches Unverständnis stößt, begrüßt Michael Jeismann hoch erfreut diesen Band mit Essays von Mykola Rjabtschuk, der ihm als einer  wichtigsten Intellektuellen des Landes bekannt ist. Wer das in Sprache und Kultur heterogene Land, in dem sich auch die politischen Positionen zumeist unversöhnlich gegenüber stehen, begreifen und mehr über das Selbstverständnis der Ukraine erfahren will, sollte diesen Band lesen, empfiehlt der Rezensent uneingeschränkt. Lobend erwähnt der offenbar rundum zufriedene Rezensent noch das aufschlussreiche Nachwort von Wilfried Jilge.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Es ist außerordentlich wichtig, dass mit der Übersetzung des Essaybandes von Mykola Rjabtschuk eine der bedeutendsten intellektuellen Stimmen der Ukraine zu vernehmen ist.« Michael Jeismann Frankfurter Allgemeine Zeitung